Kapitel 2

 

Alaïs spürte, wie sich ihr das Herz weitete, als sie aus dem Schatten der Wachtürme trat. Sie war frei. Zumindest für eine Weile.

Ein beweglicher Holzsteg verband das Torhaus mit der flachen Steinbrücke, über die man vom Chateau Comtal in die Straßen von Carcassonne gelangte. Auf dem Gras in dem trockenen Graben unterhalb der Brücke schimmerte der Morgentau im rötlich blauen Licht. Noch immer war der Mond zu sehen, wenn auch zunehmend blasser, da es jetzt langsam Tag wurde.

Alaïs ging so schnell, dass ihr Mantel wirbelnde Muster im Staub hinterließ, und hoffte, dass die Wachen am anderen Ende der Brücke ihr keine Fragen stellten. Sie hatte Glück. Sie dösten auf ihrem Posten, ohne sie zu bemerken. Sie hastete über die freie Fläche und tauchte in das Geflecht von engen Gassen ein. Sie wollte zu einer kleinen Ausfallpforte am Tour du Moulin d'Avar, dem ältesten Teil der Stadtmauer. Die Pforte führte direkt in die Gemüsegärten und faratjals, die Weiden, die das Land um die Cité und den nördlichen Vorort Sant-Vicens beherrschten. Um diese Tageszeit war das der schnellste und unauffälligste Weg hinunter zum Fluss.

Alaïs raffte ihre Gewänder und suchte sich einen Weg durch den Unrat, den eine weitere ausschweifende Nacht in der taberna »Sant Joan dels Evangèlis« hinterlassen hatte. Überall lagen matschige Äpfel, angebissene Birnen, abgenagte Knochen und zerbrochene Bierkrüge. Ein Stück weiter die Straße hinunter kauerte ein schlafender Bettler in einem Torweg, ein Arm lag auf dem Rücken eines riesigen, zottigen alten Hundes. Drei Männer saßen an den Brunnen gelehnt, ihr Grunzen und Schnarchen übertönte sogar die Vögel.

Der Posten an der Pforte war krank; er hustete und spuckte und hatte sich so in seinen Umhang gewickelt, dass nur die Nasenspitze und die Augenbrauen herausschauten. Er wollte nicht gestört werden. Zunächst weigerte er sich, Alaïs überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie fasste in ihren Geldbeutel und holte eine Münze heraus. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, schnappte sich der Mann mit verdreckter Hand die Münze, biss prüfend darauf, riss dann die Riegel zurück und öffnete die Pforte einen Spalt, um Alaïs durchzulassen.

 

Der Pfad hinunter zum Vorwerk war abschüssig und steinig. Er verlief zwischen den beiden hohen, mit Holzpalisaden gesicherten Schutzwällen, und der Boden war kaum zu sehen. Doch Alaïs war diesen Weg aus der Cité schon oft gegangen, kannte jede Unebenheit und kletterte ohne Schwierigkeiten abwärts. Sie ging um den gedrungenen, runden Holzturm herum, folgte dem Verlauf des schnell fließenden Wassers bis zu der Stelle, wo es sich wie in einer engen Mühlrinne durch das Vorwerk ergoss. Die Brombeersträucher zerkratzten ihre Beine, und Dornen verfingen sich in ihrem Gewand. Als sie unten ankam, war der Saum ihres Mantels schon dunkelrot, klatschnass vom Tau auf dem Gras. Die Spitzen ihrer Lederschuhe hatten sich dunkel verfärbt.

Sie spürte, wie sich ihr Geist emporschwang, sobald sie aus dem Schatten der Palisade hinaus in die weite, offene Welt trat. In der Ferne schwebte ein weißer Juli-Dunst über der Montagne Noire, und der heller werdende Himmel war jetzt von rosa und lila Streifen durchzogen.

Als sie über das vollkommene Mosaik aus Wäldern und Feldern mit Gerste, Mais und Weizen hinwegschaute, das sich weiter erstreckte, als das Auge reichte, spürte Alaïs, wie die Vergangenheit überall um sie herüm gegenwärtig wurde, sie umarmte. Geister, Freunde und Gespenster, die die Hände ausstreckten und ihr flüsternd aus ihrem Leben erzählten und ihre Geheimnisse verrieten. Sie verbanden sie mit all jenen, die schon einmal auf diesem Berg gestanden hatten - und allen, die noch hier stehen würden - und davon träumten, was das Leben ihnen bescheren mochte.

