Kapitel 75
Montsegur

 

Marc 1244

 

In ihrem Versteck unterhalb der Zitadelle versuchten Alaïs und ihre drei Gefährten, die Ohren gegen die qualvollen Folterklänge zu verschließen. Doch die Schmerzens- und Entsetzensschreie durchdrangen selbst den dicken Fels des Berges. Die Rufe der Sterbenden und der Überlebenden schlichen sich wie Ungeheuer in ihre Zuflucht.

Alaïs betete für Rixendes Seele und ihre Rückkehr zu Gott, sie betete für all ihre Freunde, gute Männer und Frauen, dass sie getröstet würden. Sie selbst konnte nur hoffen, dass ihr Plan gelungen war.

Doch ob Oriane sich wirklich hatte täuschen lassen und nun glaubte, dass Alaïs und mit ihr das Buch der Wörter den Flammen zum Opfer gefallen waren, blieb abzuwarten.

Ein so großes Risiko.

Alaïs, Harif und ihre beiden Führer würden in ihrem steinernen Grab bleiben, bis die Nacht anbrach und die Räumung der Zitadelle abgeschlossen war. Dann würden die vier Flüchtlinge im Schutze der Dunkelheit die abschüssigen Bergpfade hinabschleichen und sich auf den Weg nach Los Seres machen. Wenn sie Glück hatten, würden sie morgen Abend dort sein.

Ihr Vorhaben war ein klarer Verstoß gegen die Waffenstillstands- und Kapitulationsbedingungen. Wenn sie gefasst würden, wäre die Bestrafung schnell und grausam, daran hatte Alaïs keinen Zweifel.

Ihr Versteck war kaum mehr als eine kleine Höhle im Felsen, nicht sehr tief und dicht an der Oberfläche. Falls die Zitadelle samt Umgebung gründlich durchforstet wurde, würden die Soldaten sie mühelos entdecken.

Alaïs biss sich auf die Lippen, als sie an ihre Tochter dachte. In der Dunkelheit spürte sie, dass Harif ihre Hand ergriff. Seine Haut war trocken und staubig wie Wüstensand.

»Bertrande ist stark«, sagte er, als wüsste er, welcher Kummer sie quälte. »Sie ist wie du, e? Ihr Mut wird sie nicht verlassen. Schon bald seid ihr wieder vereint. Ganz bestimmt.«

»Aber sie ist noch so jung, Harif, zu jung, um solche Dinge zu erleben. Sie muss doch völlig verängstigt sein ...«

»Sie ist tapfer, Alaïs. Und Sajhë auch. Sie werden uns nicht enttäuschen.«

Wenn ich dir nur glauben könnte ...

Alaïs saß tränenlos in der Dunkelheit, ihr Herz von Zweifel und Furcht vor der Zukunft zerfressen, und wartete darauf, dass der Tag verging.

Die Anspannung,, die Ahnungslosigkeit, was weiter oben geschah, waren beinahe unerträglich. Der Gedanke an Bertrandes blasses, fast weißes Gesicht verfolgte sie unentwegt.

Und die Schreie der Bons Homes, als das Feuer sie erfasste, gellten ihr noch in den Ohren, nachdem das letzte Opfer längst verstummt war.

 

Dicke schwarze, beißende Rauchschwaden hingen über dem Tal wie eine Gewitterwolke, verfinsterten den Tag.

Sajhë hielt Bertrandes Hand fest, als sie durch das große Tor aus der Burg schritten, die fast zwei Jahre lang ihr Zuhause gewesen war.

Er hatte seinen Schmerz tief in sich verschlossen, an einem Ort in seinem Herzen, den die Inquisitoren nicht erreichen konnten. Er würde jetzt nicht um Rixende trauern. Er konnte jetzt nicht um Alaïs bangen. Jetzt ging es allein darum, Bertrande zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie beide sicher nach Los Seres zurückkehrten.

Die Tische der Inquisitoren waren am Fuße des Berges aufgestellt worden. Die Vernehmungen sollten sofort beginnen, im Schatten des Scheiterhaufens. Sajhë erkannte den Inquisitor Ferrier. Der Mann war wegen seiner strengen Auslegung des Kirchenrechts in der ganzen Gegend verhasst. Rechts von Ferrier sah Sajhë den Inquisitor Duranti stehen, der ebenso gefürchtet war.

Er umfasste Bertrandes Hand noch fester.

Als sie sich der Talsohle näherten, merkte Sajhë, dass die Gefangenen aufgeteilt wurden. Alte Männer, junge Männer und Angehörige der Garnison wurden auf die eine Seite geschickt, Frauen und Kinder auf die andere. Panik durchfuhr ihn. Bertrande würde sich den Inquisitoren allein stellen müssen.

