Kapitel 55

 

Alice betrat eine elegante Eingangshalle, eigentlich eher ein Museum als ein Privathaus. Will ging schnurstracks zu einem Wandteppich gegenüber der Haustür und zog ihn ein Stück von der Wand.

»Was machst du denn da?«

Sie lief zu ihm und sah einen kleinen Messinggriff, der in die Wandtäfelung eingelassen war. Will rüttelte und zerrte daran, dann drehte er sich frustriert um.

»Verdammter Mist. Von der anderen Seite abgeschlossen.«

»Ist das eine Tür?«

»Ja.«

»Und das Labyrinth, das du gesehen hast, ist dahinter?«

Will nickte. »Erst geht's eine Treppe runter und dann einen Gang entlang, der in eine merkwürdige Kammer führt. Ägyptische Symbole an den Wänden, eine Art Sarkophag mit einem Labyrinth drauf, genauso eines, wie du's beschrieben hast. Und dann ...« Er brach abrupt ab. »Diese Geschichte in der Zeitung. Und dass deine Freundin diese Adresse hier hatte ...«

»Aber das sind alles nur Vermutungen«, sagte sie.

Will ließ die Ecke des Wandteppichs los und ging zielstrebig zu einer Tür auf der anderen Seite der Eingangshalle. Nach kurzem Zögern folgte Alice ihm.

»Was hast du vor?«, zischelte sie, als Will die Tür öffnete.

Als sie die Bibliothek betraten, war es wie eine Reise in die Vergangenheit. Es war ein gediegener Raum mit der Atmosphäre eines Herrenclubs. Die Fensterläden waren zum Teil geschlossen, und gelbe Lichtbalken fielen über den Teppich wie goldene Stoffstreifen. Eine Aura von Beständigkeit lag in der Luft, ein Geruch nach Altem und Politur.

Auf drei Seiten des Raumes reichten Regale vom Boden bis zur Decke, und verschiebbare Leitern ermöglichten den Zugriff bis ins oberste Regal. Will wusste genau, was er suchte. In einer Vitrine standen Bildbände über Chartres Seite an Seite mit Büchern über die Architektur und Sozialgeschichte der Stadt. Mit einem Auge auf die Tür, sah Alice atemlos zu, wie Will ein Buch mit einem erhaben geprägten Familienwappen auf dem Deckel herausnahm und es zum Tisch trug. Sie spähte ihm über die Schulter, während er die Seiten umblätterte. Hochglanzfarbfotos, alte Stadtkarten von Chartres und Zeichnungen huschten vorüber, bis Will das Kapitel fand, das er suchte.

»Was ist das für ein Buch?«

»Über das Haus der de l'Oradore. Dieses Haus«, sagte er. »Die Familie wohnt hier seit Hunderten von Jahren, seit seiner Erbauung. Es gibt Grundrisspläne und Aufrisszeichnungen von jedem Stockwerk.«

Will blätterte hastig weiter, bis er die gesuchte Seite gefunden hatte. »Da«, sagte er und drehte das Buch herum, sodass sie besser sehen konnte. »Ist es das?«

Alice stockte der Atem. »Mein Gott«, flüsterte sie.

Es war eine perfekte Zeichnung ihres Labyrinths.

 

Das Geräusch der Haustür, die ins Schloss fiel, ließ sie beide zusammenfahren.

»Will, die Tür! Wir haben sie offen gelassen!«

Sie hörte gedämpfte Stimmen in der Halle, ein Mann und eine Frau.

»Die kommen hierher«, zischte sie.

Will schob ihr das Buch in die Hände. »Schnell«, flüsterte er und zeigte auf ein großes Dreisitzersofa unter dem Fenster. »Ich mach das schon.«

Alice schnappte sich ihren Rucksack, rannte zum Sofa und kroch in den Spalt zwischen Rückenlehne und Wand. Es roch durchdringend nach rissigem Leder und altem Zigarrenrauch, und der Staub kitzelte ihr in der Nase. Sie hörte, wie Will die Vitrine klappernd schloss und dann in die Mitte des Raumes trat, als sich auch schon die Tür quietschend öffnete.