Alaïs hatte die Ländereien von Vicomte Trencavel noch nie verlassen. Sie konnte sich die grauen Städte im Norden nur schwerlich vorstellen, Paris, Amiens oder Chartres, wo ihre Mutter geboren worden war. Das waren nur Namen, Wörter ohne Farbe und Wärme, so rau wie die Sprache, die langue d'oïl, die dort gesprochen wurde. Doch obwohl sie kaum Vergleiche anstellen konnte, glaubte sie nicht, dass es irgendwo anders so schön sein konnte wie hier in der stets gleich bleibenden, zeitlosen Landschaft von Carcassonne.

Alaïs machte sich auf den Weg den Berg hinab, zwischen Gestrüpp und Dornenbüschen hindurch, bis sie das flache Marschland am Südufer der Aude erreichte. Immer wieder wickelten sich die nassen Gewänder um ihre Waden, und sie strauchelte von Zeit zu Zeit. Sie merkte, dass sie unruhig war, auf der Hut, und sie ging schneller als gewöhnlich. Es hatte nichts damit zu tun, dass Jacques oder Bérenger ihr Angst gemacht hatten, redete sie sich sein. Die beiden machten sich immer Sorgen um sie. Aber heute kam sie sich allein und verletzlich vor.

Ihre Hand glitt zu dem Messer an ihrem Gürtel, als ihr einfiel, was der Händler erzählt hatte; er wollte am anderen Ufer einen Wolf gesehen haben, erst letzte Woche. Alle hatten gedacht, er übertreibe. Um diese Jahreszeit war es wahrscheinlich nur ein Fuchs oder ein streunender Hund gewesen. Doch jetzt, wo sie allein hier draußen war, kam ihr die Geschichte glaubwürdiger vor. Der kalte Griff des Messers war beruhigend.

Einen Moment lang spielte Alaïs mit dem Gedanken umzukehren. Sei nicht so feige. Sie ging weiter. Ein paarmal fuhr sie erschrocken herum, weil sie ganz in der Nähe ein Geräusch gehört hatte, doch es war stets bloß der Flügelschlag eines Vogels oder das Platschen eines gelben Flussaals im flachen Wasser. Während sie ihrem vertrauten Pfad folgte, ließ ihre Angespanntheit allmählich nach. Die Aude war breit und flach, und etliche kleine Nebenflüsse zweigten von ihr ab, wie Venen auf einem Handrücken. Morgendunst schwebte durchscheinend über dem Wasser. Im Winter, wenn er von den eisigen Bergbächen anschwoll, hatte der Fluss eine schnelle, starke Strömung. Aber jetzt im trockenen Sommer war das Wasser niedrig und ruhig. Die Salzmühlen, die mit dicken Stricken am Ufer vertäut waren und ein hölzernes Rückgrat in der Mitte des Flusses bildeten, bewegten sich kaum in der Strömung.

Es war noch zu früh für die Fliegen und Mücken, die mit zunehmender Hitze wie eine schwarze Wolke über den Tümpeln schweben würden, also nahm Alaïs die Abkürzung durch die schlammigen Niederungen des Flusses. Der Pfad wurde von kleinen Häufchen aus weißen Steinen markiert, damit niemand in den trügerischen Schlick rutschte, und sie folgte ihm aufmerksam, bis sie den Rand des Waldes gleich unterhalb der Westmauern der Cité erreichte.

Ihr Ziel war eine kleine, abgeschiedene Lichtung, wo die besten Pflanzen an den teils überschatteten seichten Stellen wuchsen. Froh, endlich im Schutz der Bäume zu sein, verlangsamte Alaïs ihren Schritt. Sie schob die Efeuranken beiseite, die über den Pfad hingen, atmete den satten, erdigen Geruch von Laub und Moos ein.

