Kapitel 76

 

Oriane hatte ihr Leben der Suche nach dem Buch der Wörter gewidmet.

Nach dem Fall Carcassonnes war ihr Gemahl mit ihr nach Chartres gezogen, wo er recht bald die Geduld verlor, als sie ihm nicht die Beute verschaffen konnte, für die er sie bezahlt hatte. Liebe hatte es zwischen ihnen ohnehin nicht gegeben, und als sein Begehren erstarb, traten seine Faust und sein Gürtel an die Stelle von Worten.

Sie erduldete seine Schläge und sann unablässig darüber nach, wie sie sich an ihm rächen würde. Aber je mehr seine Besitzungen und sein Reichtum wuchsen und je größer sein Einfluss auf den französischen König wurde, desto mehr richtete er sein Augenmerk auf andere lohnende Ziele. Er ließ sie in Ruhe. Endlich konnte Oriane ihre Suche wieder aufnehmen, und sie baute im Midi ein Netzwerk von Spitzeln auf, die ihr unablässig Informationen beschafften.

Erst ein einziges Mal war es Oriane fast gelungen, Alaïs' habhaft zu werden. Im Mai 1234 hatte sie erfahren, dass ihre Schwester in Toulouse festgenommen worden war, doch als sie aus Chartres anreiste, musste sie erfahren, dass irgendwer die Wachen bestochen hatte und Alaïs erneut verschwunden war, wie vom Erdboden verschluckt.

Ein solcher Fehler würde ihr nicht noch einmal unterlaufen, das hatte Oriane sich geschworen. Als ihr diesmal Gerüchte über eine Frau im entsprechenden Alter mit dem passenden Aussehen zu Ohren kamen, hatte Oriane den Kreuzzug zum Vorwand genommen und war mit einem ihrer Söhne erneut in den Süden gereist.

Heute Morgen hatte sie geglaubt, das Buch im roten Morgenlicht verbrennen zu sehen. Dem Ziel so nah zu sein und es doch nicht zu erreichen hatte sie derart in Wut versetzt, dass weder ihr Sohn Louis noch ihre Diener sie besänftigen konnten. Doch irgendwann im Laufe des Nachmittags hatte Oriane ihre Deutung der morgendlichen Ereignisse noch einmal überdacht. Wenn sie tatsächlich Alaïs gesehen hatte - und selbst das bezweifelte sie jetzt -, war es dann überhaupt wahrscheinlich, dass ihre Schwester das Buch der Wörter ausgerechnet auf einem Scheiterhaufen der Inquisition verbrennen lassen würde? Oriane beantwortete die Frage mit Nein. Sie ließ ihre Diener im Lager Erkundigungen einziehen und erfuhr, dass Alaïs eine Tochter von neun oder zehn Jahren hatte, deren Vater ein Soldat im Dienste von Pierre-Roger de Mirepoix war. Oriane glaubte nicht, dass ihre Schwester einen so kostbaren Gegenstand einem Angehörigen der Garnison anvertraut hätte. Die Soldaten würden alle durchsucht. Aber ein Kind?

Oriane wartete, bis es dunkel war, dann begab sie sich zu dem Bereich, wo die Frauen und Kinder festgehalten wurden. Mit etwas Geld erkaufte sie sich den Zugang in den Pferch. Keiner stellte sie zur Rede. Sie spürte die tadelnden Blicke der Dominikaner auf sich, als sie an ihnen vorbeiging, aber sie störte sich nicht an deren schlechter Meinung über sie.

Ihr Sohn Louis tauchte vor ihr auf, und sein arrogantes Gesicht war vor Aufregung gerötet. Er war stets auf Anerkennung erpicht, wollte ihr immerzu gefallen.

»Oui?«, fauchte sie. »Qu'est-ce que tu veux?«

»Il y a une fille que vous devez voir, maman.«

Oriane folgte ihm zur gegenüberliegenden Seite des Geheges, wo ein schlafendes Mädchen etwas abseits von den anderen lag. Die Ähnlichkeit mit Alaïs war verblüffend. Wenn man den Altersunterschied außer Acht ließ, hätte das Kind ihre Zwillingsschwester sein können. Die Kleine hatte auch die gleiche Entschlossenheit im Gesicht wie Alaïs in dem Alter.