»Qu'est-ce que tu fais lä?«

Als Alice leicht den Kopf neigte, konnte sie die Spiegelung der beiden Männer in der Glastür der Vitrine sehen. Der Neuankömmling war jung und groß, hatte etwa die gleiche Statur wie Will, nur erheblich knochiger. Schwarzes lockiges Haar, hohe Stirn und eine Patriziernase. Sie runzelte die Stirn. Er erinnerte sie an irgendwen.

»Frangois-Baptiste. Hi«, sagte Will. Selbst Alice fand, dass seine Heiterkeit falsch klang.

»Was zum Teufel machst du hier?«, wiederholte der andere. Will hielt die Illustrierte hoch, die er vom Tisch genommen hatte. »Wollte mir nur was zu lesen holen.«

Francois-Baptiste warf einen Blick auf das Titelblatt und stieß ein kurzes Lachen aus.

»Das ist ja wohl kaum dein Geschmack.«

»Du würdest dich wundern.«

Der junge Mann machte einen Schritt auf Will zu. »Bald bist du hier weg«, sagte er mit leiser, gehässiger Stimme. »Bald hat sie die Nase voll von dir und schmeißt dich raus, wie alle anderen. Du hast nicht einmal gewusst, dass sie verreisen wollte, oder?« »Was zwischen deiner Mutter und mir vorgeht, hat dich nicht zu interessieren, wenn du mich also entschuldigst ...« Fran^ois-Baptiste stellte sich ihm in den Weg. »Warum so eilig?«

»Provozier mich nicht, Fran^ois-Baptiste, ich warne dich.« Fran?ois-Baptiste legte Will eine Hand auf die Brust, um ihn aufzuhalten.

Will stieß seinen Arm weg. »Fass mich nicht an.«

»Und was willst du dagegen tun?«

»Ça suffit.«

Beide Männer fuhren herum. Alice versuchte etwas von der Frau zu erkennen, aber sie war noch nicht weit genug im Zimmer. »Was ist hier los?«, wollte sie wissen. »Warum zankt ihr euch wie kleine Jungs? François-Baptiste? William?«

»Rien, maman. Je lui demandais ...«

Will blickte verblüfft, als ihm klar wurde, wer da zusammen mit François-Baptiste ins Haus gekommen war. »Marie-Cécile. Ich hatte keine Ahnung ...«Er zauderte. »Ich hab dich nicht so früh zurückerwartet.«

Die Frau trat weiter ins Zimmer, und jetzt konnte Alice ihr Gesicht sehen.

Das kann nicht sein.

Heute trug sie einen knielangen ockerfarbenen Rock mit passendem Blazer und war eleganter gekleidet als beim letzten Mal, als Alice sie gesehen hatte. Das Haar war nicht mit einem Tuch zurückgebunden, sondern fiel ihr locker ums Gesicht.

Aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Es war dieselbe Frau, die Alice vor dem Hôtel de la Cité in Carcassonne gesehen hatte. Das war Marie-Cécile de l'Oradore.

Sie blickte von Mutter zu Sohn. Die Ähnlichkeit war unübersehbar. Das gleiche Profil, das gleiche herrische Auftreten. Der Grund für François-Baptistes Feindseligkeit zwischen ihm und Will war durchaus erklärlich.

»Aber weißt du, was, mein Sohn hat nicht Unrecht«, sagte Marie-Cécile gerade. »Was machst du hier drin?«

»Ich hab ... ich wollte mal was anderes lesen. Es war ... einsam hier, ohne dich.«

Alice verzog das Gesicht. Er klang alles andere als überzeugend. »Einsam?«, wiederholte sie. »Dein Gesicht sagt aber etwas ganz anderes, Will.«

Marie-Cécile beugte sich vor und küsste Will auf den Mund. Alice spürte die Verlegenheit in den Raum dringen. Es war unangenehm intim. Sie sah, dass Will die Hände zu Fäusten geballt hatte.

Er will nicht, dass ich das mitkriege.

Der Gedanke, so verwirrend er auch war, schoss ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf.

Marie-Cécile ließ ihn los, mit einem Anflug von Genugtuung im Gesicht.

»Wir unterhalten uns später, Will. Aber jetzt müssen François- Baptiste und ich leider ein paar geschäftliche Dinge klären. Désolée. Wenn du uns also bitte allein lassen würdest.«

»Hier?«

Zu schnell. Zu offensichtlich.