Weit und breit war kein Mensch zu sehen, doch der Wald war erfüllt von Farben und Klängen. Das Kreischen und Zwitschern von Staren, Zaunkönigen und Finken lag in der Luft. Zweige und Blätter knackten und raschelten unter Alaïs' Füßen. Kaninchen flitzten durchs Unterholz, und ihre weißen Schwänzchen hüpften auf und nieder, wenn sie zwischen den dicht wachsenden gelben, lila und blauen Sommerblumen Deckung suchten. Hoch oben in den ausladenden Ästen der Pinien knackten Eichhörnchen die Schalen der Pinienkerne, und dünne, duftende Nadeln regneten auf den Boden.

Alaïs war müde, als sie die Lichtung erreichte, ein kleines Eiland aus Gras mit offenem Zugang zum Fluss. Erleichtert stellte sie ihren panièr auf dem Boden ab und rieb sich die Innenseite des Ellbogens, wo sich der Henkel in die Haut gedrückt hatte. Sie legte ihren schweren Mantel ab und hängte ihn über den niedrigen Ast einer Silberweide, ehe sie sich mit ihrem Taschentuch das Gesicht abwischte. Den Wein stellte sie in einen hohlen Baum, um ihn kühl zu halten.

Die schroffen Mauern des Chateau Comtal ragten über ihr auf. Die unverkennbare, hohe, dünne Silhouette des Tour Pinte hob sich schwarz vor dem blassen Himmel ab. Alaïs fragte sich, ob ihr Vater aufgestanden war, vielleicht saß er bereits mit Vicomte Trencavel in dessen Gemächern zusammen. Ihre Augen glitten nach links, am Wachturm vorbei, und suchten ihr eigenes Fenster. Schlief Guilhem noch? Oder war er inzwischen aufgewacht und hatte bemerkt, dass sie fort war?

Es erstaunte sie immer, wenn sie von hier durch den grünen Baldachin aus Blättern hinaufschaute, dass die Cité so nah war. Zwei verschiedene Welten, scharf voneinander abgegrenzt. Dort in den Straßen und den Gängen des Château Comtal herrschte Lärm und Geschäftigkeit. Dort gab es keinen Frieden. Hier unten, im Reich der Geschöpfe, die den Wald und das Marschland bewohnten, regierte eine tiefe und zeitlose Stille.

Und hier fühlte sie sich zu Hause.

Alaïs streifte ihre Lederschuhe ab. Das Gras war köstlich kühl zwischen den Zehen, noch nass vom Morgentau, und es kitzelte ihr die Fußsohlen. Die Freude des Augenblicks verdrängte alle Gedanken an die Cité und den Hof aus ihrem Kopf.

Sie ging mit ihrem Werkzeug ans Flussufer. Ein Büschel Brustwurz wuchs in dem flachen Wasser am Ufer. Die Stängel mit den kräftigen Riefen sahen aus wie eine Reihe Zinnsoldaten, die im schlammigen Untergrund strammstanden. Die hellgrünen Blätter — manche größer als ihre Hand - warfen schwache Schatten aufs Wasser.

Zum Reinigen des Blutes und zur Abwehr von Infektionen war nichts besser als Brustwurz. Esclarmonde, ihre Freundin und Mentorin, hatte ihr eingebläut, wie wichtig es war, die Ingredienzen für Breiumschläge, Arzneien und Heilmittel bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu sammeln. Denn, so sagte sie oft, auch wenn die Cité derzeit frei von ansteckenden Krankheiten war, konnte man nie wissen, was der kommende Tag bringen würde. Jederzeit konnten Seuchen oder Krankheiten ausbrechen. Wie alles andere, was Esclarmonde ihr beigebracht hatte, war auch das ein guter Rat gewesen.

Alaïs rollte die Ärmel hoch und schob die Messerscheide nach hinten auf den Rücken, wo sie nicht störte. Sie flocht ihr Haar zu einem Zopf, damit es ihr bei der Arbeit nicht ins Gesicht fiel, dann steckte sie die Röcke ihres Gewandes unter den Gürtel und stieg in den Fluss. Von der jähen Kälte an den Knöcheln bekam sie Gänsehaut und schnappte nach Luft.

