Kapitel 43
Carcassonne

 

Die Fahrt von Salleles d'Aude zurück nach Carcassonne verging wie im Rausch. Als Alice ankam, war die Lobby des Hotels mit Neuankömmlingen überfüllt, deshalb nahm sie sich selbst ihren Zimmerschlüssel vom Haken und ging nach oben, ohne jemandem Bescheid zu sagen.

Als sie die Tür aufschließen wollte, bemerkte sie, dass sie nur angelehnt war.

Alice zögerte. Sie legte den Schuhkarton und die Bücher auf dem Boden ab und stieß dann vorsichtig die Tür ein Stück weiter auf. »Allo? Hallo?«

Sie blickte sich rasch im Zimmer um. Es sah alles so aus, wie sie es verlassen hatte. Trotzdem war Alice mulmig zu Mute, als sie über die abgestellten Sachen trat und argwöhnisch einen Schritt in den Raum machte. Sie blieb stehen. Ein Geruch nach Vanille und kaltem Zigarettenrauch drang ihr in die Nase.

Plötzlich nahm sie eine Bewegung hinter der Tür wahr. Ihr Herz machte einen Satz. Sie fuhr herum und sah gerade noch ein graues Jackett und schwarzes Haar im Spiegel, ehe sie einen harten Stoß gegen die Brust bekam und nach hinten fiel. Mit dem Kopf knallte sie gegen die Spiegeltür des Kleiderschranks, in dem die Drahtkleiderbügel an der Stange schepperten wie Murmeln auf einem Blechdach.

Ihr Gesichtsfeld wurde an den Rändern unscharf. Das Zimmer tanzte, war nicht mehr klar zu sehen. Alice blinzelte. Sie hörte den Eindringling über den Hotelflur davonlaufen. Hinterher. Schnell.

Alice kam taumelnd wieder auf die Beine und nahm die Verfolgung auf. Sie rannte die Treppe hinunter in die Lobby, wo eine große italienische Reisegruppe ihr den Weg versperrte. Panisch suchte sie die überfüllte Lobby ab und sah so eben noch, wie der Mann durch den Seiteneingang verschwand.

Sie drängte sich durch den Wald aus Menschen und Gepäck, stieg über Koffer und Reisetaschen und sprang endlich nach draußen. Der Flüchtige war schon fast am Ende der Einfahrt. Alice bot ihre letzten Kräfte auf und rannte ihm nach, aber er war zu schnell.

Als sie die Hauptstraße erreichte, war von ihm nichts mehr zu sehen. Er war in dem Gewimmel der Touristen verschwunden, die von der Cité herunterkamen. Alice stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem. Dann richtete sie sich wieder auf und betastete ihren Hinterkopf, an dem sich bereits eine Beule bildete. Mit einem letzten Blick auf die Straße wandte Alice sich ab und ging zurück zur Rezeption. Unter Entschuldigungen schob sie sich an der Wartenden vorbei bis ganz nach vorn.

»Pardon, mais vous l'avez vu?«

Die junge Frau am Empfang wirkte entnervt. »Ich habe gleich Zeit für Sie, sobald ich mit dem Herrn hier fertig bin«, sagte sie. »So lange kann ich leider nicht warten«, sagte Alice. »Es war jemand in meinem Zimmer. Der ist hier vorbeigelaufen. Vor einer Minute.«

»Bitte, Madame, wenn Sie nur noch einen Moment Geduld hätten ...«

Alice hob die Stimme, sodass alle sie hören konnten. »Il y avait quelqu'un dans ma chambre. Un voleur.«

Schlagartig wurde es ruhig in der überfüllten Lobby. Die junge Frau machte große Augen, rutschte von ihrem Hocker und verschwand. Sekunden später erschien der Besitzer des Hotels und dirigierte Alice aus der Haupthalle heraus.

»Um was für ein Problem handelt es sich, Madame?«, fragte er leise.

Alice erklärte es ihm.

»Die Tür ist nicht aufgebrochen worden«, sagte er mit einem prüfenden Blick auf das Schloss, nachdem er sie hinaufbegleitet hatte.

