Kapitel 21
Carcassona

 

Alaïs erwachte, als das Morgengrauen ins Zimmer schlich. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, wieso sie im Bett ihres Vaters lag. Sie setzte sich auf und reckte den Schlaf aus den Gliedern, wartete, bis die Erinnerung an den Vortag lebhaft und heftig zurückkam.

Irgendwann während der langen Stunden zwischen Mitternacht und Tagesanbruch war sie zu einer Entscheidung gelangt. Trotz der unruhigen Nacht war ihr Verstand kühl und klar wie ein Bergbach. Sie konnte nicht tatenlos dasitzen und auf die Rückkehr ihres Vaters warten. Sie konnte nicht beurteilen, was für Folgen die tagelange Verzögerung haben könnte. Als er von seiner heiligen Pflicht gegenüber der Noublesso de los Seres und dem Geheimnis, das sie hüteten, gesprochen hatte, war ihr deutlich geworden, dass seine Ehre und sein Stolz von seiner Fähigkeit abhingen, seinen Schwur zu erfüllen. Ihre Pflicht war es jetzt, ihn zu suchen, ihm zu erzählen, was alles geschehen war, und das Ganze wieder in seine Hände zu legen.

Handeln ist in jedem Fall besser als Nichtstun.

Alaïs ging zum Fenster hinüber und öffnete die Läden, um die Morgenluft einzulassen. In der Ferne schimmerte die Montagne Noire lila im heller werdenden Licht, geduldig und zeitlos. Der Anblick der Berge bestärkte sie in ihrem Entschluss. Die Welt rief sie zu sich.

Als Frau allein unterwegs nahm sie ein Risiko auf sich. Waghalsig würde ihr Vater es nennen. Aber sie war eine vorzügliche Reiterin, schnell und instinktiv handelnd. Sie war davon über-

zeugt, dass sie jeder Bande von routiers oder Wegelagerern davonreiten könnte. Außerdem hatte es ihres Wissens auf dem Gebiet von Vicomte Trencavel keine Überfälle auf Reisende gegeben.

Alaïs befühlte die Beule an ihrem Hinterkopf, der Beweis, dass jemand ihr etwas antun wollte. Wenn sie schon sterben musste, dann doch lieber mit dem Schwert in der Hand. Sie wollte nicht einfach abwarten, bis ihre Feinde erneut zuschlugen.

Alaïs nahm die kalte Lampe vom Tisch und erblickte ihr Spiegelbild in dem schwarz gestreiften Glas. Sie war blass, ihre Haut hatte die Farbe von Buttermilch, und ihre Augen glänzten vor Erschöpfung. Aber in ihnen lag auch eine Entschlusskraft, die vorher nicht da gewesen war.

 

Alaïs wünschte, sie müsste nicht zurück in ihr Gemach, aber das ließ sich nicht vermeiden. Vorsichtig stieg sie über François hinweg und ging über den Hof zurück in die Wohnräume. Es war niemand zu sehen.

Orianes treuer Schatten Guirande lag schlummernd auf dem Boden vor dem Zimmer ihrer Schwester, als Alaïs auf Zehenspitzen vorbeischlich. Das hübsche Schmollgesicht der Dienerin war im Schlaf erschlafft.

Die Stille, die sie empfing, als sie ihr Zimmer betrat, verriet ihr, dass die Pflegerin nicht mehr da war. Wahrscheinlich war sie aufgewacht, hatte gesehen, dass ihr Schützling verschwunden war, und sich davongemacht.

Um keine Zeit zu vergeuden, machte Alaïs sich gleich an die Arbeit. Wenn ihr Plan gelingen sollte, musste sie jedermann davon überzeugen, sie sei zu schwach, um sich weit von zu Hause fortzuwagen. Niemand am Hof durfte wissen, dass sie nach Montpellier wollte.

Aus der Kleidertruhe holte sie ihr leichtestes Jagdgewand, rotbraun wie ein Eichhörnchen feil, mit hellen, steingrauen, maßgeschneiderten Ärmeln, die unter den Armen weit geschnitten waren und sich nach unten zu einer rautenförmigen Spitze verjüngten. Sie schnallte sich einen dünnen Ledergürtel um die Taille, an dem sie einen Beutel mit Wegzehrung und ihre Winterjagdtasche, die borsa, befestigte.