Sie tauchte die Stoffstreifen ins Wasser und legte sie in einer Reihe am Ufer aus, dann fing sie an, mit ihrer Schaufel rundherum um die Wurzeln zu graben. Schon bald löste sich die erste Pflanze mit einem saugenden Geräusch aus dem Flussbett. Alaïs zog sie ans Ufer und zerhackte sie mit ihrem kleinen Beil in mehrere Teile. Sie umwickelte die Wurzeln mit Stoffstreifen und legte sie flach auf den Boden des panièr, dann wickelte sie die kleinen, gelbgrünen Blüten mit ihrem typisch pfeffrigen Geschmack in einen anderen Stoffstreifen und verstaute sie in ihrem Lederbeutel. Die Blätter und den Rest der Stängel warf sie weg, ging dann zurück ins Wasser und fing wieder von vorn an. Binnen kurzem waren ihre Hände voller grüner Flecke und die Arme schlammverschmiert.

Nachdem sie den ganzen Brustwurz abgeerntet hatte, sah Alaïs sich um, ob es noch irgendwas anderes gab, was sie gebrauchen konnte. Ein bisschen weiter flussaufwärts entdeckte sie einige Schwarzwurzpflanzen mit den seltsamen, unverkennbaren Blättern, die nach unten in den eigentlichen Stängel hineinwuchsen, und den ungleichmäßigen, glockenförmigen rosa und lila Blütentrauben. Schwarzwurz, oder Beinwell, wie die meisten sagten, eignete sich gut zur Behandlung von Prellungen und ließ Hautverletzungen und Knochenbrüche schneller heilen. Alaïs verschob ihr Frühstück noch ein wenig, nahm das Werkzeug und machte sich erneut an die Arbeit. Sie hörte erst auf, als der panier voll war und sie auch den letzten Stoffstreifen verbraucht hatte.

Sie trug den Korb die Uferböschung hinauf, setzte sich unter die Bäume und streckte die Beine von sich. Rücken, Schultern und Finger waren steif, doch sie war mit ihrer Arbeit zufrieden. Sie beugte sich vor und holte Jacques' Weinkrug aus dem kühlen hohlen Stamm. Der Stopfen löste sich mit einem sanften Plopp, und Alaïs fröstelte, als die weiche Flüssigkeit ihr über die Zunge in die Kehle rann. Dann packte sie das frische Brot aus und riss ein großes Stück davon ab. Es schmeckte nach einer eigentümlichen Mischung aus Mehl, Salz, Flusswasser und Gras, aber sie war hungrig und ließ es sich munden.

Der Himmel war jetzt blassblau, die Farbe von Vergissmeinnicht. Alaïs wusste, dass sie schon eine ganze Weile unterwegs war. Doch als sie das goldene Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche tanzen sah und den Hauch des Windes im Gesicht spürte, hatte sie noch keine Lust, in die geschäftigen, lärmenden Straßen von Carcassonne und in die Burg mit den vielen Menschen zurückzukehren. Sie sagte sich, dass ein Weilchen länger wohl nicht schaden konnte, streckte sich auf dem Gras aus und schloss die Augen.

 

Das Kreischen eines Vogels über ihr weckte sie.

Alaïs setzte sich erschrocken auf. Als sie durch das Dach aus gesprenkelten Blättern schaute, wusste sie einen Augenblick lang nicht mehr, wo sie war. Dann kam die Erinnerung wie eine Flut zurück.

Panisch sprang sie auf. Die Sonne stand jetzt hoch an einem wolkenlosen Himmel. Sie war schon viel zu lange weg. Sie wurde bestimmt bereits vermisst.

Hastig packte Alaïs alles zusammen, spülte das Werkzeug nur flüchtig im Fluss ab und besprenkelte die Stoffstreifen mit Wasser, um ihre Ernte frisch zu halten. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr Blick auf etwas fiel, das sich im Schilf verfangen hatte. Es sah aus wie ein Baumstumpf oder ein Stamm. Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab und fragte sich, wieso er ihr nicht schon früher aufgefallen war.

Es bewegte sich zu leicht, zu träge in der Strömung, um aus etwas so Starrem wie Rinde oder Holz zu sein. Alaïs ging ein paar Schritte darauf zu.

