Kapitel 73
Sabarthès-Berge

 

Freitag, 8. Juli 2005

 

Der Gestank brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Eine Mischung aus Ammoniak, Ziegenmist, ungewaschenem Bettzeug und kaltem, gegartem Fleisch. Er blieb ihm in der Kehle stecken und brannte ihm in der Nase, als würde man ihm ein Fläschchen Riechsalz zu dicht vors Gesicht halten.

Will lag auf einer unbequemen Pritsche, eigentlich eher einer Bank, die an die Wand der Hütte geschraubt war. Er setzte sich vorsichtig auf und lehnte sich gegen die Steinwand. Die rauen Kanten drückten ihm gegen die Arme, die ihm noch immer auf den Rücken gebunden waren.

Er fühlte sich, als hätte er vier Runden im Boxring überstanden. Während der Fahrt war er im Kofferraum kräftig durchgerüttelt worden, und sein Körper war mit blauen Flecken übersät. An der Stelle, wo Francois-Baptiste ihn mit der Pistole getroffen hatte, pochte ihm die Schläfe. Er spürte den Bluterguss unter der Haut, hart und böse, und das Blut um die Platzwunde herum.

Er wusste nicht, wie spät oder welcher Tag es war. Noch immer Freitag?

Sie hatten Chartres sehr früh am Morgen verlassen, so gegen fünf Uhr. Als sie ihn aus dem Auto geholt hatten, war es Nachmittag gewesen, heiß und die Sonne noch hell. Er drehte den Hals, versuchte einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen, doch von der Bewegung wurde ihm schlecht.

Will wartete, bis die Übelkeit abklang. Dann öffnete er die Augen und versuchte sich zu orientieren. Er war anscheinend in einer Art Schäferhütte. Das kleine Fenster, nicht größer als ein Buch, war vergittert. Hinten in der Ecke war ein Brett an der Wand, eine Art Tisch und ein Hocker. In der Feuerstelle daneben waren die Überreste eines längst erkalteten Feuers, graue Asche und verkohlte Überreste von Holz oder Papier. Darüber hing ein schwerer Kochtopf an einer Stange. Will konnte rundherum am Rand kaltes, erstarrtes Fett sehen.

Er ließ sich zurück auf die harte Matratze fallen, spürte die raue Decke auf seiner geschundenen Haut und fragte sich, wo Alice wohl jetzt war.

Draußen waren Schritte zu hören, kurz darauf drehte sich ein Schlüssel in einem Schloss. Will hörte das metallische Klirren, als eine Kette zu Boden glitt, dann das arthritische Knarren der Tür, die aufgezogen wurde, und eine Stimme, die ihm bekannt vorkam.

»C'est l'heure.« Es ist Zeit.

 

Shelagh spürte die Luft auf ihren nackten Armen und Beinen und nahm wahr, dass man sie von einem Ort zu einem anderen schaffte.

Irgendwo zwischen den leisen Geräuschen, als sie aus dem Bauernhof weggebracht wurde, erkannte sie die Stimme von Paul Authié. Dann das unverkennbare Gefühl von Höhlenluft auf der Haut, kühl und ein wenig feucht, und der Boden neigte sich leicht. Ihre beiden Aufpasser waren da. Sie hatte sich an ihren Geruch gewöhnt. Aftershave, Zigaretten, eine bedrohliche Männlichkeit, bei der sich ihr die Muskeln verkrampften.

Ihre Schultern waren verspannt, weil sie ihr wieder die Beine gefesselt und die Arme auf den Rücken gebunden hatten. Ein Auge war zugeschwollen. Der Nahrungs- und Lichtmangel in Verbindung mit den Drogen, mit denen sie ruhig gestellt worden war, hatte zur Folge, dass sich ihr alles drehte, aber sie wusste trotzdem, wo sie war.

Authié hatte sie zurück in die Höhle gebracht. Sie spürte die Veränderung in der Atmosphäre, als sie aus dem Tunnel in die Kammer traten, spürte die Spannung in ihren Beinen, als sie die Stufen hinunter zu dem tiefer gelegenen Bereich getragen wurde, wo sie Alice bewusstlos auf dem Boden gefunden hatte. Shelagh nahm wahr, dass irgendwo Licht brannte, vielleicht auf dem Altar. Der Mann, der sie trug, blieb stehen. Sie waren bis ganz nach hinten in die Kammer gegangen, weiter, als sie zuvor gewesen war. Er hob sie mit Schwung von der Schulter, ein schlaffes Gewicht, und ließ sie fallen. Sie spürte den Schmerz in der Seite, als sie aufschlug, aber richtig empfinden konnte sie schon lange nichts mehr.

Sie verstand nicht, warum er sie nicht bereits getötet hatte.

Er hatte jetzt die Hände unter ihre Arme geschoben und schleifte sie über den Boden. Kies, Steine, scharfkantige Felssplitter, gruben sich in ihre nackten Fußsohlen und Knöchel. Sie merkte, dass ihre gefesselten Hände an etwas Metallisches und Kaltes gebunden wurden, einen Ring oder Bügel, der in den Erdboden eingelassen war.

In der Annahme, dass sie noch immer bewusstlos war, unterhielten sich die Männer leise.

»Wie viele Ladungen hast du angebracht?«

»Vier.«

»Und wann gehen die hoch?«

»Kurz nach zehn. Er will es selbst machen.« Shelagh konnte ein Lächeln in der Männerstimme hören. »Ausnahmsweise macht er sich mal selbst die Hände schmutzig. Ein Druck auf den Knopf und wumm! Dann fliegt das Ganze hier in die Luft.«

»Ich kapier noch immer nicht, wieso wir sie den ganzen Weg hierher schleppen mussten«, maulte der andere. »Wir hätten die Kleine doch auch auf dem Hof lassen können.«

»Er will nicht, dass sie identifiziert wird. In ein paar Stunden kracht hier der halbe Berg zusammen. Dann wird sie unter tonnenweise Felsen begraben.«

Endlich verlieh die Angst Shelagh die Kraft, sich zu wehren. Sie zerrte an ihren Fesseln und versuchte aufzustehen, aber sie war zu schwach, und ihre Beine wollten sie nicht tragen. Sie meinte, ein Lachen zu hören, als sie wieder zu Boden sank, war sich aber nicht sicher. Sie wusste nicht mehr genau, was real war und was nur in ihrem Kopf passierte.

»Sollen wir nicht hier bei ihr bleiben?«

Der andere Mann lachte. »Was will sie denn machen? Aufstehen und hier rausspazieren? Ich meine, Menschenskind! Sieh sie dir doch an!«

Das Licht wurde schwächer.

Shelagh hörte die Schritte der Männer leiser und leiser werden, bis nur noch Stille und Dunkelheit sie umgaben.


Das Verlorene Labyrinth
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