Dann zog sie ihre Jagdstiefel an, die ihr fast bis zu den Knien reichten, zog die Schnürriemen oben fest, sodass sie ein zweites Messer im Stiefel tragen konnte, und legte sich einen schlichten braunen Kapuzenmantel um.

Als sie fertig angekleidet war, nahm sie ein paar wertvolle Edelsteine und etwas Schmuck aus ihrer Schatulle, darunter auch ihre Halskette aus Sonnenstein sowie den Ring und das Halsband aus Türkis. Vielleicht konnte sie sich damit wenn nötig die ungehinderte Durchreise oder Schutz erkaufen, vor allem sobald sie außerhalb des Gebietes von Vicomte Trencavel war. Schließlich, nachdem sie sich vergewissert hatte, auch nichts vergessen zu haben, holte sie ihr Schwert aus seinem Versteck unter dem Bett hervor, wo es seit ihrer Hochzeit unangetastet gelegen hatte. Alaïs hielt das Schwert fest in der rechten Hand und hob es vor das Gesicht, strich mit der flachen Hand über die Klinge. Es war noch immer gerade und lotrecht, obwohl es so lange nicht gepflegt worden war. Sie schnitt eine Acht in die Luft, machte sich wieder mit dem Gefühl des Schwertes in ihrer Hand vertraut. Sie lächelte. Es kam ihr so vor, als gehörte es dorthin.

 

Alaïs huschte in die Küche und bat Jacques um Gerstenbrot, Feigen, gesalzenen Fisch, ein großes Stück Käse und eine Flasche Wein. Er gab ihr mehr, als sie brauchte, wie immer, und diesmal war sie sogar froh über seine Großzügigkeit.

Sie weckte ihre Dienerin, Rixende, und flüsterte ihr zu, sie solle Dame Agnès bestellen, dass es Alaïs besser gehe und sie sich nach der Terz im Solar zu den Damen des Hofes gesellen würde. Rixende blickte verblüfft, sagte aber nichts weiter dazu. Alaïs verabscheute diesen Teil ihrer Pflichten und bat sooft wie möglich, davon entschuldigt zu werden. In Gesellschaft der Frauen fühlte sie sich eingesperrt, und das belanglose Geplauder bei der Handarbeit langweilte sie. Heute jedoch würde das der beste Beweis dafür sein, dass sie vorhatte, im Château zu bleiben.

Alaïs hoffte, dass sie erst später vermisst werden würde. Wenn sie Glück hatte, würden sie ihr Fehlen erst bemerken, wenn die Vesperglocke schlug.

Und dann bin ich schon weit weg.

»Geh erst zu Dame Agnès, wenn sie das Fasten beendet hat, Rixende«, sagte sie. »Nicht ehe die ersten Sonnenstrahlen die Westmauer des Hofes treffen, hast du verstanden? Oc? Wenn vorher irgendjemand nach mir fragt - selbst der Diener meines Vaters -, sagst du, ich wäre ausgeritten, auf die Felder hinter Sant-Miquel.«

Die Ställe lagen in der nordöstlichen Ecke des Hofes, zwischen dem Tour des Casernes und dem Tour du Major. Pferde stampften mit den Hufen, stellten die Ohren auf und wieherten leise, als sie näher kam, weil sie auf eine Sonderration Heu hofften. Alaïs blieb bei der ersten Box stehen und strich mit der Hand über die breite Nase ihrer alten grauen Stute. Stirn und Widerrist des Tieres waren mit struppigen weißen Haaren durchsetzt. »Heute nicht, meine Alte«, sagte sie, »das wäre zu anstrengend für dich.«

Ihr anderes Pferd stand in der Nachbarbox. Die sechsjährige Araberstute Tatou war ein Uberraschungsgeschenk ihres Vaters zur Hochzeit gewesen. Sie war ein Fuchs und hatte die Farbe von Eicheln im Winter. Ihr Schwanz und ihre Mähne waren hell, die Fesseln flachsfarben, und auf allen vier Füßen hatte sie weiße Flecken. Tatous Widerrist reichte Alaïs bis zu den Schultern, und sie hatte den typisch flachen Kopf ihrer Rasse, einen kompakten Knochenbau, einen festen Rücken und ein gefügiges Temperament. Wichtiger war jedoch, dass sie Ausdauer und Schnelligkeit besaß.