Jetzt konnte sie sehen, dass es irgendein schweres, dunkles Material war, vom Wasser aufgebläht. Nach kurzem Zögern obsiegte ihre Neugier, und sie stieg erneut ins Wasser. Diesmal watete sie über den seichten Uferbereich hinaus in das tiefere Wasser, das schnell und dunkel in der Mitte des Flusses dahinströmte. Je weiter sie ging, desto kälter wurde es. Alaïs hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sie grub die Zehen tief in den saugenden Matsch, und das Wasser spritzte an ihren dünnen weißen Schenkeln hoch, benetzte die Röcke.

Als sie etwas mehr als den halben Weg zum anderen Ufer zurückgelegt hatte, blieb sie mit klopfendem Herzen stehen, die Hände plötzlich schwitzig vor Angst, denn jetzt konnte sie mehr erkennen.

»Payre sant.« Heiliger Vater. Die Worte kamen ihr unwillkürlich über die Lippen.

Der Körper eines Mannes trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und sein Mantel wogte um ihn herum. Alaïs schluckte trocken. Es war ein brauner Samtmantel mit hohem Kragen, der mit schwarzem Seidenband besetzt und mit Goldfäden gesäumt war. Sie bemerkte ein goldenes Schimmern unter Wasser, eine Kette oder ein Armband. Der Kopf des Mannes war unbedeckt, sodass sie erkennen konnte, dass sein Haar lockig und schwarz war, mit grauen Strähnen. Er schien irgendetwas um den Hals zu tragen, vielleicht eine rote Borte oder ein Band.

Sie ging noch einen Schritt näher. Ihr erster Gedanke war, dass der Mann im Dunkeln ausgerutscht, in den Fluss gestürzt und ertrunken war. Sie wollte gerade die Hand ausstrecken, als irgendetwas an der Art, wie der Kopf des Mannes im Wasser dümpelte, sie innehalten ließ. Sie holte tief Luft, gebannt vom Anblick des aufgedunsenen Körpers. Sie hatte schon einmal einen Ertrunkenen gesehen. Der Seemann war aufgequollen und entstellt gewesen, seine fleckige Haut bläulich lila verfärbt, wie eine abklingende Prellung. Das hier war anders, war falsch. Dieser Mann sah aus, als hätte das Leben ihn bereits verlassen, ehe er ins Wasser gefallen war. Die leblosen Hände waren vor ihm ausgestreckt, als wollte er schwimmen. Der linke Arm trieb von der Strömung getragen auf sie zu. Ihr Blick fiel auf etwas Helles, etwas Buntes gleich unter der Oberfläche.

Alaïs merkte, wie ihre Knie nachgaben.

Alles schien sich zu verlangsamen, schwankte und wankte wie die Oberfläche einer stürmischen See. Die ungleichmäßige rote Linie, die sie für eine Halskette oder ein Band gehalten hatte, war eine klaffende, tiefe Wunde. Sie begann hinter dem linken Ohr und reichte bis unters Kinn, hätte fast den Kopf vom Körper getrennt. Hautfetzen, schon grünlich verfärbt, wehten von der Wunde im Wasser. An der gesamten Länge des Schnitts taten sich kleine silbrige Fische und schwarze, fette Blutegel gütlich.

Einen Augenblick lang dachte Alaïs, ihr Herz hätte aufgehört zu schlagen. Dann wurde sie gleichermaßen von Entsetzen und Furcht übermannt. Sie fuhr herum und lief zurück durch das Wasser, wobei sie immer wieder im Schlamm ausglitt, doch instinktiv wollte sie möglichst viel Abstand zwischen sich und die Leiche bringen. Sie war bereits von der Taille abwärts nass, und ihr Gewand, vom Wasser schwer und aufgebläht, schlang sich ihr um die Beine, riss sie fast um.

Der Fluss kam ihr plötzlich doppelt so breit vor, aber sie lief weiter, schaffte es zurück ans sichere Ufer, wo ihr plötzlich so schlecht wurde, dass sie sich heftig übergeben musste. Wein, unverdautes Brot, Flusswasser.

Halb kriechend schleppte sie sich auf allen vieren weiter, bis sie sich schließlich die Böschung hochziehen konnte und im Schatten der Bäume zusammensank. Ihr drehte sich alles, ihr Mund war trocken und wund, aber sie musste einfach weiter. Alaïs versuchte aufzustehen, doch ihre Beine fühlten sich wie ausgehöhlt an und konnten sie nicht tragen. Sie unterdrückte die Tränen, wischte sich mit dem Rücken ihrer zitternden Hand über den Mund und versuchte es erneut, stützte sich am Stamm eines Baumes ab.