Sie spürte die Veränderung in ihm und blickte ängstlich zu ihm hoch. »Was geschieht jetzt? Was machen sie mit uns?«

»Brava, sie verhören die Männer und Frauen getrennt«, sagte er. »Hab keine Angst. Beantworte ihre Fragen. Sei tapfer und bleib genau dort, wo du bist, bis ich dich holen komme. Geh nirgendwohin, mit niemandem, hast du verstanden? Mit absolut niemandem.«

»Was wollen sie von mir wissen?«, fragte sie mit dünnem Stimmchen.

»Deinen Namen, dein Alter«, erwiderte Sajhë und ging noch einmal alles durch, was sie sich merken sollte. »Ich bin als Mitglied der Garnison bekannt, aber es gibt keinen Grund, warum sie uns beide miteinander in Verbindung bringen sollten. Wenn du gefragt wirst, sagst du, dass du deinen Vater nicht kennst. Sag ihnen, Rixende ist deine Mutter und du hast dein ganzes Leben hier in Montsegur verbracht. Was auch geschieht, erwähne auf keinen Fall Los Seres. Kannst du dir das merken?«

Bertrande nickte.

»Braves Mädchen.« Um ihr Mut zu machen, fügte er noch hin- zu: »Als ich in deinem Alter war, hat meine Großmutter mich häufig Nachrichten überbringen lassen. Ich musste immer alles mehrmals wiederholen, bis sie ganz sicher war, dass ich mir jedes Wort gut eingeprägt hatte.«

Bertrande lächelte ihn zaghaft an. »Mama sagt, du hast ein furchtbar schlechtes Gedächtnis. Wie ein Sieb, sagt sie.«

»Da hat sie Recht«, bestätigte er und wurde dann wieder ernst. »Vielleicht fragen sie dich auch nach den Bons Homes und ihrem Glauben. Antworte so ehrlich du kannst. Dann verwickelst du dich nicht so leicht in Widersprüche. Du kannst ihnen nichts erzählen, was sie nicht schon von anderen gehört haben.« Er zögerte und schärfte ihr schließlich noch etwas ein: »Denk dran. Du darfst weder Alaïs noch Harif erwähnen.«

Bertrandes Augen füllten sich mit Tränen. »Und wenn die Soldaten die Zitadelle durchsuchen und sie finden?«, fragte sie, und ihre Stimme wurde vor Furcht lauter. »Was machen sie mit ihr, wenn sie sie finden?«

»Das werden sie nicht«, entgegnete er rasch. »Denk dran, Bertrande. Wenn die Inquisitoren mit dir fertig sind, rührst du dich nicht vom Fleck. Sobald ich kann, hole ich dich.«

 

Sajhë hatte den letzten Satz kaum zu Ende gesprochen, als er von einem Soldaten in den Rücken gestoßen wurde und weiter bergab Richtung Dorf gehen musste. Bertrande wurde in die entgegengesetzte Richtung geschickt.

Er wurde in einen Holzpferch gebracht, wo er Pierre-Roger de Mirepoix erblickte, den Kommandanten der Garnison. Er war bereits vernommen worden. In Sajhës Augen war das ein gutes Zeichen, ein Ausdruck der Höflichkeit, der darauf hindeutete, dass die Kapitulationsbedingungen eingehalten und die Soldaten der Garnison wie Kriegsgefangene behandelt wurden, nicht wie Verbrecher.

Als er sich zu den übrigen Soldaten stellte, die darauf warteten, einzeln aufgerufen zu werden, zog Sajhë seinen Steinring vom

Daumen und verbarg ihn unter seiner Kleidung. Ohne den Ring kam er sich seltsam nackt vor. Schließlich hatte er ihn kaum einmal abgenommen, seit Harif ihn ihm vor zwanzig Jahren gegeben hatte.

Die Verhöre fanden in zwei unterschiedlichen Zelten statt. Die Mönche standen bereit, um allen, die für schuldig befunden wurden, mit den Häretikern fraternisiert zu haben, ein gelbes Kreuz auf den Rücken zu heften. Anschließend wurden die Gefangenen in einen zweiten Pferch weiter hinten gebracht, wie Vieh auf dem Markt.

Es war klar, dass niemand freigelassen werden sollte, vom Ältesten bis zum Jüngsten, bis nicht auch der Letzte vernommen worden war. Das Ganze konnte Tage dauern.

 

Als Sajhë an die Reihe kam, durfte er ohne Bewachung ins Zelt treten. Er blieb vor Inquisitor Ferrier stehen und wartete. Ferriers wächsernes Gesicht verriet nicht das Geringste. Er wollte Sajhës Namen wissen, sein Alter, seinen Rang und seinen Heimatort. Der Gänsekiel kratzte über das Pergament.

»Glaubst du an Himmel und Hölle?«, fragte er unvermittelt. »Ja.«

»Glaubst du ans Fegefeuer?«

»Ja.«

»Glaubst du, dass der Sohn Gottes ganz Mensch geworden ist?« »Ich bin Soldat, kein Mönch«, entgegnete Sajhë, die Augen auf den Boden gerichtet.