Zu Alaïs' Erleichterung war nur Amiel im Stall, der älteste Sohn des Hufschmieds. Er schlief ganz hinten im Heu und sprang hastig auf, als er sie bemerkte, und schämte sich offensichtlich, im Schlaf ertappt worden zu sein.

Alaïs fiel ihm ins Wort, als er sich entschuldigte.

Amiel sah nach, ob die Hufe und Hufeisen der Stute in Ordnung waren, dann warf er dem Tier eine Satteldecke über und sattelte es auf Alaïs Bitte hin nicht mit einem Jagd-, sondern einem normalen Reitsattel. Schließlich zäumte er die Stute auf. Alaïs spürte die Anspannung in ihrer Brust. Bei jedem noch so leisen Geräusch im Hof zuckte sie zusammen und fuhr herum, wenn sie eine Stimme hörte.

Erst als Amiel fertig war, holte Alaïs ihr Schwert unter dem Mantel hervor.

»Die Klinge ist stumpf«, sagte sie.

Ihre Blicke trafen sich. Ohne ein Wort nahm Amiel das Schwert und ging damit zum Amboss in der Schmiede. Das Feuer dort wurde Tag und Nacht von Jungen in Gang gehalten, die kaum groß genug waren, die schweren, stacheligen Reisigbündel von einer Seite des Raumes zur anderen zu tragen.

Alaïs beobachtete, wie die Funken vom Stein aufflogen, sah die Anspannung in Amiels Schultern, als er den Hammer auf das Eisen schlug, es schärfte, glättete, austarierte.

»Das ist ein gutes Schwert, Dame Alaïs«, sagte er ruhig. »Es wird Euch gute Dienste tun, obwohl ... Ich bete zu Gott, dass Ihr es nicht gebrauchen müsst.«

Sie lächelte, »leu tanben.« Ich auch.

Er half ihr beim Aufsitzen und führte dann das Pferd über den Hof. Alaïs schlug das Herz bis zum Hals vor lauter Angst, dass sie noch im letzten Augenblick gesehen werden könnte, was ihren Plan vereiteln würde.

Aber es war niemand da, und kurz darauf erreichten sie das Osttor.

»Gott sei mit Euch, Dame Alaïs«, flüsterte Amiel, als Alaïs ihm einen sol in die Hand drückte. Die Wachen öffneten das Tor, und Alaïs trieb Tatou mit pochendem Herzen hinaus, über die Brücke und auf die frühmorgendlichen Straßen von Caracassonne.

Kaum hatte Alaïs die Porte Narbonnaise hinter sich gelassen, ließ sie Tatou losgaloppieren.

Libertat. Freiheit.

Alaïs empfand ein tiefes Gefühl der Harmonie mit der Natur, als sie der aufgehenden Sonne entgegenritt. Der Wind wehte ihr die Haare aus dem Gesicht und färbte ihre Wangen. Während Tatou durch das weite Land galoppierte, fragte sie sich, ob sich so vielleicht die Seele fühlte, wenn sie den Körper verließ und ihre viertägige Reise zum Himmel antrat. Dieses Gespür für Gottes Gnade, dieses Zurücklassen aller niederen Diesseitigkeit, das Wegfallen des Körperlichen, bis nur noch Geist übrig blieb? Alaïs lächelte. Die parfaits predigten, dass eine Zeit kommen würde, da alle Seelen errettet und alle Fragen im Himmel beantwortet würden. Doch vorläufig wollte sie lieber noch warten. Es gab hier auf Erden noch zu viel zu tun, als dass sie jetzt schon daran denken wollte, sie zu verlassen.

Ihr Schatten reckte sich lang hinter ihr, und alle Gedanken an Oriane, an den Hof, alle Ängste verblassten. Sie war frei. In ihrem Rücken wurden die sandfarbenen Mauern und Türme der Cité kleiner und kleiner, bis sie schließlich völlig verschwunden waren.

 


Das Verlorene Labyrinth
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