Kapitel 6

 

Vicomte Raymond-Roger Trencavel stand auf einem Podest am hinteren Ende des Großen Saals. Er sah, wie Guilhem du Mas verspätet hereingeschlichen kam, doch er wartete auf Pelletier.

Trencavels Kleidung war passend für diplomatische Verhandlungen, nicht für den Krieg. Sein roter, langärmeliger Rock mit Goldborte am Hals und an den Ärmelaufschlägen reichte ihm bis zu den Knien. Sein blauer Mantel wurde am Hals von einer großen, runden Goldschnalle zusammengehalten. Sie fing das Sonnenlicht ein, das durch die hohen Fenster oben in der Südwand hereinfiel. Hoch über seinem Kopf prangte ein riesiger Schild mit dem Trencavel-Wappen, mit zwei diagonal gekreuzten Metallspießen dahinter. Dasselbe Zeichen zierte Banner, Festgewänder und Rüstungen. Es hing über dem Fallgitter an dem durch einen Wassergraben geschützten Eingang der Porte Narbonnaise, wo es zum einen Freunde willkommen hieß, zum anderen an die historischen Bande zwischen der Trencavel-Dynastie und ihren Untertanen erinnerte. Links neben dem Schild hing ein Wandteppich mit einem tanzenden Einhorn darauf, der diese Wand schon seit Generationen schmückte.

Am hinteren Ende des Podestes war eine kleine Tür tief in die Wand eingelassen. Sie führte in die Privatgemächer des Vicomte im Tour Pinte, dem Wachturm und ältesten Teil des Chateau Comtal. Die Tür war mit einem langen blauen Vorhang abgedeckt, der mit drei Hermelinstreifen verziert war, dem Wappen der Trencavel. Der Vorhang schützte ein wenig vor der kalten

Zugluft, die im Winter durch den Großen Saal pfiff. Heute war er mit einer schweren Goldschnur zurückgebunden. Raymond-Roger Trencavel hatte seine frühe Kindheit in diesen Räumen verbracht und war später mit seiner Frau Agnès de Montpellier und seinem zweijährigen Sohn und Erben zurückgekehrt, um wieder in diesen alten Mauern zu leben. Er kniete in derselben kleinen Kapelle nieder, in der schon seine Eltern gekniet hatten; er schlief in ihrem Eichenbett, in dem er geboren worden war. An Sommertagen wie diesem blickte er durch dasselbe Bogenfenster in die Dämmerung und schaute zu, wie die untergehende Sonne den Himmel über dem Pays d'Oc rot färbte.

Aus einiger Entfernung betrachtet, wirkte Trencavel ruhig und unbekümmert. Sein braunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Doch seine Miene war angespannt, und seine Augen huschten immer wieder zum Haupteingang.

 

Pelletier schwitzte heftig. Sein Gewand war steif und unbequem unter den Armen und klebte ihm am Rücken. Er fühlte sich alt. Der Aufgabe, die vor ihm lag, war er nicht mehr gewachsen. Pelletier hatte gehofft, dass ihm die frische Luft einen klaren Kopf verschaffen würde. Aber nein. Er war noch immer wütend auf sich, weil er die Beherrschung verloren hatte und sich durch seine Feindseligkeit gegenüber seinem Schwiegersohn von der anstehenden Aufgabe hatte ablenken lassen. Er konnte sich nicht den Luxus leisten, jetzt darüber nachzudenken. Um du Mas würde er sich falls nötig später kümmern. Jetzt war sein Platz an der Seite des Vicomte.

Aber auch Simeon wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Noch immer spürte Pelletier die sengende Angst, die sein Herz erfasst hatte, als er die Leiche im Wasser umdrehte. Und die Erleichterung, als das aufgedunsene Gesicht eines Fremden mit toten Augen zu ihm hochstarrte.

Die Hitze im Saal war unerträglich. Über einhundert Männer von Kirche und Staat drängten sich in dem heißen, stickigen Raum, der nach Schweiß, Furcht und Wein roch. Überall wurden halblaut unruhige und bedrückte Gespräche geführt.

Die Diener an der Tür verneigten sich, als Pelletier erschien, und brachten ihm rasch einen Becher Wein. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Saales, stand eine Reihe Stühle mit hoher Rückenlehne aus dunklem, glänzendem Holz, ähnlich wie das Chorgestühl in der Kathedrale Sant-Nasari. Auf ihnen saß die Aristokratie des Midi, die Seigneurs von Mirepoix und Fanjeaux, Coursan und Termenes, Albi und Mazamet. Alle waren sie nach Carcassonne eingeladen worden, um den Festtag von Sant-Nasari zu feiern, und nun wurden sie stattdessen in den Rat berufen. Pelletier sah die Spannung auf ihren Gesichtern.