»Lass mich allein«, sagte sie. »Sie wird mir nicht vertrauen, wenn du dabei bist.«

Louis zog ein langes Gesicht, was sie nur noch mehr reizte. »Geh schon«, zischte sie und wandte ihm den Rücken zu. »Los, mach die Pferde bereit. Ich kann dich hier nicht gebrauchen.«

Als er fort war, kauerte Oriane sich nieder und berührte das Mädchen am Arm.

Sofort erwachte die Kleine und setzte sich mit vor Angst hellen Augen auf.

»Wer seid Ihr?«

»Una amiga«, sagte sie in der Sprache, die sie seit dreißig Jahren nicht mehr benutzt hatte. »Eine Freundin.«

Bertrande rührte sich nicht. »Ihr seid Französin«, sagte sie starrköpfig und musterte Orianes Kleidung und Frisur. »Ihr wart nicht in der Zitadelle.«

»Das stimmt«, sagte Oriane, bemüht, geduldig zu klingen, »aber ich bin in Carcassona geboren, genau wie deine Mutter. Wir sind gemeinsam im Chateau Comtal aufgewachsen. Ich kannte sogar deinen Großvater, Intendant Pelletier. Alaïs hat doch bestimmt oft von ihm erzählt.«

»Ich bin nach ihm benannt worden«, kam prompt die Antwort. Oriane unterdrückte ein Lächeln. »Schön, Bertrande. Ich bin gekommen, um dich von hier wegzubringen.«

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Aber Sajhë hat gesagt, ich soll hier warten, bis er mich holen kommt«, sagte sie schon etwas weniger argwöhnisch. »Er hat gesagt, ich soll mit niemandem mitgehen.«

»Das hat Sajhë gesagt?«, fragte Oriane lächelnd. »Nun, zu mir hat er gesagt, dass du schon sehr gut auf dich selbst aufpassen kannst und dass ich dir etwas zeigen soll, um dein Vertrauen zu gewinnen.«

Oriane zeigte ihr den Ring, den sie von der toten Hand ihres Vaters gestohlen hatte. Wie erwartet, erkannte Bertrande ihn und griff danach.

»Und den hat Sajhë Euch gegeben?«

»Ja. Schau ihn dir gut an.«

Bertrande drehte den Ring um und untersuchte ihn gründlich. Dann stand sie auf.

»Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht«, sagte sie stirnrunzelnd. »Aber ...«

»Ja?« Bertrande schaute zu ihr hoch.

»Er hat gesagt, ich soll dich nach Hause bringen. Ist das weit?«, fragte Oriane möglichst beiläufig.

»Ein Tagesritt, um diese Jahreszeit vielleicht ein bisschen länger.«

»Und hat das Dorf auch einen Namen?«, fragte sie leichthin. »Los Seres«, antwortete Bertrande, »aber Sajhë hat gesagt, ich soll das den Inquisitoren nicht verraten.«

Die Noublesso de los Seres. Nicht bloß der Name der Gralshüter, sondern auch der Ort, wo der Gral zu finden war. Oriane biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzulachen.

»Zuerst entfernen wir das einmal«, sagte sie, beugte sich vor und riss Bertrande das gelbe Kreuz vom Rücken. »Sonst denkt noch jemand, dass wir weggelaufen sind. So, hast du irgendwelche Sachen, die du mitnehmen willst?«

Falls das Mädchen das Buch bei sich hatte, wäre die Suche gleich hier zu Ende.

Bertrande schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Also gut. Dann sei jetzt schön leise. Wir wollen ja nicht auffallen.«

Das Mädchen war zwar noch immer auf der Hut, aber während sie durch das schlafende Lager gingen, erzählte Oriane von Alaïs und dem Château Comtal. Sie war liebenswert, überzeugend und aufmerksam. Und nach und nach konnte sie das Mädchen für sich gewinnen.

Am Tor drückte Oriane dem Wachmann erneut eine Münze in die Hand und führte Bertrande dann zu der Stelle am Rande des Lagers, wo ihr Sohn, Louis d'Evreux, bereits mit sechs berittenen Soldaten und einem geschlossenen Karren wartete. »Kommen die alle mit?«, fragte Bertrande, plötzlich wieder misstrauisch.

Oriane lächelte, als sie das Kind in die caleche hob. »Die sollen uns vor Wegelagerern schützen. Sajhë würde es mir nie verzeihen, wenn dir in meiner Obhut etwas zustieße.«

Sobald Bertrande auf dem Karren verstaut war, wandte Oriane sich an ihren Sohn.