Marie-Céciles Augen verengten sich. »Warum nicht hier?« »Nur so«, sagte er hastig.

» Maman. Il est déjà six heures.«

»)’arrive«, sagte sie, während sie Will weiter misstrauisch fixierte. »Mais, je ne ...«

»Va le chercher«, fauchte sie. Hol es.

Alice hörte François-Baptiste aus dem Zimmer stürmen, dann sah sie, wie Marie-Cécile Will die Arme um die Taille legte und ihn an sich zog. Ihre Fingernägel leuchteten rot auf dem Weiß seines T-Shirts. Sie wollte wegschauen, konnte aber den Blick nicht losreißen.

»Tiens«, sagte Marie-Cécile. »A bientôt.«

»Kommst du bald?«, fragte Will. Alice hörte die Panik in seiner Stimme, weil ihm klar war, dass er sie hier in der Falle zurücklassen musste.

»Toute à l'heure.« Später.

Alice konnte nichts tun. Musste hilflos mit anhören, wie sich Wills Schritte entfernten.

 

Die beiden Männer passierten einander an der Tür.

»Da«, sagte François-Baptiste und gab seiner Mutter eine Ausgabe von der Zeitung, in die Will zuvor so versunken gewesen war.

»Wie sind die so schnell an die Story gekommen?«

»Keine Ahnung«, sagte er verdrossen. »Authié, vermute ich.« Alice erstarrte. Derselbe Authié?

»Meinst du wirklich, François-Baptiste?«, fragte Marie-Cécile. »Naja, irgendwer muss ihnen den Tipp gegeben haben. Die Polizei hat am Dienstag Taucher in die Eure geschickt, genau an die richtige Stelle. Die wussten, wonach sie suchen. Überleg doch mal. Wer hat denn zuerst behauptet, dass es in Chartres eine undichte Stelle gibt? Authié. Hat er je Beweise dafür vorgelegt, dass Tavernier mit dem Journalisten gesprochen hat?« »Tavernier?«

»Der Mann im Fluss«, sagte er beißend.

»Ach ja, natürlich.« Marie-Cécile zündete sich eine Zigarette an. »Der Artikel erwähnt die Noublesso Véritable mit Namen.« »Authié selbst könnte ihn verraten haben.«

»Solange es nichts gibt, was Tavernier mit diesem Haus in Verbindung bringt, ist alles in Ordnung«, sagte sie mit gelangweiltem Unterton. »Da gibt es doch nichts, oder?«

»Ich habe alles so gemacht, wie du gesagt hast.«

»Und hast du auch für Samstag alles vorbereitet?«

»Ja«, bestätigte er, »obwohl ich nicht weiß, warum wir uns ohne den Ring oder das Buch eigentlich die Mühe machen.«

Ein Lächeln huschte über Marie-Céciles rote Lippen. »Tja, weißt du, deshalb brauchen wir Authié ja noch, trotz deines offensichtlichen Misstrauens ihm gegenüber«, sagte sie glattzüngig. »Er sagt, dass er, oh Wunder, den Ring gefunden hat.«

»Warum, verdammt, hast du mir das nicht schon früher gesagt?«, fragte er wütend.

»Ich sag's dir jetzt«, stellte sie bloß fest. »Er behauptet, seine Männer hätten ihn gestern Abend im Hotelzimmer der Engländerin in Carcassonne gefunden.«

Alice merkte, wie ihre Haut eiskalt wurde. Das kann nicht sein. »Glaubst du, er lügt?«

»Sei kein Idiot, François-Baptiste«, blaffte sie ihn an. »Natürlich lügt er. Wenn Dr. Tanner ihn an sich genommen hätte, dann hätte Authié nicht vier Tage gebraucht, um ihn sich zu beschaffen. Außerdem habe ich seine Wohnung und sein Büro durchsuchen lassen.«

»Dann ...«

Sie schnitt ihm das Wort ab. »Wenn - wenn - Authié ihn tatsächlich hat, dann entweder von Biaus Großmutter oder aber er hatte ihn schon von Anfang an. Möglicherweise hat er ihn selbst in der Höhle eingesteckt.«

»Warum hätte er das tun sollen?«

Das Telefon klingelte, aufdringlich, laut. Alice blieb fast das Herz stehen.

Francois-Baptiste sah seine Mutter an.