Er schritt gemächlich zwischen den Gruppen hindurch, den Consuln von Carcassonne und den führenden Bürgern der Marktflecken und Vororte Sant-Vicens und Sant-Miquel, und sein erfahrener Blick registrierte alles, ohne dass es ihm anzumerken war. Kirchenmänner und einige Mönche drückten sich im Schatten entlang der Nordwand, die Gesichter halb von ihren Kapuzen verdeckt und die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Kutten gefaltet.

Die chevaliers von Carcassonne, darunter nun auch Guilhem du Mas, standen auf der anderen Seite des Saals vor dem gewaltigen gemauerten Kamin, der vom Boden bis zur Decke reichte. Der escrivain Jehan Congost, Trencavels Schreiber - und Gemahl von Pelletiers ältester Tochter Oriane-, saß ganz vorn an seinem hohen Schreibpult.

Pelletier blieb vor dem Podest stehen und verneigte sich. Erleichterung zeigte sich auf dem Gesicht von Vicomte Trencavel. »Verzeiht mir, Messire.«

»Schon gut, Bertrand«, sagte er und bedeutete Pelletier, zu ihm zu treten. »Jetzt seid Ihr ja da.«

Sie wechselten ein paar Worte, die Köpfe eng zusammengesteckt, damit niemand mithören konnte. Dann gab Trencavel ihm ein Zeichen, und Pelletier wandte sich der Versammlung zu. »Hohe Herren«, rief er. »Hohe Herren, schweigt still und hört nun Euren Seigneur, Raymond-Roger Trencavel, Vicomte von Carcassona, Besiers und Albi.«

Trencavel trat ins Licht, breitete die Arme zum Gruß aus. Es wurde still im Saal. Niemand bewegte sich mehr. Niemand sprach.

»Benvenguda, hohe Herren, treue Freunde«, sagte er. Willkommen. Seine Stimme klang so rein und ruhig wie eine Glocke, strafte seine Jugend Lügen. »Benvenguda a Carcassona. Ich danke euch allen für eure Geduld und euer Erscheinen.« Pelletier ließ den Blick über das Gesichtermeer schweifen und versuchte die Stimmung der Menge einzuschätzen. Er sah Neugier, Begeisterung, Sorge um die eigenen Interessen und Angst, und er konnte jede dieser Empfindungen nach vollziehen. Solange sie nicht wussten, warum sie hergerufen worden waren und, wichtiger noch, was Trencavel von ihnen wollte, wusste keiner von ihnen, wie er sich verhalten sollte.

»Ich hoffe inständig«, sprach Trencavel weiter, »dass das Turnier und das Fest am Ende des Monats stattfinden können wie geplant. Heute haben wir jedoch eine Botschaft erhalten, die so ernst ist und so weitreichende Folgen haben kann, dass ich es für richtig erachte, sie euch mitzuteilen. Denn sie betrifft uns alle. Für diejenigen unter euch, die bei unserer letzten Versammlung nicht anwesend waren, möchte ich den Stand der Dinge zusammenfassen. Zu Ostern vor einem Jahr predigte Seine Heiligkeit Papst Innozenz III., dessen Legaten und Predigern es nicht gelungen war, die freien Menschen dieses Landes zum Gehorsam gegenüber der Kirche von Rom zu bewegen, einen Kreuzzug, um die Christenheit von dem, wie er es nannte, >Geschwür der Häresie< zu befreien, das sich in den Landen des Pays d'Oc ungehindert ausbreitete.

Die so genannten Häretiker, die Bons Homes, waren, so behauptete er, schlimmer als die Sarazenen. Doch seine Worte trafen trotz all ihrer Leidenschaft und Wortgewalt auf taube Ohren. Der König von Frankreich blieb ungerührt. Unterstützung war kaum zu finden.