»Was ist mit mir?«, fragte er. »Ich möchte Euch begleiten.«

»Du musst hier bleiben«, sagte sie ungeduldig, weil sie möglichst schnell aufbrechen wollte. »Du bist schließlich, wenn ich dich daran erinnern darf, Angehöriger der Armee. Du kannst nicht einfach verschwinden. Es ist leichter und einfacher für uns alle, wenn ich allein reise.«

»Aber ...«

»Tu, was ich dir sage«, sagte sie leise, damit Bertrande sie nicht hören konnte. »Kümmere dich hier um unsere Interessen. Erledige das mit dem Vater des Mädchens, wie wir es besprochen haben. Den Rest überlass mir.«

 

Guilhem hatte nur noch den einen Gedanken, Oriane zu finden. Er war nach Montsegur gekommen, um Alaïs zu helfen und Oriane daran zu hindern, ihr etwas anzutun. Fast dreißig Jahre lang hatte er aus der Ferne über sie gewacht.

Jetzt war Alaïs tot, und er hatte nichts mehr zu verlieren. Sein Wunsch nach Rache war mit den Jahren immer stärker geworden. Er hätte Oriane töten sollen, als er die Chance gehabt hatte. Jetzt würde er die Gelegenheit nicht noch einmal verpassen. Guilhem schlich sich durch das Lager der Kreuzfahrer, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bis er das Grün und Silber von Orianes Zelt erblickte.

Drinnen waren Stimmen zu hören. Französische. Ein junger Mann erteilte Befehle. Guilhem fiel der junge Bursche wieder ein, der neben Oriane auf der Tribüne gesessen hatte, ihr Sohn, und er drückte das Ohr an die Zeltwand.

»Er ist ein Soldat der Garnison«, sagte Louis d'Evreux mit seiner arroganten Stimme. »Heißt Sajhë de Servian. Der Bursche, der vorhin so viel Ärger gemacht hat. Diese Bauern aus dem Süden«, spie er verächtlich aus. »Selbst wenn man sie gut behandelt, benehmen sie sich wie die Tiere.« Er lachte kurz auf. »Man hat ihn in den Pferch neben dem Zelt von Hugues des Arcis gesperrt, getrennt von den anderen Gefangenen, damit er die nicht auch noch aufwiegelt.«

Louis' Stimme wurde leiser, und Guilhem konnte ihn kaum noch verstehen. »Das ist für dich«, sagte er. Guilhem hörte das Klimpern von Münzen. »Die Hälfte jetzt. Falls der Bauer noch lebt, löse das Problem. Den Rest bekommst du, wenn du die Sache erledigt hast.«

Guilhem wartete, bis der Soldat herauskam, dann schlüpfte er durch den unbewachten Eingang.

»Ich hab doch gesagt, ich will nicht gestört werden«, sagte Louis d'Evreux barsch, ohne sich umzudrehen. Guilhems Messer war so schnell an seiner Kehle, dass er nicht mehr dazu kam, einen Schrei auszustoßen.

»Wenn du einen Laut von dir gibst, bist du ein toter Mann«, zischelte Guilhem.

»Nimm, was du willst, nimm, was du willst. Tu mir nichts.« Guilhem schaute sich in dem luxuriösen Zelt um, sah die edlen Teppiche und warmen Decken. Oriane hatte den Reichtum und das Ansehen erreicht, wonach sie sich immer gesehnt hatte. Er hoffte, dass sie nicht glücklich damit geworden war.

»Wie heißt du?«, fragte er mit tiefer, bedrohlicher Stimme. »Louis d'Evreux. Ich weiß nicht, wer du bist, aber meine Mutter wird ...«

Guilhem riss seinen Kopf nach hinten. »Spar dir deine Drohungen. Du hast deine Wachen weggeschickt, schon vergessen? Es ist niemand hier, der dich hören könnte.« Er drückte die Klinge fester gegen die blasse nordfranzösische Haut des jungen Mannes. D'Evreux erstarrte. »Schon besser. Also. Wo ist Oriane? Wenn du nicht antwortest, schneide ich dir die Kehle durch.« Guilhem spürte seine Verblüffung, als Orianes Name fiel, doch die Angst löste seine Zunge. »Sie ist weg, mit einem Mädchen, aus dem Gehege, wo die Frauen festgehalten werden«, stammelte er.