Diesmal hielt sie sich auf den Beinen. Mit bebenden Fingern zog sie den Mantel von dem Ast, schaffte es, ihre verdreckten Füße in die Schuhe zu schieben. Dann ließ sie alles andere liegen und rannte zurück durch den Wald, als wäre der Teufel selbst ihr auf den Fersen.

 

Die Hitze traf Alaïs, sobald sie unter den Bäumen hervor aufs offene Marschland kam. Die Sonne brannte ihr auf Wangen und Nacken. Stechfliegen und Mücken schwärmten über den stehenden Tümpeln, die den Pfad säumten, auf dem Alaïs dahinstolperte, immer weiter durch die unwirkliche Landschaft.

Die erschöpften Beine wollten ihr schon fast den Dienst versagen, und ihr Atem hechelte ihr heiß und stoßweise in Kehle und Brust. Aber sie lief weiter und weiter, getrieben von dem einzigen Gedanken, die Leiche möglichst weit hinter sich zu lassen und ihren Vater zu informieren.

Statt denselben Weg zu nehmen, den sie gekommen war und der möglicherweise verschlossen war, eilte sie instinktiv nach

Sant-Vicens und zur Porte de Rodez, die den Vorort mit Carcas- sonne verband.

Die Straßen waren belebt, und Alaïs musste sich durch die Menschen drängen. Der Lärm und das Gewimmel nahmen zu, wurden immer aufdringlicher, je näher sie der Cité kam. Alaïs versuchte ihre Ohren zu verschließen und nur daran zu denken, dass sie zum Tor musste. Sie betete, dass ihre schwachen Beine durchhielten, als sie sich durch die Menschenmenge schob.

Eine Frau klopfte ihr auf die Schulter.

»Euer Kopf«, sagte sie ruhig. Ihre Stimme war freundlich, schien aber von weit her zu kommen.

Alaïs bemerkte erst jetzt, dass ihr langes Haar lose und zerzaust herabhing, und sie zog sich rasch den Mantel über die Schultern und schlug die Kapuze über den Kopf. Ihre Hände bebten, vor Erschöpfung wie vor Entsetzen. Sie schob sich weiter nach vorne, raffte den Stoff fester um sich, um die Schlammspritzer und Flecken von Erbrochenem und grünem Flussgras an ihrem Gewand zu verbergen.

Alle drängelten und stießen und riefen durcheinander, und Alaïs fürchtete schon, ohnmächtig zu werden. Sie streckte eine Hand aus und stützte sich an der Mauer ab. Die Wachen an der Porte de Rodez winkten die meisten Einheimischen anstandslos durch, hielten jedoch Vagabunden und Bettler, Zigeuner, Sarazenen und Juden auf, fragten sie, was sie in Carcassonne wollten, durchsuchten ihre Habe ruppiger als nötig, bis kleine Münzen oder Krüge mit Bier den Besitzer wechselten. Dann wandten sie sich dem nächsten Opfer zu.

Sie ließen Alaïs durch, ohne sie richtig wahrgenommen zu haben.

Die engen Straßen der Cité waren jetzt überfüllt mit fahrenden Händlern, Kaufleuten, Vieh, Soldaten, Hufschmieden, jongleurs, Ehefrauen der Consuln mit ihren Dienern, Priestern. Um nicht erkannt zu werden, hielt Alaïs den Kopf gesenkt, als kämpfe sie gegen einen schneidenden Nordwind an.

Endlich erblickte sie die vertraute Silhouette des Tour du Major, auf den der Tour des Casernes und die Zwillingstürme des Osttores folgten, als das Chateau Comtal in Sicht kam. Erleichterung durchfuhr sie. Heiße Tränen schossen ihr in die Augen. Wütend über ihre Schwäche biss sich Alaïs so fest auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. Sie schämte sich für ihre Verstörtheit und nahm sich vor, nicht noch mehr Schwäche zu zeigen, indem sie vor aller Augen weinte und ihren mangelnden Mut offenbarte.

Sie wollte nur noch zu ihrem Vater.


Das Verlorene Labyrinth
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