Ziel seines Hasses war mein Onkel Raymond VI., der Comte von Toulouse. Genau genommen waren die zügellosen Taten der Männer meines Onkels - die an der Ermordung des päpstlichen Legaten Pierre de Castelnau beteiligt waren - der Grund, warum Seine Heiligkeit auf das Pays d'Oc überhaupt aufmerksam wurde. Meinem Onkel wurde zur Last gelegt, die Verbreitung der Häresie in seinem Land zu dulden - und damit auch in unserem.« Trencavel zögerte, dann korrigierte er sich. »Nein, nicht die Häresie zu dulden, sondern die Bons Homes zu ermuntern, sich in seinem Herrschaftsgebiet niederzulassen.«

Ein ungemein asketisch aussehender Mönch, der ziemlich weit vorn stand, hob die Hand, um das Wort ergreifen zu dürfen. »Heiliger Bruder«, sagte Trencavel rasch. »Wenn ich noch ein wenig um Eure Geduld bitten dürfte. Sobald ich zum Ende gekommen bin, wird jeder Gelegenheit haben, etwas zu sagen. Dann können wir debattieren.«

Mit finsterer Miene ließ der Mönch den Arm wieder sinken. »Meine Freunde, die Grenze zwischen Duldung und Ermunterung ist ein schmaler Grat«, sprach Trencavel ruhig weiter. Pelletier nickte unwillkürlich und beglückwünschte ihn insgeheim für sein diplomatisches Geschick. »Und obwohl ich freimütig zugebe, dass der fromme Ruf meines Onkels nicht der ist, der er sein sollte« - Trencavel hielt inne, ließ seine darin enthaltene Kritik nachschwingen -, »und obendrein einräume, dass sein Verhalten wahrlich nicht über jeden Tadel erhaben ist, so steht es uns doch nicht an, ein Urteil zu fällen, was in dieser Angelegenheit richtig und was falsch ist.« Er lächelte. »Sollen die Priester ihre theologischen Streitgespräche führen und uns Übrige in Frieden lassen.«

Er schwieg kurz. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht. Auf einmal war keinerlei Helligkeit mehr in seiner Stimme.

»Es war nicht das erste Mal, dass die Unabhängigkeit und Souveränität unserer Lande durch Invasoren aus dem Norden bedroht wurden. Ich habe keine ernsten Folgen befürchtet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass christliches Blut mit dem Segen der katholischen Kirche auf christlichem Boden vergossen werden sollte.

Mein Onkel in Toulouse teilte meine Zuversicht nicht. Von Anbeginn hielt er die Gefahr einer Invasion für real. Um seine Besitzungen und seine Souveränität zu schützen, bot er uns ein Bündnis an. Was ich ihm darauf erwiderte, werdet Ihr sicherlich noch wissen: Dass wir, das Volk des Pays d'Oc, in Frieden mit unseren Nachbarn leben, seien es Bons Homes, Juden oder Sarazenen. Wenn sie unsere Gesetze wahren, wenn sie unsere Sitten und Gebräuche achten, dann gehören sie zu unserem Volk. So lautete damals meine Antwort.« Er hielt inne. »Und so würde sie auch heute noch lauten.«

Pelletier nickte beifällig, und er sah, dass eine Welle der Zustimmung alle im Saal erfasste, selbst die Bischöfe und die Priester. Nur der einzelne Mönch, ein Dominikaner, der Farbe seiner Kutte nach zu urteilen, blieb ungerührt. »Wir haben eine andere Auslegung von Duldung«, murmelte er mit seinem starken spanischen Akzent.

Von weiter hinten meldete sich eine andere Stimme zu Wort. »Messire, verzeiht mir, aber das alles ist uns bekannt. Das ist nichts Neues. Aber was ist nun? Warum ruft man uns in den Rat?«

Pelletier erkannte an dem arroganten, trägen Tonfall den unangenehmsten von Berenger de Massabracs fünf Söhnen, und er wäre eingeschritten, hätte er nicht die Hand des Vicomte auf seinem Arm gespürt.

»Thierry de Massabrac«, sagt Trencavel mit trügerisch gütiger Stimme, »wir sind für Eure Frage dankbar. Doch die komplizierten Pfade der Diplomatie sind einigen von uns hier noch nicht so vertraut wie Euch.«

Einige Männer lachten, und Thierry wurde rot.

»Dennoch, Eure Frage ist berechtigt. Ich habe euch heute hier zusammengerufen, weil sich die Lage geändert hat.«

Obwohl keiner etwas sagte, veränderte sich die Atmosphäre spürbar. Falls der Vicomte die gestiegene Anspannung wahrnahm, so ließ er sich nichts anmerken, wie Pelletier erfreut feststellte, sondern sprach mit derselben Gelassenheit und Autorität weiter.