»Glaubst du, dass eine Menschenseele nur einen einzigen Körper hat, in dem und mit dem sie wieder aufersteht?«

»Die Priester sagen, dass das so ist.«

»Hast du je jemanden sagen hören, es sei Sünde, einen Eid zu schwören? Und wenn ja, wer war das?«

Diesmal hob Sajhë den Blick. »Das habe ich nicht«, sagte er trotzig.

»Ach was, Soldat. Du dienst seit über einem Jahr in der Garnison und willst nicht wissen, dass die heritici sich weigern, Eide zu schwören?«

»Ich diene Pierre-Roger de Mirepoix, Inquisitor. Auf die Worte anderer gebe ich nichts.«

Die Vernehmung ging noch eine Weile so weiter, doch Sajhë blieb bei seiner Rolle als einfacher Soldat, der in allen Bibel- und Glaubensfragen unwissend war. Er beschuldigte niemanden. Behauptete, nichts zu wissen.

Schließlich blieb Inquisitor Ferrier nichts anderes übrig, als ihn gehen zu lassen.

Es war erst Nachmittag, doch die Sonne ging bereits unter. Die Dämmerung kroch zurück ins Tal, beraubte die Dinge ihrer Form und überzog alles mit schwarzen Schatten.

Man schickte Sajhë zu einer Gruppe anderer Soldaten, die bereits vernommen worden waren. Jeder von ihnen hatte eine Decke bekommen, ein großes Stück altes Brot und einen Becher Wein. Aber Sajhë sah auch, dass den zivilen Gefangenen keine so freundliche Behandlung zuteil wurde.

 

Als der Tag zur Neige ging, wurde Sajhë noch schwerer ums Herz.

Es machte ihn verrückt, nicht zu wissen, ob Bertrandes Prüfung vorüber war - oder wo sie überhaupt in diesem riesigen Lager festgehalten wurde. Der Gedanke an Alaïs, die in ihrem Versteck wartete, sah, wie das Licht schwand, und immer nervöser wurde, je näher die Stunde des Aufbruchs rückte, erfüllte ihn mit Furcht, zumal er nichts tun konnte, um ihr zu helfen.

Die bangen Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen, und er stand auf, um sich zu recken. Er spürte, wie ihm die feuchte Kälte in die Knochen kroch, und seine Beine waren schon steif vom langen Sitzen.

»Assis«, knurrte ein Wachmann und klopfte ihm mit seiner Lanze auf die Schulter. Sajhë wollte gerade gehorchen, als er weiter oben am Berg Bewegung wahrnahm. Wahrscheinlich ein

Suchtrupp, der sich der Felskuppe näherte, wo Alaïs, Harif und ihre Führer sich versteckt hatten. Die flackernden Flammen ihrer Fackeln warfen Schatten auf die Büsche, die sich im Wind wiegten.

Sajhë gefror das Blut in den Adern.

Im Laufe des Tages war die Burg erfolglos durchsucht worden. Er hatte geglaubt, die Gefahr wäre vorbei. Aber jetzt durchsuchten sie offenbar das Unterholz und das Gewirr von Pfaden, das unten um die Zitadelle herum verlief. Wenn sie noch weiter in diese Richtung gingen, würden sie genau an die Stelle kommen, wo Alaïs auftauchen würde. Und es war fast dunkel.

Sajhë lief los, auf die Umrandung des Geheges zu.

»He!«, schrie der Wachmann. »Stehen bleiben, hörst du? Arrête!«

Sajhë achtete nicht auf ihn. Ohne an die Folgen zu denken, schwang er sich über den Holzzaun und stürmte den Hang hinauf auf den Suchtrupp zu. Er hörte, wie der Wachmann nach Verstärkung rief. Aber sein einziger Gedanke war, dass er sie von Alaïs ablenken musste.

Die Männer des Suchtrupps blieben stehen und schauten sich um.

Sajhë schrie irgendwas, wollte sie dazu bringen einzugreifen, nicht bloß dazustehen. Schließlich sah er, wie die Verwunderung auf ihren Gesichtern in Aggression umschlug. Ihnen war langweilig und kalt, und ein Kampf kam ihnen da gerade recht.

Kaum hatte Sajhë erkannt, dass sein Plan funktionierte, als auch schon der erste Fausthieb in seiner Magengrube landete. Er schnappte nach Luft und kippte vornüber. Zwei Soldaten hielten seine Arme fest, und nun trafen ihn die Hiebe von allen Seiten. Waffenknäufe, Stiefel, Fäuste, alles wurde erbarmungslos eingesetzt. Er spürte, wie die Haut unter einem Auge aufplatzte. Er schmeckte Blut auf der Zunge und in der Kehle, während die Schläge weiter auf ihn niederprasselten.

Erst jetzt begriff er, welch verhängnisvollen Fehler er begangen hatte. Er hatte nur daran gedacht, die Männer von Alaïs wegzulocken. Doch plötzlich tauchte vor seinem geistigen Auge das blasse Gesicht von Bertrande auf, die auf ihn wartete, und im selben Augenblick traf eine Faust sein Kinn, und alles wurde schwarz.


Das Verlorene Labyrinth
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