»Geh ran«, sagte sie.

Er tat wie geheißen. »Oui.«

Vor lauter Angst, sich zu verraten, wagte Alice kaum Luft zu holen.

»Oui, je comprends. Attends.«

Er legte eine Hand auf die Sprechmuschel. »Das ist O'Donnell. Sie sagt, sie hat das Buch.«

»Frag sie, warum sie sich nicht gemeldet hat.«

Er nickte. »Wo haben Sie denn seit Montag gesteckt?« Er lauschte. »Weiß sonst noch jemand, dass Sie es haben?« Wieder lauschte er. »Gut. A vingt-deux heures. Demain soir.«

Er legte den Hörer wieder auf die Gabel.

»Bist du sicher, dass sie es war?«

»Es war ihre Stimme. Und sie wusste, was vereinbart war.«

»Er hat bestimmt mitgehört.«

»Was meinst du?«, fragte er unsicher. »Wer denn?« »Himmelherrgott, was denkst du denn?«, fauchte sie. »Authié natürlich.«

»Ich ...«

»Shelagh O'Donnell ist tagelang wie vom Erdboden verschluckt. Und sobald ich wieder in Chartres bin und ihm nicht mehr in die

Quere kommen kann, taucht O'Donnell wieder auf! Zuerst der Ring, dann das Buch.«

Endlich fuhr Francois-Baptiste aus der Haut. »Aber gerade eben hast du ihn praktisch noch in Schutz genommen«, schrie er sie an. »Als ob ich voreilige Schlüsse gezogen hätte. Wenn du weißt, dass er gegen uns arbeitet, warum hast du es mir dann nicht erzählt, anstatt zuzulassen, dass ich mich zum Narren mache. Oder genauer gesagt, warum hinderst du ihn nicht daran ? Hast du dich überhaupt schon einmal gefragt, warum er die Bücher unbedingt haben will? Was er damit vorhat? Sie an den Meistbietenden versteigern?«

»Ich weiß ganz genau, warum er die Bücher haben will«, sagte sie mit unterkühlter Stimme.

»Warum machst du das immer? Dauernd demütigst du mich!« »Das Gespräch ist beendet«, sagte sie. »Wir reisen morgen ab. Dann sind wir rechtzeitig für dein Treffen mit O'Donnell da, und ich habe genügend Zeit, mich vorzubereiten. Die Zeremonie beginnt dann wie geplant um Mitternacht.«

»Du willst, dass ich mich mit ihr treffe?«, fragte er ungläubig. »Aber natürlich«, sagte sie. Zum ersten Mal hörte Alice so etwas wie Emotion in der Stimme der Frau. »»Ich will das Buch, Francois-Baptiste.«

»Und wenn er es nicht hat?«

»Ich glaube nicht, dass er sich dann so viel Mühe machen würde.« Alice hörte, wie Francois-Baptiste durch den Raum ging und die Tür öffnete.

»Und was ist mit ihm?«, sagte er, wieder mit etwas Leidenschaft in der Stimme. »Du kannst ihn nicht hier lassen und ihn ...«

»Überlass Will ruhig mir. Auch um ihn brauchst du dich nicht zu kümmern.«

 

Will hatte sich in der kleinen Kammer im Durchgang zur Küche versteckt.

Der Raum war eng und roch nach Ledermänteln, alten Stiefeln und gewachsten Jacken, war aber vortrefflich geeignet, um die Türen zur Bibliothek und zum Arbeitszimmer zu beobachten. Er sah Fran^ois-Baptiste herauskommen und ins Arbeitszimmer gehen, wenige Augenblicke später gefolgt von Marie-Ce- cile. Will wartete, bis die schwere Tür zufiel, schlüpfte dann sofort aus seinem Versteck und lief durch die Halle in die Bibliothek.

»Alice«, flüsterte er. »Schnell. Du musst hier weg.« Ein leises Geräusch ertönte, und dann tauchte sie auf. »Es tut mir so Leid«, sagte er. »Das ist alles meine Schuld. Alles in Ordnung?«

Sie nickte, wenngleich sie totenblass aussah.

Will griff nach ihrer Hand, doch sie weigerte sich mitzukommen.

