Kapitel 41

 

Shelagh hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt.

Sie wurde in einem Stall oder einer Art Verschlag festgehalten. Es roch beißend nach Kot, Urin, Stroh, und dann war da noch ein widerwärtig süßlicher Gestank; wie von verdorbenem Fleisch. Ein weißer Lichtstreifen fiel unter der Tür durch, aber sie konnte nicht sagen, ob es später Nachmittag oder früher Morgen war. Sie wusste nicht einmal mehr, welcher Tag heute war.

Der Strick um ihre Beine scheuerte und reizte die wunde, aufgeschürfte Haut an den Knöcheln. Ihre Handgelenke waren gefesselt, und sie war an einen Metallring in der Wand gebunden. Shelagh bewegte sich, suchte nach einer etwas bequemeren Position. Insekten krabbelten ihr über Hände und Gesicht. Sie war überall gestochen worden. Auch die Handgelenke waren von dem Strick wund gescheuert, und die Schultern waren steif, weil sie die Arme schon so lange auf dem Rücken hatte. In den Ecken des Verschlages raschelten Mäuse oder Ratten im Stroh, aber sie hatte sich an sie gewöhnt, so wie sie auch die Schmerzen schon nicht mehr wahrnahm.

Wenn sie doch nur Alice angerufen hätte. Ein weiterer Fehler. Shelagh fragte sich, ob Alice es weiter versucht oder aufgegeben hatte. Falls sie das Team im Ausgrabungshaus angerufen und erfahren hatte, dass sie vermisst wurde, hatte sie doch bestimmt gemerkt, dass irgendwas nicht stimmte, oder? Und was war mit Yves? Brayling hatte die Polizei verständigt...

Shelagh spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Wahrscheinlicher war, dass noch niemand ihr Verschwinden bemerkt hatte. Etliche Kollegen hatten angekündigt, ein paar Tage wegzufahren, bis sich die Situation geklärt hatte. Sie gingen vielleicht davon aus, dass sie das Gleiche getan hatte.

Sie hatte längst keinen Hunger mehr, aber sie war durstig. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie ein Stück Schmirgelpapier verschluckt. Das bisschen Wasser, was sie ihr gegeben hatten, war weg, und sie leckte sich immer und immer wieder über die rissigen Lippen. Sie versuchte sich zu erinnern, wie lange ein normaler, gesunder Mensch ohne Wasser überleben konnte. Einen Tag? Eine Woche?

Shelagh hörte Kies knirschen. Ihr Herz verkrampfte sich, und Adrenalin schoss ihr durch den Körper, wie jedes Mal, wenn sie draußen ein Geräusch vernahm. Bis jetzt war noch niemand hereingekommen.

Sie zog sich in eine sitzende Position hoch, als das Vorhängeschloss geöffnet wurde. Ein schweres Klirren ertönte, als eine Kette herabfiel, sich in dumpf rasselnden Spiralen zusammenrollte, dann das Geräusch der Tür, die in den Angeln bebte. Shelagh drehte das Gesicht weg, als blendendes Sonnenlicht in die Finsternis der Hütte fiel und ein dunkler, stämmiger Mann sich unter den Türsturz duckte. Trotz der Hitze trug er eine Jacke, und seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen. Instinktiv drückte Shelagh sich rückwärts gegen die Wand, schämte sich über den festen Knoten aus Angst in der Magengrube. Der Mann durchquerte die Hütte mit zwei Schritten. Er packte den Strick und zerrte sie auf die Beine. Dann zog er ein Messer aus der Tasche.

Shelagh zuckte zusammen, wollte zurückweichen. »Non«, flüsterte sie. »Bitte nicht.« Sie hasste den flehenden Tonfall ihrer Stimme, konnte ihn aber nicht verhindern. Panik hatte ihr allen Stolz genommen.

Er lächelte, als er ihr die Klinge dicht an den Hals hielt und dabei schlechte gelbe Raucherzähne zeigte. Er griff hinter sie und durchtrennte den Strick, mit dem sie an die Wand gefesselt war, dann riss er daran und zerrte sie vorwärts. So schwach und desorientiert, wie sie war, verlor Shelagh das Gleichgewicht und fiel schwer auf die Knie.

