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Chartres

 

Nordfrankreich

 

Später am selben Tag steht knapp siebenhundert Kilometer nördlich von Carcassonne ein Mann in einem schwach erhellten Durchgang unter den Straßen von Chartres und wartet darauf, dass die Zeremonie beginnt.

Seine Hände sind verschwitzt, sein Mund ist trocken, und er spürt deutlich jeden Nerv, jeden Muskel seines Körpers, spürt an den Schläfen das Pochen in den Adern. Er fühlt sich unsicher und ein bisschen benommen, obwohl er nicht sagen könnte, ob es auf Nervosität und Vorfreude zurückzuführen ist oder auf die Nachwirkungen des Weines. Die ungewohnten weißen Baumwollgewänder hängen schwer von seinen Schultern, und die Hanfstricke liegen unangenehm auf seinen knochigen Hüften. Er wirft einen verstohlenen Blick auf die beiden Gestalten, die schweigend rechts und links von ihm stehen, aber die Kapuzen verbergen die Gesichter. Er kann nicht erkennen, ob sie genauso angespannt sind wie er oder ob sie das Ritual schon oft mitgemacht haben. Sie sind genauso gekleidet wie er, nur dass ihre Gewänder goldfarben sind statt weiß. Außerdem tragen sie Schuhe. Seine Füße sind nackt, und das Kopfsteinpflaster ist kalt.

Hoch über dem geheimen Netz aus Gängen beginnen die Glocken der großen gotischen Kathedrale zu läuten. Er spürt, wie die Männer neben ihm Haltung annehmen. Das ist das Signal, auf das sie gewartet haben. Sofort senkt er den Kopf und versucht sich nur noch auf den Augenblick zu konzentrieren.

»]e suis pret«, murmelt er, mehr um sich zu beruhigen denn als Feststellung. Keiner seiner beiden Begleiter zeigt irgendeine Reaktion.

Als auch der letzte Nachhall der Glocken verklingt, tritt der Akoluth zu seiner Linken vor und schlägt mit einem Stein, der halb in seiner Hand versteckt ist, fünfmal gegen die massive Tür. Von drinnen ertönt die Antwort: »Dintrar.« Tretet ein.

Dem Mann kommt die Frauenstimme bekannt vor, aber er hat keine Zeit zu überlegen, wo oder wann er sie schon einmal gehört hat, denn die Tür öffnet sich bereits, und er sieht die Kammer, ein Anblick, auf den er so lange gewartet hat.

Die drei Gestalten setzen sich in gemessenem Gleichschritt in Bewegung. Er hat das geübt und weiß, was ihn erwartet, weiß, was er zu tun hat, auch wenn er sich ein wenig unsicher auf den Beinen fühlt. In dem Raum ist es heiß, nach dem kühlen Gang, und er ist dunkel. Das einzige Licht kommt von den Kerzen, die in den Nischen und auf dem Altar aufgestellt sind und tanzende Schatten auf den Boden werfen.

Adrenalin jagt durch seinen Körper, doch zugleich fühlt er sich seltsam losgelöst von dem Geschehen. Als die Tür hinter ihm zufällt, zuckt er zusammen.

Die vier ranghöheren Diener stehen im Norden, Süden, Osten und Westen der Kammer. Er würde so gern die Augen heben und sich umsehen, aber er zwingt sich, den Kopf weisungsgemäß gesenkt und das Gesicht bedeckt zu halten. Er kann die Eingeweihten erahnen, die in zwei Reihen an den Längsseiten der rechteckigen Kammer stehen, sechs auf jeder Seite. Er fühlt die Wärme ihrer Körper und hört das Heben und Senken ihrer Atmung, obwohl niemand sich bewegt und niemand etwas sagt.

Er hat sich den Grundriss anhand der Papiere eingeprägt, die man ihm gegeben hat, und als er auf den Schrein in der Mitte des Raumes zuschreitet und ihre Blicke im Rücken spürt, fragt er sich, ob er vielleicht einige von ihnen kennt. Geschäftspartner, Ehefrauen von Bekannten, jeder könnte ein Mitglied sein. Unwillkürlich schleicht sich ein schwaches Lächeln auf seine Lippen, als er sich für einen Moment der Phantasie hingibt, wie sehr sich sein Leben durch die Aufnahme in die Gemeinschaft verändern wird.

Er wird jäh in die Gegenwart zurückgeholt, als er stolpert und beinahe über die steinerne Kniebank vor dem Altar gefallen wäre. Die Kammer ist kleiner, als er sie sich aufgrund des Planes vorgestellt hatte, enger und klaustrophobischer. Er hatte die Entfernung zwischen Tür und Stein größer geschätzt.

Als er auf dem Stein niederkniet, schnappt irgendjemand ganz in seiner Nähe nach Luft, und er fragt sich, wieso. Sein Herzschlag beschleunigt sich, und als er nach unten schaut, sieht er, dass seine Handknöchel weiß sind. Verlegen presst er die Hände zusammen, doch dann erinnert er sich wieder und lässt die Arme locker herabhängen, so wie es sein soll.