»Was hat das alles zu bedeuten, Will? Du wohnst hier. Du kennst diese Leute, und trotzdem bist du bereit, alles aufs Spiel zu setzen, um einer Fremden zu helfen. Das ergibt doch keinen Sinn.«

Ihm lag auf der Zunge, dass sie für ihn keine Fremde war, aber er konnte sich bremsen.

»Ich ...«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Das Zimmer um ihn herum schien sich aufzulösen. Will sah nur noch Alice' herzförmiges Gesicht und ihre entschlossenen braunen Augen, die in sein tiefstes Inneres zu blicken schienen.

»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du ... dass du und sie ... ? Dass du hier lebst?«

Er konnte ihrem Blick nicht standhalten. Alice starrte ihn noch einen Moment länger an, dann ging sie rasch durch den Raum und hinaus in die Halle, ließ ihn einfach stehen.

Er eilte ihr nach. »Was willst du jetzt machen?«, fragte er verzweifelt.

»Nun, ich habe gerade erfahren, welche Verbindung Shelagh zu diesem Haus hat«, sagte sie. »Sie arbeitet für diese Leute.« »Diese Leute?«, fragte er verblüfft, als er ihr die Haustür aufhielt, damit sie hinausschlüpfen konnte. »Was soll das denn heißen?«

»Aber sie ist nicht hier. Madame de l'Oradore und ihr Sohn suchen sie auch. Nach dem, was ich gehört habe, vermute ich, dass sie irgendwo bei Foix festgehalten wird.«

Auf der untersten Stufe der Treppe drehte Alice sich plötzlich erschreckt um.

»Will, ich hab meinen Rucksack in der Bibliothek vergessen«, sagte sie entsetzt. »Hinter dem Sofa, zusammen mit dem Buch.« Plötzlich überkam Will der unbändige Wunsch, sie zu küssen. Der Zeitpunkt hätte schlechter nicht sein können, sie waren in etwas verstrickt, was er nicht verstand, und Alice hatte kein wirkliches Vertrauen zu ihm. Und doch erschien es ihm wie das einzig Richtige.

Ohne zu überlegen, hob Will den Arm und wollte die Hand an ihre Wange legen. Ihm war, als wüsste er genau, wie weich und kühl ihre Haut sich anfühlen würde, als hätte er diese Geste schon zahllose Male gemacht. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie sie sich ihm im Café entzogen hatte, und er hielt inne, seine Hand nur Millimeter von ihrer Wange entfernt.

»Verzeih mir«, sagte er, als könnte Alice seine Gedanken lesen. Sie blickte ihn an, und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr angespanntes und nervöses Gesicht. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, stotterte er. »Es ...«

»Es ist nicht wichtig«, sagte sie, aber ihre Stimme klang sanft. Will seufzte erleichtert auf. Er wusste, dass das nicht stimmte. Es war wichtiger als alles auf der Welt, aber zumindest war sie ihm nicht böse.

»Will«, sagte sie, diesmal ein wenig schärfer. »Mein Rucksack. Da ist alles drin. Alle meine Unterlagen und Notizen.«

»Ja, klar«, sagte er sofort. »Entschuldige. Ich hol ihn und bring ihn dir ins Hotel.« Er versuchte sich zu konzentrieren. »Wo wohnst du?«

»Hotel Petit Monarque. Am Place des Epars.« »Alles klar«, sagte er und sprang die Stufen hinauf. »In dreißig Minuten bin ich da.«

Will drehte sich noch einmal um und sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war, dann trat er ins Haus. Unter der Tür zum Arbeitszimmer war Licht zu sehen.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Will sprang dahinter, drückte den Rücken gegen die Wand. Francois-Baptiste kam heraus und ging Richtung Küche. Will hörte, wie die Tür zum Durchgang aufschwang und wieder zufiel, dann nichts mehr.

Will drückte das Gesicht an den Türspalt, spähte hindurch und sah Marie-Cecile. Sie saß an ihrem Schreibtisch und betrachtete etwas, etwas, das glänzte und das Licht einfing, wenn sie es bewegte.