»Heute Morgen haben wir die Botschaft erhalten, dass die Bedrohung durch die Armee aus dem Norden größer ist - und unmittelbarer -, als wir dachten. Das Kreuzheer - wie diese unheilige Armee sich selbst nennt - hat sich am Festtag von Johannes dem Täufer in Lyon versammelt. Unserer Schätzung nach haben sage und schreibe zwanzigtausend chevaliers die Stadt überschwemmt, in Begleitung von wer weiß wie viel tausend Sappeuren, Priestern, Pferdeknechten, Zimmermännern, Geistlichen, Hufschmieden. Unter der Führung von Arnald-Amalric, dem Abt von Citeaux, hat das Kreuzheer Lyon verlassen.« Er hielt inne und blickte sich im Saal um. »Ich weiß, dieser Name ist für viele von euch wie ein Stich ins Herz.« Pelletier sah einige ältere Mitglieder des Rates nicken. »Bei ihm sind die katholischen Erzbischöfe von Reims, Sens und Rouen sowie die Bischöfe von Autun, Clermont, Nevers, Bayeux, Chartres und Lisieux. Was die weltliche Führung angeht, so ist König Philipp von Frankreich dem Ruf zu den Waffen zwar nicht gefolgt und hat es auch seinem Sohn verboten, an seiner statt zu gehen, doch viele der mächtigsten Barone und Fürsten des Nordens haben es getan. Congost, bitte.«

Beim Klang seines Namens legte der escrivain wichtigtuerisch seine Feder nieder. Das glatte Haar fiel ihm ins Gesicht. Seine Haut, weiß und schwammig, war fast durchscheinend von einem Leben, das sich überwiegend in geschlossenen Räumen abspielte.

Congost griff betont langsam nach unten in seine große lederne Beuteltasche und holte eine Pergamentrolle hervor. In seinen verschwitzten Händen schien sie ein Eigenleben zu haben. »Nun macht schon, Mann«, murmelte Pelletier halblaut. Congost blähte die Brust auf und räusperte sich mehrmals. Dann begann er vorzulesen.

»Eudes, Duc de Bourgogne; Hervé, Comte de Nevers; der Comte de Saint-Pol; der Comte de Auvergne; Pierre d'Auxerre; Hervé de Genève; Guy d'Evreux; Gaucher de Châtillon; Simon de Montfort ...«

Congosts Stimme war dünn und ausdruckslos, doch jeder Name schien wie ein Stein in einen trockenen Brunnen zu fallen und durch den Raum zu hallen. Das waren mächtige Feinde, einflussreiche Barone aus dem Norden und Osten mit ausreichend Waffen, Geld und Männern. Diese Gegner musste man ernst nehmen - und fürchten.

Allmählich wurde deutlich, was für eine gewaltige Armee sich da gegen den Süden sammelte. Selbst Pelletier, der die Liste schon gelesen hatte, lief ein kaltes Frösteln über den Rücken.

Jetzt erhob sich ein leises, stetiges Raunen: Erstaunen, Fassungslosigkeit und Zorn. Pelletiers Blick fiel auf den Katharerbischof von Carcassonne. Der Mann lauschte aufmerksam, mit unbeweglicher Miene, und um ihn herum standen einige führende Katharerpriester - parfaits. Als Nächstes entdeckte Pelletiers scharfes Auge die verkniffene, von einer Kapuze beschattete Miene von Bérenger de Rochefort, dem katholischen Bischof von Carcassonne, der mit verschränkten Armen auf der anderen Seite des Saals stand, flankiert von seinen Priestern aus der Kathedrale Sant-Nasari und anderen aus Sant-Cernin.

Pelletier war zuversichtlich, dass de Rochefort zumindest vorerst eher Vicomte Trencavel ergeben bleiben würde als dem Papst. Aber wie lange noch? Einem Mann, der sich zwei Herren verpflichtet fühlte, war nicht zu trauen. Er würde die Seiten wechseln, so sicher wie die Sonne im Osten auf- und im Westen unterging. Nicht zum ersten Mal überlegte Pelletier, ob es nicht ratsam wäre, die Kirchenmänner jetzt zu entlassen, damit sie nichts hören konnten, von dem sie später das Gefühl hätten, es ihren Herren berichten zu müssen.

»Wir können ihnen standhalten, ganz gleich, wie viele es sind«, schrie jemand von hinten. »Carcassona ist uneinnehmbar!« Auch andere Stimmen wurden laut. »Und Lastours ebenfalls!« Bald darauf drangen Rufe aus jeder Ecke, hallten von den Wänden wider wie Donner in den Schluchten und Tälern der Montagne Noire. »Sollen sie doch in die Berge kommen«, rief wieder ein anderer. »Wir werden ihnen zeigen, was Kämpfen ist.«

Raymond-Roger hob die Hand und bedankte sich mit einem Lächeln für die lautstarke Unterstützung.

