Kapitel 33
Alice' Hotel lag direkt gegenüber dem Haupttor der mittelalterlichen Cité in einem hübschen parkähnlichen Garten und war von der Straße aus nicht zu sehen. Man zeigte ihr ein gemütliches Zimmer im ersten Stock. Alice stieß die Fenster auf und ließ die Welt herein. Der Geruch nach gebratenem Fleisch, Knoblauch, Vanille und Zigarrenrauch trieb in den Raum.
Sie packte rasch ihre Sachen aus und duschte, dann rief sie erneut Shelagh an, schon eher aus Gewohnheit als in der Erwartung, sie zu erreichen. Nach wie vor keine Antwort. Sie zuckte die Achseln. Zumindest hatte sie es versucht.
Ausgestattet mit dem Reiseführer, den sie an einer Tankstelle auf der Fahrt von Toulouse hierher gekauft hatte, verließ Alice das Hotel und überquerte die Straße Richtung Cité. Steile Betonstufen führten zu einem kleinen Park hinauf, der auf zwei Seiten von Büschen und hohen immergrünen Pflanzen und Platanen gesäumt wurde. Am hinteren Ende des Parks leuchtete hell ein Karussell aus dem 19. Jahrhundert mit grellen Fin-de- Siècle-Ornamenten, die im Schatten der mittelalterlichen Sandsteinfestung fehl am Platze wirkten. Es hatte einen braun-weiß gestreiften Baldachin, an dessen Rand rundherum ein Fries mit Rittern und Hofdamen und weißen Pferden verlief, und alles andere war rosa und golden - galoppierende Rosse, wippende Schwäne, Märchenkutschen. Sogar das Fahrkartenhäuschen sah aus wie eine Kirmesbude. Eine Glocke läutete, Kinder kreischten vor Freude, als sich das Karussell in Bewegung setzte und gemächlich sein altes mechanisches Lied leierte.
Hinter dem Karussell sah Alice über eine Friedhofsmauer hinweg die grauen Köpfe und Schultern von Grüften und Grabsteinen aufragen, und eine Reihe von Zypressen und Eiben schützte die Ruhenden vor beiläufigen Blicken. Rechts vom Tor spielte eine Gruppe von Männern pétanque.
Einen Moment lang blieb sie reglos vor dem Eingang in die Cité stehen und bereitete sich innerlich darauf vor hineinzugehen. Rechter Hand war eine Säule, aus der eine hässliche Steinfratze starrte, das flache Gesicht unnachgiebig und grob. Es sah wie frisch restauriert aus.
SUM CARCAS. Ich bin Carcas.
Carcas, die Sarazenenkönigin und Gemahlin von König Balaack, nach der Carcassonne angeblich benannt wurde, nachdem es erfolgreich eine fünfjährige Belagerung durch Karl den Großen überstanden hatte.
Die überdachte Zugbrücke war gedrungen und eng und aus Stein, Eisenketten und Holz gebaut. Als Alice sie überquerte, knarrten und polterten die Bretter unter ihren Füßen. In dem Graben darunter war kein Wasser, nur Gras, gesprenkelt mit Wildblumen.
Sie führte auf die Lices, eine staubige weite Fläche zwischen dem äußeren und inneren Festungsring. Links und rechts kletterten Kinder auf den Mauern herum und spielten Ritter, die sich mit Plastikschwertern bekämpften. Direkt vor ihr war die Porte Narbonnaise. Als sie unter dem hohen, engen Bogen hindurchging, hob Alice die Augen. Zu ihrer Verblüffung blickte eine steinerne Statue der Jungfrau Maria gütig auf sie herab.
Kaum war Alice durch das Tor getreten, verlor sie jedes Raumgefühl. Die Rue Cros-Mayrevieille, die gepflasterte Hauptstraße, war sehr schmal und führte sachte bergauf. Die Gebäude standen einander so dicht gegenüber, dass jemand, der sich aus dem oberen Stockwerk eines Hauses beugte, einer Person auf der anderen Seite die Hand hätte reichen können.