Während der Hotelbesitzer von der Tür aus zusah, kontrollierte Alice, ob irgendetwas fehlte. Zu ihrer Verwunderung war dem nicht so. Ihr Pass lag noch immer unten im Kleiderschrank, wenn auch nicht mehr an derselben Stelle. Das Gleiche galt für den Inhalt ihres Rucksacks. Nichts fehlte, aber alles war irgendwie am falschen Platz. Was als Beweis für einen Einbruch wenig zählte.

Alice sah im Badezimmer nach. Und da endlich wurde sie fündig. »Monsieur, s'il vous plaît«, rief sie und zeigte auf das Waschbecken. »Regardez.«

Es roch stark nach Lavendel, denn die parfümierte Seife war in Stücke gebrochen worden. Auch ihre Zahnpastatube war aufgeschnitten und der Inhalt komplett herausgequetscht worden. »Voilà. Comme je vous ai dit.« Wie ich's Ihnen gesagt habe.

Er blickte besorgt, aber skeptisch drein. Ob Madame wünschte, dass er die Polizei rief? Er würde die anderen Gäste fragen, ob ihnen irgendetwas aufgefallen war, selbstverständlich, aber da anscheinend nichts fehlte ... ? Er sprach den Satz nicht zu Ende. Plötzlich traf sie die Erkenntnis wie ein Schock. Das war kein wahlloser Einbruch. Jemand hatte etwas ganz Bestimmtes gesucht, etwas, das man bei ihr vermutete.

Wer wusste alles, dass sie hier war? Noubel, Paul Authié, Karen Fleury und ihre Mitarbeiter, Shelagh. Sonst niemand, soweit sie wusste.

»Nein«, sagte sie rasch. »Keine Polizei. Es ist ja nichts weggekommen. Aber ich will ein anderes Zimmer haben.« Er wandte ein, das Hotel sei voll, lenkte aber ein, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah.

»Ich will sehen, was ich tun kann.«

Zwanzig Minuten später war Alice in einen anderen Teil des Hotels umquartiert worden.

Sie war nervös. Zum zweiten oder dritten Mal vergewisserte sie sich, dass Tür und Fenster verschlossen waren. Sie setzte sich aufs Bett, umgeben von ihren Sachen, und überlegte, was sie tun sollte. Sie stand auf, ging in dem kleinen Zimmer auf und ab, setzte sich wieder, stand erneut auf. Sie war noch immer unsicher, ob sie nicht doch in ein anderes Hotel umziehen sollte. Was, wenn er heute Nacht zurückkommt?

Ein Klingeln ertönte. Alice zuckte zusammen, doch dann merkte sie, dass es nur ihr Handy war, das in ihrer Jackentasche steckte. »Allo, oui?«

Es war eine Wohltat, Stephens Stimme zu hören. Er war einer von Shelaghs Kollegen bei der Ausgrabung. »Hi, Steve. Nein, tut mir Leid. Ich hatte das Handy nicht mit und hab die Mailbox noch nicht abgehört. Was ist denn los?«

Er erzählte ihr, dass die Ausgrabung geschlossen würde, und Alice erblasste.

»Aber wieso denn? Was hat Brayling denn für eine Begründung genannt?«

»Er hat gesagt, es läge nicht in seiner Hand.«

»Nur wegen der Skelette?«

»Das hat die Polizei nicht gesagt.«

Ihr Herz pochte. »War die Polizei dabei, als Brayling die Entscheidung bekannt gegeben hat?«, fragte sie.

»Ja, aber die waren auch wegen Shelagh da«, sagte er und stockte dann. »Alice, ich wollte fragen, ob du nach deiner Abfahrt noch irgendwas von ihr gehört hast?«

»Kein Wort mehr seit Montag. Ich habe gestern öfter versucht sie zu erreichen, aber sie ruft einfach nicht zurück. Warum?« Während sie auf Stephens Antwort wartete, merkte Alice, dass sie aufgestanden war.