Eine leichte Vertiefung befindet sich in der Mitte des Steines, der hart und kalt durch den dünnen Stoff der Robe zu spüren ist. Er rutscht ein bisschen hin und her, sucht nach einer bequemeren Position. Das Unbehagen ist etwas, worauf er sich konzentrieren kann, und dafür ist er dankbar. Ihm ist noch immer schwindelig, und er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Er erinnert sich auch nicht mehr, in welcher Reihenfolge jetzt alles ablaufen wird, obwohl er es im Kopf immer wieder durchgespielt hat.

In der Kammer beginnt eine Glocke zu läuten, ein hoher, dünner Ton. Gleichzeitig setzt ein tiefer Gesang ein, zunächst leise, doch rasch immer lauter werdend, je mehr Stimmen einfallen. Fetzen von Wörtern und Sätzen dringen an sein Ohr: montanhas, Berge; Noblesa, Adel; libres, Bücher; graal, Gral ...

Die Priesterin tritt hinter dem Altar hervor und geht durch die Kammer. Er kann das leise Scharren ihrer Füße hören und stellt sich vor, wie ihre goldene Robe im flackernden Kerzenschein schimmert und schwingt. Das ist der Augenblick, auf den er gewartet hat.

»]e suis pret«, wiederholt er im Flüsterton. Und diesmal meint er es auch so.

Die Priesterin bleibt vor ihm stehen. Er kann ihr Parfüm riechen, dezent und zart unter dem berauschenden Duft des Weihrauchs. Er hält den Atem an, als sie sich vorbeugt und seine Hand nimmt. Ihre Finger sind kühl und manikürt, und ein Stromstoß, fast schon Begehren, schießt ihm durch den Arm, als sie ihm etwas Kleines, Rundes in die Hand drückt und dann seine Finger darum schließt. Jetzt will er - mehr als er je in seinem Leben etwas gewollt hat - in ihr Gesicht blicken. Aber er hält die Augen weiter auf den Boden gerichtet, wie man es ihm gesagt hat.

Die vier ranghöheren Diener verlassen ihre Positionen und treten zu der Priesterin. Sein Kopf wird sacht nach hinten gezogen und eine dicke, süße Flüssigkeit zwischen seine Lippen geträufelt. Er hat damit gerechnet und leistet keinen Widerstand. Als die Wärme sich in seinem Körper ausbreitet, hebt er die Arme, und seine Begleiter legen ihm einen goldenen Umhang über die Schultern. Die Zeugen kennen das Ritual, und doch kann er ihre Beklommenheit spüren.

Plötzlich hat er das Gefühl, als würde sich ihm ein Eisenring um den Hals legen und ihm die Luftröhre zerquetschen. Seine Hände schnellen hoch an die Kehle, und er ringt um Atem. Er will etwas rufen, aber er bringt kein Wort heraus. Der hohe, dünne Glockenklang setzt erneut ein, stetig und beharrlich, übertönt ihn. Übelkeit erfasst ihn. Er glaubt, ohnmächtig zu werden, und umklammert Hilfe suchend den Gegenstand in seiner Hand so fest, dass die Fingernägel sich in die weiche Haut der Handfläche bohren. Der stechende Schmerz hilft ihm, sich aufrecht zu halten. Erst jetzt wird ihm klar, dass die Hände auf seinen Schultern nicht tröstlich sind. Sie stützen ihn nicht, sondern drücken ihn nach unten. Eine weitere Welle der Übelkeit übermannt ihn, und ihm ist, als würde der Stein unter ihm weggleiten.

Alles verschwimmt ihm vor den Augen, und er kann nicht mehr klar sehen, doch er erkennt, dass die Priesterin ein Messer hält, obwohl er sich nicht erklären kann, wie die silberne Klinge in ihre Hand gelangt ist. Er will aufstehen, aber die Droge ist zu stark, hat ihm schon alle Kraft geraubt. Er hat Arme und Beine nicht mehr unter Kontrolle.

»Non!«, will er schreien, aber es ist zu spät.

Zuerst denkt er, er habe einen Schlag zwischen die Schultern bekommen, mehr nicht. Dann dringt ein dumpfer Schmerz durch seinen Körper. Etwas Warmes und Weiches rinnt ihm langsam den Rücken herunter.

Urplötzlich lassen die Hände ihn los, und er fällt nach vorn, sackt wie eine Stoffpuppe zusammen, während der Boden ihm entgegenkommt. Er spürt keinen Schmerz, als sein Kopf auf dem Stein aufschlägt, der sich auf seiner Haut irgendwie kühl und angenehm anfühlt. Jetzt klingt alles ab, die Geräusche, die Verwirrung, die Angst. Seine Augen schließen sich flatternd. Er bekommt nichts mehr mit, außer ihrer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen scheint.

»Une leçon. Pour tous«, scheint sie zu sagen, obwohl die Worte für ihn keinen Sinn ergeben.

In seinen letzten bruchstückhaft bewussten Augenblicken hält der Mann, den man beschuldigt hat, Geheimnisse verraten zu haben, der verurteilt wurde, weil er nicht schweigen konnte, den begehrten Gegenstand fest in der Hand, bis seine Lebenskraft schließlich versiegt und die kleine graue Scheibe, nicht größer als eine Münze, über den Boden rollt.

Auf der einen Seite stehen die Buchstaben NV. Auf der anderen ist ein eingraviertes Labyrinth.


Das Verlorene Labyrinth
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