Kapitel 71
Montsegur
Marc 1244
Alaïs stand auf den Mauern der Zitadelle von Montsegur, eine schlanke, einsame Gestalt in ihrem dicken Wintermantel. Mit den Jahren war sie schön geworden. Sie war schmächtig, aber ihr Gesicht, ihr Hals, ihre Haltung waren voller Anmut. Sie blickte nach unten auf ihre Hände. Im frühen Morgenlicht sahen sie blau aus, fast durchsichtig.
Die Hände einer alten Frau.
Alaïs lächelte. Nicht alt. Noch immer jünger als ihr Vater, als er starb.
Das Licht war weich, als die aufgehende Sonne versuchte, der Welt ihre Form zurückzugeben und die Silhouetten der Nacht zu verscheuchen.
Alaïs blickte über die dunklen Nadelwälder auf der Ostflanke des Berges hinweg auf die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, die sich bis zum blassen Horizont hin hoben und senkten. Frühmorgendliche Wolken zogen über die schroffen Hänge des Pic de Sant-Bartelemy. Und dahinter konnte sie schon beinahe den Pic de Soularac erkennen.
Sie dachte an ihr schlichtes und gastfreundliches Haus, das in die Falten des Berges eingebettet lag. Sie erinnerte sich an den Rauch, der sich an einem kalten Morgen wie jetzt aus dem Schornstein kringelte. In den Bergen kam der Frühling spät, und es war ein harter Winter gewesen, aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Sie erkannte seine Verheißung schon in dem rosa Hauch des Himmels in der Dämmerung. In Los Seres würden die Bäume bald anfangen zu knospen. Und im April würden die Bergwiesen wieder übersät sein mit zarten blauen, weißen und gelben Blüten.
Weit unten konnte Alaïs die übrig gebliebenen Häuser des Dorfes von Montsegur ausmachen, die wenigen Hütten und Katen, die nach zehn Monaten Belagerung noch standen. Die baufällige Ansammlung war umgeben von den Fahnen und Zelten der französischen Armee, verstreute Nadelstiche aus Farbe und flatternden, an den Rändern ausgefransten Bannern. Sie hatten unter dem harten Winter ebenso leiden müssen wie die Bewohner der Zitadelle.
Am Westhang, unten am Fuße des Berges, stand eine hölzerne Palisade. Schon seit Tagen bauten die Belagerer daran. Gestern hatten sie in der Mitte eine Reihe von Pfählen errichtet, ein gekrümmtes hölzernes Rückgrat, und um jeden Pfosten herum war Reisig und Stroh aufgehäuft. In der Dämmerung hatte sie gesehen, wie sie ringsum Leitern aufgestellt hatten.
Ein Scheiterhaufen für die Häretiker.
Alaïs fröstelte. In wenigen Stunden würde es vorbei sein. Sie hatte keine Angst vor dem Sterben, wenn ihre Zeit gekommen war. Aber sie hatte zu viele Menschen verbrennen sehen, um sich der Illusion hinzugeben, dass der Glaube ihnen Schmerzen ersparen würde. Für alle, die es wünschten, hatte Alaïs Arzneien zubereitet, die das Leiden lindern sollten. Die meisten jedoch wollten ohne derlei Hilfen aus dieser Welt scheiden.
Die rötlichen Steine unter ihren Füßen waren schlüpfrig vom Frost. Alaïs malte mit der Schuhspitze das Muster des Labyrinths auf den frischen weißen Boden. Sie war nervös. Wenn ihre List gelang, würde das Buch der Wörter endgültig vor Oriane in Sicherheit sein. Schlug sie fehl, hatte sie das Leben der Menschen, die ihr all die Jahre Schutz gewährt hatten - die Glaubensbrüder und -schwestern ihres Vaters und Esclarmondes —, für den Gral aufs Spiel gesetzt.
Der Gedanke an die Folgen war grauenhaft.
Alaïs schloss die Augen und versetzte sich die vielen Jahre zurück in die Labyrinth-Höhle. Harif, Sajhë, sie selbst. Sie erinnerte sich an die weiche Liebkosung der Luft auf ihren nackten Armen, das Flackern der Kerzen, die schönen Stimmen, die sich in die Luft erhoben. Das Gefühl, als sie die Worte aussprach, so lebendig, als könnte sie sie auf der Zunge schmecken.
Alaïs erschauderte bei dem Gedanken an den Augenblick, als sie endlich verstand und die Beschwörung wie von allein über ihre Lippen kam. Dieser eine Augenblick der Ekstase, der Erleuchtung, als alles, was je geschehen war, und alles, was je geschehen würde, eins wurde, als der Gral zu ihr herabstieg.
Und durch ihre Stimme und ihre Hände zu ihm.
Alaïs keuchte auf. Gelebt und solche Erfahrungen gemacht zu haben.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Alaïs öffnete die Augen und ließ die Vergangenheit verhallen. Sie wandte sich um und sah Bertrande vorsichtig über die schmale Brustwehr auf sie zukommen. Alaïs lächelte und hob die Hand zur Begrüßung.
Ihre Tochter war nicht so ernst, wie Alaïs es in dem Alter gewesen war. Doch vom Aussehen her war Bertrande ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Das gleiche herzförmige Gesicht, der gleiche offene Blick und das lange braune Haar. Ohne Alaïs' graue Strähnen und die Fältchen um die Augen hätten sie fast Schwestern sein können.
Wie sehr ihr das Warten zusetzte, stand ihrer Tochter ins Gesicht geschrieben.
»Sajhë sagt, die Soldaten kommen«, sagte sie mit unsicherer Stimme.
Alaïs schüttelte den Kopf. »Die kommen erst morgen«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Und bis dahin haben wir noch viel zu tun.« Sie nahm Bertrandes kalte Hände in ihre. »Ich verlasse mich darauf, dass du Sajhë hilfst und dich um Rixende kümmerst. Vor allem heute Nacht. Sie brauchen dich.«
»Ich will dich nicht verlieren, Mama«, sagte Bertrande, und ihre Lippen bebten.
»Das wirst du nicht«, erwiderte Alaïs lächelnd und betete innerlich, dass es die Wahrheit war. »Bald sind wir alle wieder zusammen. Du musst Geduld haben.« Bertrande brachte ein schwaches Lächeln zu Wege. »So ist es besser. Nun komm, Filha. Lass uns nach unten gehen.«