Als Marie-Cecile aufstand und eines der Gemälde an der Wand hinter ihr abnahm, vergaß Will, was er eigentlich vorhatte. Es war Marie-Ceciles Lieblingsgemälde. Sie hatte ihm einmal alles darüber erzählt, ganz am Anfang ihrer Beziehung. Es war ein goldenes Ölbild mit leuchtenden Farbtupfen, das französische Soldaten darstellte, wie sie die umgestürzten Säulen und Palastruinen des Alten Ägyptens bestaunen. »Blick auf das Sandmeer der Zeit - 1799«, das wusste er noch. Aber mehr auch nicht.

In der Wand hinter dem Bild war eine kleine schwarze Metalltür eingelassen und daneben ein elektronisches Tastenfeld. Sie tippte sechs Zahlen ein. Ein helles Klicken ertönte, und der Safe öffnete sich. Marie-Cecile nahm zwei schwarze Päckchen heraus und legte sie behutsam auf den Schreibtisch. Als sie die Päckchen öffnete, versuchte Will angestrengt, etwas zu erkennen.

Er war so konzentriert, dass er die Schritte hinter sich nicht wahrnahm.

»Keine Bewegung.«

»Francois-Baptiste, ich ...«

Will spürte die kalte Mündung einer Pistole, die ihm in die Rippen gepresst wurde.

»Und halt die Hände so, dass ich sie sehen kann.«

Er wollte sich umdrehen, doch Francois-Baptiste packte ihn im Nacken und rammte ihm das Gesicht gegen die Wand. »Qu'est-ce qui se passe?«, rief Marie-Cécile.

Francois-Baptiste versetzte ihm noch einen Schlag.

»Je m'en occupe«, sagte er. Ich habe alles im Griff.

 

Alice sah wieder auf die Uhr.

Er kommt nicht.

Sie stand an der Rezeption des Hotels und starrte auf die Glastür, als könnte sie Will aus dem Nichts herbeizaubern. Fast eine Stunde war vergangen, seit sie die Rue du Cheval Blanc verlassen hatte. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Portemonnaie, Handy und Autoschlüssel hatte sie in der Jackentasche. Alles andere war im Rucksack. Ihr Name, ihre Anschrift.

Egal. Mach, dass du wegkommst.

Je länger sie wartete, desto stärker zweifelte sie an Wills Motiven. Die Tatsache, dass er so plötzlich und unerwartet aufgetaucht war. Wieder und wieder ging Alice den Ablauf der Ereignisse durch.

War es wirklich purer Zufall, dass sie sich über den Weg gelaufen waren? Sie hatte keiner Menschenseele erzählt, wohin sie wollte.

Aber warum kommt er dann nicht?

Inzwischen war es halb neun, und Alice beschloss, nicht länger zu warten. Sie erklärte an der Rezeption, dass sie nun doch kein Zimmer brauchen würde, hinterließ eine kurze Nachricht an Will zusammen mit ihrer Handy-Nummer, für den Fall, das er doch noch kam, und ging zum Auto.

Als sie ihre Jacke auf den Beifahrersitz warf, fiel ihr Blick auf den Umschlag, der aus der Tasche lugte. Es war der Brief, den man ihr im Hotel gegeben und den sie komplett vergessen hatte. Sie zog ihn heraus und legte ihn aufs Armaturenbrett. Sie würde ihn lesen, wenn sie irgendwo Rast machte.

Es wurde dunkel, als sie wieder Richtung Süden fuhr. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten sie. Bäume und Büsche hoben sich gespenstisch aus der Finsternis. Orléans, Poitiers, Bordeaux, die Schilder zischten vorbei. Eingesponnen in ihre eigene Welt, Stunde um Stunde, kaute Alice immer wieder dieselben Fragen durch. Und jedes Mal fiel ihr eine andere Antwort ein.

Warum? Um Informationen zu bekommen! Und die hatte sie ihnen ja nun geradezu auf einem silbernen Tablett serviert. All ihre Notizen, ihre Zeichnungen, das Foto von Grâce Tanner und Baillard.

Er hatte ihr die Kammer mit dem Labyrinth zeigen wollen. Gesehen hatte sie nichts. Bloß eine Abbildung in einem Buch. Alice schüttelte den Kopf. Sie wollte es einfach nicht glauben. Warum hatte er ihr geholfen, aus dem Haus zu kommen? Weil er das bekommen hatte, was er wollte, besser gesagt, was Madame de l'Oradore wollte.

Damit sie dich verfolgen können.

 

Das Verlorene Labyrinth
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