»Ich kann nicht gehen. Sie müssen mich losbinden.« Sie blickte auf ihre Füße. »Mes pieds.«

Der Mann zögerte einen Moment, dann durchsägte er die dickeren Fesseln um ihre Fußknöchel, als würde er Fleisch tranchieren.

»Leve-toi. Vite!« Er hob einen Arm, als wollte er sie schlagen, riss aber nur wieder an dem Strick und zog sie näher zu sich. »Vite.« Ihre Beine waren steif, doch sie war zu verängstigt, um sich zu widersetzen. Die Haut an ihren Fußknöcheln war wund und roh und spannte bei jedem Schritt, sodass ihr der Schmerz bis in die Waden hochschoss.

Als sie ins Licht hinaustaumelte, schwankte der Boden unter ihren Füßen. Die Sonne war erbarmungslos. Sie spürte sie auf der Netzhaut brennen. Die Luft war heiß und feucht. Sie schien über dem Hof und den Gebäuden zu hocken wie ein boshafter Buddha.

Während sie sich von ihrem improvisierten Kerker entfernte, einem von mehreren leeren Tierverschlägen, wie sie jetzt sehen konnte, zwang Shelagh sich, die Augen offen zu halten, weil ihr bewusst wurde, dass das vielleicht ihre einzige Chance war herauszufinden, wohin man sie gebracht hatte. Und wer sie waren, fügte sie in Gedanken hinzu. Denn da war sie sich trotz allem nicht sicher.

Es hatte schon im März angefangen. Er war charmant gewesen, hatte ihr geschmeichelt und sich fast dafür entschuldigt, sie wegen so einer Kleinigkeit zu belästigen. Er arbeitete für jemanden, der ungenannt bleiben wollte, so hatte er erklärt. Und er hatte sie nur darum gebeten, einen Anruf zu tätigen. Es ging um Informationen, mehr nicht. Er war bereit, ein hübsches Sümmchen dafür zu bezahlen. Kurz darauf änderte er die Abmachung: die Hälfte für die Informationen, den Rest bei Lieferung. Im Rückblick wusste Shelagh schon nicht mehr, wann sie die ersten Zweifel beschlichen hatten.

Der Kunde passte nicht in das normale Profil des leichtgläubigen Amateursammlers, der bereit war, überhöhte Preise zu zahlen, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Zum einen hörte er sich jung an. Üblicherweise waren diese Leute so was wie mittelalterliche Schatzjäger, abergläubisch, leicht zu beeindrucken, einfältig, besessen. Er dagegen war nichts davon. Schon allein deshalb hätten bei ihr sämtliche Alarmglocken angehen müssen.

Im Nachhinein war ihr schleierhaft, dass sie sich nie gefragt hatte, wieso er bereit war, so viel Mühe auf sich zu nehmen, wenn der Ring und das Buch tatsächlich nur einen sentimentalen Wert hatten.

Moralische Bedenken wegen des Diebstahls und Verkaufs von Fundstücken hatte Shelagh seit Jahren nicht mehr. Sie hatte zur Genüge unter altmodischen Museen und elitären akademischen Institutionen zu leiden gehabt und glaubte inzwischen, dass es für die Schätze der Vergangenheit geeignetere Hüter gab. Sie nahm das Geld, und die Leute bekamen, was sie haben wollten. Alle waren zufrieden. Was danach passierte, war nicht Shelaghs Problem.

Im Grunde, so gestand sie sich ein, hatte sie es schon lange vor dem zweiten Telefonanruf mit der Angst zu tun bekommen, auf jeden Fall Wochen bevor sie Alice eingeladen hatte, sich ihr am Pic de Soularac anzuschließen. Und als dann Yves Biau Kontakt zu ihr aufgenommen hatte und sie sich gegenseitig ihre Geschichte erzählt hatten ... Ihre Brust schnürte sich noch fester zu.

Wenn Alice irgendwas zustieß, dann war das ihre Schuld.