»Sie ist irgendwie untergetaucht«, sagte er schließlich. »Brayling deutet ihr Verschwinden ziemlich negativ. Er hegt den

Verdacht, dass sie irgendwas von der Ausgrabung hat mitgehen lassen.«

»So was würde Shelagh niemals machen«, rief sie. »Ausgeschlossen. Sie gehört nicht zu der Sorte Mensch, die ...«

Doch noch während sie sprach, musste sie plötzlich an Shelaghs wütendes weißes Gesicht denken. Sie kam sich treulos vor, aber auf einmal war sie sich ihrer Sache nicht mehr so sicher. »Glaubt die Polizei das auch?«, erkundigte sie sich.

»Keine Ahnung. Das ist alles ein bisschen seltsam«, sagte er unsicher. »Einer von den Polizisten, die vor Ort waren, ist letzten Montag in Foix bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen«, sprach er weiter. »Das stand in der Zeitung. Anscheinend kannten er und Shelagh sich.«

Alice sank aufs Bett. »Entschuldige, Steve, aber ich komm da nicht mehr ganz mit. Sucht denn jemand nach ihr? Unternimmt denn überhaupt jemand irgendetwas?«

»Mir ist da ein Gedanke gekommen«, sagt er zögernd. »Ich würde es ja selbst machen, aber ich fahre morgen in aller Frühe nach Hause. Hat ja doch keinen Sinn mehr, hier rumzuhängen.«

»Was ist dir für ein Gedanke gekommen?«

»Ich weiß, dass Shelagh vor Beginn der Ausgrabung Bekannte in Chartres besucht hat. Wäre ja möglich, dass sie vielleicht wieder dahin gefahren ist und einfach vergessen hat, uns anderen Bescheid zu sagen.«

Ein bisschen abwegig, fand Alice, aber immer noch besser als nichts.

»Ich hab da angerufen. Ein junger Mann hat sich gemeldet und behauptet, er hätte Shelaghs Namen noch nie gehört, aber es war die Nummer, die sie mir gegeben hatte. Ich hatte sie in meinem Handy gespeichert.«

Alice nahm sich etwas zu schreiben. »Gib mir die Nummer. Ich kann's ja auch mal probieren«, sagte sie mit gezücktem Stift. Ihre Hand erstarrte.

»Entschuldige, Steve.« Ihre Stimme klang hohl, als spräche sie aus weiter Ferne. »Wiederhol das noch einmal.«

»Die Nummer ist 02 68 72 31 26«, sagte er erneut. »Gibst du mir Bescheid, wenn du irgendwas rausgefunden hast?«

Das war die Nummer, die Biau ihr gegeben hatte.

»Ich kümmere mich darum«, sagte sie, ohne recht zu wissen, was sie da eigentlich sagte. »Und ich melde mich bei dir.«

Alice wusste, dass sie Noubel anrufen sollte. Dass sie ihm von dem Nichtdiebstahl und von ihrer Begegnung mit Biau erzählen sollte, aber sie zögerte. Sie war nicht sicher, ob sie Noubel trauen konnte. Er hatte schließlich nichts unternommen, um Authié in die Schranken zu weisen.

Sie griff in ihren Rucksack und holte die Straßenkarte von Frankreich heraus. Das ist doch verrückt. Die Fahrt dauert mindestens acht Stunden.

Irgendetwas nagte in ihrem Unterbewusstsein. Sie nahm sich noch einmal die Notizen vor, die sie in der Bibliothek gemacht hatte.

In dem Wust von Texten über die Kathedrale in Chartres hatte sie auch einen Hinweis auf den Heiligen Gral entdeckt. Auch dort gab es ein Labyrinth. Alice fand den Absatz, nach dem sie suchte. Sie las ihn zweimal durch, um auch sicher zu sein, dass sie nichts falsch verstanden hatte, dann zog sie den Stuhl unter dem Hotelschreibtisch hervor, setzte sich mit Audric Baillards Buch hin und schlug es an der markierten Stelle auf.