Die hohen Häuser schlossen die Geräusche ein. Verschiedene
Sprachen, Rufe, Lachen, Gestikulieren, als ein Wagen, dem auf beiden Seiten nur eine Handbreit Platz blieb, im Schritttempo vorbeikroch. Kleine Läden verkauften Ansichtskarten und Reiseführer; eine Schaufensterpuppe am Pranger warb für ein Museum mit Folterinstrumenten der Inquisition; Geschäfte boten Seife und Kissen und Geschirr an, und überall gab es Nachbildungen von Schwertern und Schilden. Geschwungene schmiedeeiserne Arme, an denen Holzschilder hingen, ragten aus den Mauern: L'Eperon Médiéval, der Mittelalterliche Sporn, verkaufte Schwerter und Porzellanpuppen; A Saint Louis hatte sich auf Andenken spezialisiert.
Alice ging ziellos weiter, bis sie zum Hauptplatz kam, der Place Marcou, klein, von Restaurants gesäumt und mit Platanen bestanden. Die ausladenden Äste, die sich wie verschlungene, schützende Hände über die Tische und Stühle reckten, wetteiferten mit den bunten Markisen. Die Namen der Cafés prangten in großen Lettern darüber - Le Marcou, Le Trouvère, Le Menestrel.
Alice schlenderte über den Platz, und als sie ihn auf der anderen Seite wieder verließ, kam sie wieder auf die Rue Cros-Mayrevieille, die die Place du Chateau kreuzte, einem Dreieck aus Geschäften, crêperies und Restaurants mit einem Steinobelisken in der Mitte, der knapp zweieinhalb Meter hoch war und von einer Büste des Jean-Pierre Cros-Mayrevieille gekrönt wurde, eines Historikers aus dem 19. Jahrhundert. Den Fuß des Obelisken zierte ringsum ein Fries, das die Festungsanlage darstellte.
Sie ging weiter, bis sie vor einer halbrunden Mauer stand, die das Château Comtal umgab. Hinter dem abschreckend aussehenden verschlossenen Tor waren die Türme und Zinnen des Schlosses zu sehen. Eine Festung in der Festung.
Alice erstarrte, denn sie spürte, dass das hier die ganze Zeit über ihr Ziel gewesen war. Das Château Comtal, Sitz der Familie Trencavel.
Sie spähte durch das hohe Holztor. Irgendwie kam ihr das alles vertraut vor, als ob sie zu einem Ort zurückgekehrt wäre, an dem sie vor langer Zeit gewesen war und den sie vergessen hatte. An den geschlossenen gläsernen Kassenhäuschen auf beiden Seiten des Eingangs waren Schilder mit den Öffnungszeiten. Dahinter folgte ein grauer Streifen Schotter und Sand, kein Gras, der wiederum zu einer flachen, schmalen, etwa zwei Meter langen Brücke führte.
Alice trat vom Tor zurück und nahm sich fest vor, gleich am nächsten Morgen wiederzukommen. Sie hielt sich rechts und folgte den Schildern Richtung Porte de Rodez, die zwischen zwei unverkennbaren, hufeisenförmigen Türmen eingelassen war. Sie stieg die breiten Stufen hinunter, die in der Mitte von zahllosen Füßen ausgetreten waren.
Der Altersunterschied zwischen innerem und äußerem Festungsring war hier am deutlichsten. Die, wie Alice gelesen hatte, gegen Ende des 13. Jahrhunderts erbauten und im 19. Jahrhundert restaurierten äußeren Anlagen waren grau und bestanden aus relativ gleichmäßig großen Steinen. Kritiker sahen darin einen weiteren Beleg dafür, wie stümperhaft die Restaurierung durchgeführt worden war. Alice störte das nicht. Was sie anrührte, war die Atmosphäre. Die innere Festungsmauer, einschließlich der Westmauer des Château Comtal, bestand zum einen aus den roten Backsteinen der galloromanischen Überreste, zum anderen aus dem bröckeligen Sandstein des 12. Jahrhunderts.
Nach dem Trubel in der Cité verspürte Alice hier, im Angesicht solcher Berge und des weiten Himmels, ein Gefühl von Frieden. Sie hatte die Arme auf die Zinnen gestützt und blickte auf den Fluss hinunter, stellte sich das kühle Wasser zwischen ihren Zehen vor.
Erst als das letzte Tageslicht von der Dunkelheit verschluckt wurde, wandte Alice sich um und kehrte in die Cité zurück.