Sie erreichten das Bauernhaus, ein mittelgroßes Gebäude umgeben von baufälligen Nebengebäuden, einer Garage und einem Weinschuppen. Von den Fensterläden und der Vordertür blätterte der Lack ab, und die dunklen Fenster waren nur leere Höhlen. Zwei Autos parkten davor, ansonsten wirkte alles völlig verlassen.

Ringsherum hatte sie einen freien Blick auf Berge und Täler. Wenigstens war sie noch in den Pyrenäen. Aus irgendeinem Grund gab ihr das Hoffnung.

Die Tür stand auf, als würden sie erwartet. Drinnen war es kühl und auf den ersten Blick menschenleer. Alles war mit dickem Staub bedeckt. Es sah aus, als wäre das Haus einst ein Hotel oder eine auberge gewesen. Geradeaus war eine Rezeption, und dahinter an der Wand befand sich eine Reihe leerer Haken, als hätten früher dort die Zimmerschlüssel gehangen.

Er zerrte an dem Strick, damit sie weiterging. Aus der Nähe roch er nach Schweiß, billigem Aftershave und kaltem Tabakrauch. Shelagh hörte Stimmen aus, einem Zimmer links von sich. Die Tür stand einen Spalt offen. Sie riskierte einen Seitenblick und sah einen Mann, der vor einem Fenster stand, mit dem Rücken zu ihr. Lederschuhe und helle Sommerhose.

Sie wurde die Treppe hinaufgestoßen, dann einen Flur entlang und eine schmale, niedrige Treppe hoch auf einen stickigen Speicher, der fast die gesamte Grundfläche des Hauses einnahm. Vor einer Metalltür blieben sie stehen.

Der Mann öffnete die Riegel und stieß Shelagh so heftig ins Kreuz, dass sie nach vorn fiel. Sie schlug hart auf, prallte mit dem Ellbogen auf den Boden, während er die Tür hinter ihr zuknallte. Shelagh stand auf und warf sich trotz der Schmerzen gegen die metallverstärkte Tür, schrie und hämmerte mit den Fäusten, ohne jedoch etwas auszurichten.

Schließlich gab sie auf, drehte sich um und sah sich den Raum genauer an. Vor der hinteren Wand lag eine Matratze mit einer ordentlich gefalteten Decke darauf.

Gegenüber der Tür war ein kleines Fenster, von innen mit Metallstangen gesichert. Steifbeinig ging Shelagh durch das Zimmer und stellte fest, dass sie jetzt auf der rückwärtigen Seite des Hauses war. Die Stangen waren solide und rührten sich nicht, als sie daran rüttelte. Außerdem ging es auf der anderen Seite des Fensters steil abwärts.

In der Ecke war ein kleines Handwaschbecken, und daneben stand ein Eimer. Sie erleichterte sich und drehte mit einiger Mühe den Wasserhahn auf. Die Rohre spuckten und husteten wie ein Kettenraucher, aber nach einigen Fehlstarts kam doch ein dünnes Rinnsal Wasser. Shelagh legte die hohlen Hände darunter und trank und trank, bis sie fast Bauchschmerzen bekam. Dann wusch sie sich, so gut es ging, betupfte die wunden und blutverkrusteten Stellen an Hand- und Fußgelenken.

Kurz darauf brachte ihr der Mann etwas zu essen. Mehr als sonst.

»Warum bin ich hier?«

Er stellte das Tablett in der Mitte des Raumes ab.

»Warum haben Sie mich hergebracht? Pourquoi je suis lä?«

»Il te le dira.«

»Wer will denn mit mir sprechen?«

Er zeigte auf das Essen. »Mange.«

»Wer?«, wiederholte sie. »Sagen Sie es mir doch.«

Er stieß das Tablett mit der Fußspitze an. »Essen.«

Als er gegangen war, machte sich Shelagh über das Essen her. Sie aß restlos alles, sogar das Gehäuse des Apfels, trat dann wieder ans Fenster. Die Sonne stand hell über dem Bergkamm und färbte die Welt blendend weiß.

In der Ferne hörte sie das Geräusch eines Wagens, der sich langsam dem Bauernhof näherte.


Das Verlorene Labyrinth
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