 

Wieder andere sind überzeugt, dass er der letzte Ruheort des Grals war. Es wurde spekuliert, dass die Katharer nicht nur die Hüter des Kelches Christi...

 

Der Katharerschatz wurde aus Montsegur herausgeschmuggelt. Zum Pic de Soularac? Alice schlug die Karte vorn im Buch auf. Von Montsegur zu den Sabarthès-Bergen war es nicht weit. War der Schatz dort versteckt worden?

Was verbindet Chartres mit Carcassonne?

In der Ferne hörte sie erstes Donnergrollen. Das Zimmer war jetzt in ein eigenartiges orangefarbenes Licht getaucht, das von den Straßenlampen draußen kam und von den tief hängenden Nachtwolken reflektiert wurde. Wind war aufgekommen, klapperte an den Fensterläden und wirbelte Papierabfälle über den Parkplatz.

Als Alice die Vorhänge zuzog, fielen die ersten schweren Regentropfen, klatschten wie schwarze Tintenflecke auf die Fensterbank. Sie wäre am liebsten sofort aufgebrochen. Aber es war schon spät, und sie wollte bei dem Gewitter nicht mit dem Auto unterwegs sein.

Sie vergewisserte sich ein letztes Mal, dass Tür und Fenster fest verschlossen waren, dann stellte sie sich den Wecker und legte sich völlig angezogen ins Bett, um auf den Morgen zu warten.

 

Zuerst war alles wie immer. Vertraut, friedlich. Sie schwebte in der weißen, schwerelosen Welt, klar und still. Dann kam ein Ruck, als hätte sich die Falltür unter dem Galgen geöffnet, und sie fiel durch den offenen Himmel nach unten, auf die bewaldeten Berge zu, die ihr immer schneller entgegenkamen.

Sie wusste, wo sie war. Am Montsegur im Frühsommer.

Alice landete im Laufschritt, sobald ihre Füße den Boden berührten, stolperte einen steilen, holprigen Waldpfad entlang, zwischen zwei hohen Baumreihen hindurch. Die Bäume waren dicht und groß und ragten hoch über ihr auf. Sie griff nach Zweigen, um sich abzubremsen, doch ihre Hände glitten einfach hindurch, und kleine Blättchen blieben büschelweise an den Händen hängen, wie Haare aus einer Bürste, und färbten ihre Fingerspitzen grün.

Der Pfad unter ihren Füßen war abschüssig. Alice spürte das Knirschen von Steinen und Geröll, das die weiche Erde, das Moos und die Zweige von weiter oben am Berg verdrängt hatte.

Aber es gab kein einziges Geräusch. Kein Vogel sang, keine Stimme rief, nichts, nur ihr eigener hechelnder Atem.

Der Pfad schlängelte und wand sich, führte sie mal in die eine, mal in die andere Richtung, bis sie schließlich um die Biegung kam und die lautlose Feuerwand sah, die ihr den Weg versperrte. Sie hob die Hände vors Gesicht, um sich vor den lodernden, zischenden, orangeroten und gelben Flammen zu schützen, die in der Luft züngelten und wirbelten wie Schilfgras im Wasser eines Flusses.

Jetzt veränderte sich der Traum. Statt der Vielzahl von Gesichtern, die in den Flammen Gestalt annahmen, war es diesmal nur eines, eine junge Frau mit einem gütigen und zugleich auch energischen Gesichtsausdruck, die die Arme ausstreckte und Alice das Buch aus der Hand nahm.

Sie sang mit einer Stimme wie gesponnenes Silber.

»Bona nueit, bona nueit.«

Diesmal fassten keine kalten Finger nach ihren Knöcheln oder fesselten sie an die Erde. Das Feuer verlangte nicht mehr nach ihr. Dann schraubte sie sich in die Luft wie eine Rauchfahne, die dünnen, starken Arme der Frau umfingen sie, hielten sie fest. Sie war in Sicherheit.

»Braves amics, pica mieja-nueit.«

Alice lächelte, als sie zusammen immer höher und höher dem Licht entgegenstrebten und die Welt weit hinter sich ließen.


Das Verlorene Labyrinth
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