»Hohe Herren, meine Freunde«, sagte er, fast brüllend, um sich Gehör zu verschaffen. »Danke für euren Mut, eure unerschütterliche Treue.« Er schwieg einen Augenblick, wartete, bis der Lärm etwas abebbte. »Diese Männer aus dem Norden haben nichts mit uns gemein und wir nicht mit ihnen, bis auf das, was alle Menschen dieser Erde unter Gott verbindet. Den Verrat eines Mannes jedoch, der durch Pflicht, Familie und die Verantwortung, unsere Lande und unser Volk zu schützen, in jeder Hinsicht an uns gebunden ist, hätte ich nicht erwartet. Ich spreche von meinem Onkel und Lehnsherrn, Raymond, Comte de Toulouse.«

Eine erschrockene Stille senkte sich über die Versammlung. »Vor einigen Wochen erreichten mich Berichte, mein Onkel habe sich einem derart entwürdigenden Ritual unterworfen, dass es mich beschämt, davon zu sprechen. Ich ließ die Gerüchte überprüfen. Sie entsprachen der Wahrheit. In der großen Kathedrale von Saint-Gilles war der Comte in Anwesenheit des päpstlichen Legaten wieder in die katholische Kirche aufgenommen worden. Er wurde bis auf die Hüfte entkleidet, trug einen Büßerstrick um den Hals und ließ sich von den Priestern geißeln, während er auf allen vieren herumkroch und um Vergebung flehte.«

Trencavel schwieg einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen.

»Durch diese schändliche Demütigung wurde er wieder in die Arme der heiligen Mutter Kirche aufgenommen.« Ein verächtliches Raunen breitete sich im Saal aus. »Aber das ist noch nicht alles, meine Freunde. Ich bin sicher, dass er mit diesem schimpflichen Schauspiel bezweckte, die Kraft seines Glaubens und seine Ablehnung der Häresie zu beweisen. Doch selbst das genügte offenbar nicht, um die Gefahr abzuwenden, die er kommen gesehen hatte. Er hat die Herrschaft über seine Gebiete an die Legaten Seiner Heiligkeit des Papstes abgetreten. Und heute erfuhr ich ...« Er stockte. »Heute erfuhr ich, dass Raymond, Com- te de Toulouse, mit einigen hundert Männern in Valence ist, nicht ganz eine Woche Fußmarsch von hier entfernt. Er wartet nur auf das Zeichen, um die Invasoren aus dem Norden bei Beaucaire über den Fluss in unsere Lande zu führen.« Er schwieg kurz. »Er hat das Kreuz der Kreuzfahrer genommen. Hohe Herren, er hat vor, gegen uns zu marschieren.«

Endlich brandete ein Sturm der Empörung durch den Saal. »Si- lenci«, brüllte Pelletier vergeblich, bis seine Kehle heiser war. »Ruhe. Bitte, Ruhe!«

Es war ein ungleicher Kampf, eine Stimme gegen so viele.

Der Vicomte trat bis an den Rand des Podestes, stellte sich genau unter das Wappen der Trencavel. Seine Wangen waren gerötet, doch Kampfeslust leuchtete ihm aus den Augen, und Trotz und Mut spiegelten sich auf seinem Gesicht. Er breitete die Arme aus, als wollte er den Saal und alle darin umarmen. Sofort trat Ruhe ein.

»Und so stehe ich heute vor euch, meine Freunde und Verbündeten, im alten Geist der Ehre und Treue, der uns an unsere Brüder bindet, um euren guten Rat einzuholen. Uns, den Männern des Midi, stehen nur zwei Wege offen, und wir haben nur sehr wenig Zeit, um zu entscheiden, welchen wir einschlagen sollen. Die Frage ist einfach. Per Carcassona!« Für Carcassonne. »Per lo Miegjorn.« Für die Lande des Midi. »Müssen wir uns unterwerfen? Oder sollen wir kämpfen?«

Als Trencavel sich erschöpft von der Anstrengung in seinen Sessel sinken ließ, schwoll der Lärm im Saal erneut an.

Pelletier konnte nicht anders. Er beugte sich vor und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter.

»Gut gesprochen, Messire«, sagte er leise. »Vortrefflich, mein Herr.«

 


Das Verlorene Labyrinth
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