»Stiehl mir nicht meine Zeit, nenon«, sagte Guilhem und bog d'Evreux' Hals noch weiter nach hinten. »Was für ein Mädchen? Was will Oriane von der Kleinen?«

»Das Kind einer Häretikerin. Der Schwester meiner Mutter«, sagte er, als wären die Worte Gift in seinem Mund. »Meiner Tante. Meine Mutter wollte sie sehen.«

»Alaïs«, flüsterte Guilhem fassungslos. »Wie alt ist das Kind?« Er konnte die Angst auf d'Evreux' Haut riechen. »Woher soll ich das wissen? Neun, zehn.«

»Und der Vater? Ist er auch gestorben?«

D'Evreux versuchte sich zu bewegen. Guilhem erhöhte den Druck auf den Hals und drehte die Klinge so, dass die Spitze unter d'Evreux' linkem Ohr lag.

»Er ist ein Soldat, einer von Pierre-Roger de Mirepoix' Männern.«

Guilhem begriff sofort. »Und du hast gerade einen von deinen Leuten losgeschickt, dafür zu sorgen, dass der Mann den Sonnenaufgang nicht mehr erlebt«, sagte er.

Guilhems Dolchklinge blitzte, als das Licht der Kerze darauf fiel. »Wer bist du?«

Guilhem antwortete nicht. »Wo ist dein Vater? Warum ist er nicht hier?«

»Mein Vater ist tot«, sagte er. In seiner Stimme schwang keine Trauer, nur eine Art prahlerischer Stolz, den Guilhem sich nicht erklären konnte. »Ich bin jetzt Herr über die Besitzungen der d'Evreux.«

Guilhem lachte. »Wohl eher deine Mutter.«

Louis d'Evreux zuckte zusammen, als wäre er geohrfeigt worden.

»Also, Herr d'Evreux«, knurrte er verächtlich, »was hat Eure Mutter mit der Kleinen vor?«

»Was spielt das für eine Rolle? Sie ist das Kind von Häretikern. Man hätte sie alle verbrennen sollen.«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, spürte Guilhem, dass d'Evreux seine Unbeherrschtheit bereute, aber es war zu spät. Guilhem bog den Arm und zog das Messer von einem Ohr zum anderen, schlitzte dem jungen Mann die Kehle auf.

»Per lo Miegjorn«, sagte er. Für den Midi.

Das Blut spritzte stoßweise auf die edlen Teppiche. Guilhem nahm seinen Arm weg, und d'Evreux fiel nach vorn.

»Wenn dein Diener rasch zurückkommt, überlebst du es vielleicht. Wenn nicht, bete lieber, dass Gott dir deine Sünden vergibt.«

Guilhem zog sich die Kapuze wieder über den Kopf und lief nach draußen. Er musste Sajhë de Servian finden, bevor es d'Evreux' Mann gelang.

 

Die kleine Reisegruppe kam nur langsam voran.

Oriane bedauerte bereits, dass sie die caleche genommen hatte. Zu Pferd wären sie schneller gewesen. Die Holzräder rumpelten über Steine und den hart gefrorenen Boden.

Sie mieden die Hauptwege, die aus dem Tal herausführten und noch immer von Wachen gesichert wurden, und hielten sich in den ersten Stunden Richtung Süden. Dann, als die winterliche Dämmerung endgültig von der Nacht verdrängt wurde, bogen sie nach Südosten.

Bertrande schlief. Sie hatte sich den Mantel über den Kopf gezogen, um vor dem schneidenden Wind geschützt zu sein, der unter der Plane hindurchpfiff, die über den Karren gespannt war. Ihr endloses Geplapper war Oriane auf die Nerven gegangen. Sie hatte sie mit Fragen nach Carcassonne in der guten alten Zeit, vor dem Krieg, bestürmt.

Oriane gab ihr Gebäck und Zucker zu essen und flößte ihr gewürzten Wein ein, der mit einem so starken Schlafmittel versetzt war, dass es einen erwachsenen Mann für mehrere Tage außer Gefecht gesetzt hätte. Endlich hörte das Kind auf zu reden und fiel in einen tiefen Schlummer.

 

»Aufwachen!«

Sajhë hörte eine Stimme. Von einem Mann. Ganz in der Nähe. Er versuchte sich zu bewegen. Schmerzen schossen ihm durch den ganzen Körper. Hinter den Augen zuckten bläuliche Blitze. »Aufwachen!« Diesmal war die Stimme eindringlicher.

Sajhë fuhr zusammen, als etwas Kaltes gegen sein malträtiertes Gesicht gedrückt wurde, eine Wohltat auf der Haut. Langsam kehrte die Erinnerung zurück, an die fürchterlichen Schläge auf seinen Kopf, seinen ganzen Körper.

War er tot?

Dann fiel es ihm wieder ein. Irgendwer weiter unten am Hang hatte den Soldaten Einhalt geboten, und seine Angreifer hatten sogleich von ihm abgelassen. Irgendwer, ein Kommandeur, hatte Befehle auf Französisch gebrüllt. Dann hatten sie ihn nach unten geschleift.

Vielleicht war er doch nicht tot.

Wieder versuchte Sajhë sich zu bewegen. Er spürte etwas Hartes im Rücken. Dann merkte er, dass seine Schultern straff nach hinten gezogen waren. Er wollte die Augen öffnen, aber eines war gänzlich zugeschwollen, und auch das andere bekam er kaum auf. Dafür aber waren seine anderen Sinne jetzt hellwach. Er nahm die Bewegung von Pferden in der Nähe wahr, das Stampfen der Hufe auf dem Boden. Er konnte das Geräusch des Windes hören, die Schreie der Nachtschwalben und einer einsamen Eule.

Das waren Klänge, die er einordnen konnte.

»Könnt Ihr die Beine bewegen?«, fragte der Mann.

Erstaunt stellte Sajhë fest, dass es ging, obwohl es schrecklich wehtat. Einer der Soldaten hatte ihm mit voller Wucht auf den Knöchel getreten, als er schon auf dem Boden lag.

»Meint Ihr, Ihr könnt reiten?« .

Sajhë sah, wie der Mann hinter ihn trat und die Stricke durchtrennte, mit denen seine Arme an den Pfahl gebunden waren, und er merkte, dass er ihm irgendwie bekannt vorkam. Etwas an der Stimme, an der Haltung des Kopfes war ihm vertraut.

Sajhë kam taumelnd auf die Beine.

»Wem verdanke ich diese Freundlichkeit?«, fragte er, während er sich die Handgelenke rieb. Und plötzlich wusste er es. Sajhë sah sich wieder als elfjährigen Jungen, wie er auf der Suche nach Alaïs auf den Mauern des Chateau Comtal an den Zinnen entlangkletterte. Wie er am Fenster lauschte und Lachen hörte, das der Wind nach draußen trug. Eine Männerstimme, die sprach und neckte.

»Guilhem du Mas«, sagte er langsam.

Guilhem hielt inne und sah Sajhë verblüfft an. »Kennen wir uns, mein Freund?«

»Ihr werdet Euch nicht erinnern«, sagte Sajhë und konnte es kaum ertragen, ihm ins Gesicht zu sehen. »Sagt mir, amic«, er betonte das Wort. »Was wollt Ihr von mir?«

»Ich bin gekommen, um ...« Guilhem war verwundert über den feindseligen Unterton. »Ihr seid doch Sajhë de Servian?«

»Was geht Euch das an?«

»Es geht um Alaïs, die wir beide ...« Guilhem verstummte und rang um Fassung. »Ihre Schwester Oriane ist hergekommen, mit einem ihrer Söhne. Er gehört zur Armee der Kreuzfahrer. Oriane ist hinter dem Buch her.«

Sajhë starrte ihn an. »Was für ein Buch?«, fragte er streitlustig. Guilhem ließ sich nicht beirren. »Oriane hat erfahren, dass Ihr eine Tochter habt. Sie hat sie mitgenommen. Ich weiß nicht, wo sie mit ihr hinwill, aber sie hat das Lager in der Dämmerung verlassen. Das wollte ich Euch sagen und meine Hilfe anbieten.« Er erhob sich. »Aber wenn Ihr sie nicht wollt ...«

Sajhë spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. »Wartet!«, rief er.

»Wenn Ihr Eure Tochter lebend Wiedersehen wollt«, sagte Guil- hem ruhig, »dann rate ich Euch, dass Ihr Euren Groll gegen mich vergesst, welchen Grund er auch immer haben mag.«

Guilhem streckte Sajhë eine Hand hin.

»Könnt Ihr Euch denken, wo Oriane sie hinbringen will?«

Sajhë starrte den Mann an. Er hatte ihn sein Leben lang gehasst, doch Alaïs und ihrer Tochter zuliebe ergriff er die dargebotene Hand.

»Sie hat einen Namen«, sagte er. »Sie heißt Bertrande.«


Das Verlorene Labyrinth
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