Kapitel 70

 

Monsieur Baillard, ich ...«

Audric hob eine Hand. »Benleu«, sagte er, kam zurück an den Tisch und nahm den Erzählfaden wieder auf, als wäre nichts gewesen. »Ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder.

»Die Zitadelle auf dem Montsegur war überfüllt«, sagt er, »doch davon abgesehen war es eine glückliche Zeit. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte Alaïs sich in Sicherheit. Bertrande, inzwischen sieben Jahre alt, war bei den vielen Kindern beliebt, die innerhalb und außerhalb der Festung lebten. Auch Harif war trotz seines Alters und seiner Gebrechlichkeit guter Dinge. Er hatte viel Gesellschaft: Bertrande, die ihn entzückte, die parfaits, mit denen er über das Wesen Gottes und der Welt diskutieren konnte. Sajhë war die meiste Zeit an Alaïs' Seite. Sie war glücklich.«

Alice schloss die Augen und ließ die Vergangenheit in ihrem Kopf lebendig werden.

»Es war ein gutes Leben, und es hätte so weitergehen können, wenn es nicht zu einem leichtfertigen Racheakt gekommen wäre. Im Mai 1242 erhielt Pierre-Roger de Mirepoix die Nachricht, dass vier Inquisitoren in dem Städtchen Avignonet eingetroffen waren. Es war daher abzusehen, dass wieder einmal parfaits und credentes festgenommen und auf den Scheiterhaufen geschickt würden. Er beschloss zu handeln. Entgegen dem Rat seiner Getreuen, darunter auch Sajhë, stellte er aus der

Garnison Montsegur einen Trupp von fünfundachtzig Rittern zusammen, eine Zahl, die noch anwuchs, als andere en route zu ihnen stießen.

Am 29. Mai trafen sie in Avignonet ein. Kurz nachdem der Inquisitor Guillaume Arnaud und seine drei Kollegen schlafen gegangen waren, schloss jemand aus dem Haus die Tür auf und ließ die Ritter herein. Die Türen zu den Schlafzimmern wurden eingetreten und die vier Inquisitoren samt ihrem Gefolge getötet. Sieben verschiedene chevaliers beanspruchten die tödlichen Hiebe für sich. Guillaume Arnaud soll mit dem Te Deum auf den Lippen gestorben sein. Sicher ist jedenfalls, dass seine Inquisitionsprotokolle geraubt und vernichtet wurden.«

»Das war doch bestimmt gut so.«

»Es war die letzte und entscheidende Provokation. Das Massaker löste eine rasche Reaktion aus. Der König verfügte, Montsegur ein für alle Mal zu zerstören. Eine Armee aus nordfranzösischen Adeligen, katholischen Inquisitoren, Söldnern und Kollaborateuren schlug am Fuße des Berges ihr Lager auf. Die Belagerung begann, doch die Männer und Frauen aus der Zitadelle kamen und gingen weiterhin ganz nach Belieben. Nach fünf Monaten hatte die Garnison lediglich drei Mann verloren, und es sah so aus, als würde die Belagerung scheitern.

Die Kreuzfahrer heuerten einen Trupp baskischer Söldner an, die zu Anfang des harten Gebirgswinters hinaufkletterten und nur einen Steinwurf von den Festungsmauern entfernt ihr Lager aufschlugen. Es bestand keine unmittelbare Gefahr, doch Pierre- Roger beschloss, seine Männer von den Außenwerken auf der verwundbaren Ostseite abzuziehen. Der Fehler kam ihn teuer zu stehen. Die Söldner wurden von Kollaborateuren mit Informationen versorgt, wodurch es ihnen gelang, den schroffen Hang auf der südöstlichen Seite des Berges zu erklimmen. Nachdem sie die Wachen niedergestochen hatten, besetzten sie den Roc de la Tour, einen steilen Felsen, der auf dem östlichsten Punkt des Gipfelgrates des Montsegur aufragt. Wir konnten nur hilflos zusehen, wie die Katapulte und Mangomeis mit Hilfe von Winden auf den Roc gehievt wurden. Zudem nahm ein wuchtiges trebuchet das östliche Vorwerk unter Beschuss.

An Weihnachten 1243 nahmen die Franzosen das Vorwerk ein. Nun waren sie nur noch wenige Dutzend Meter von der eigentlichen Festung entfernt. Sie brachten eine neue Belagerungsmaschine in Stellung, in deren Reichweite sowohl die Südmauern als auch die Ostmauern lagen.«

Während er sprach, drehte er unablässig den Ring an seinem Daumen.

Alice, die das beobachtete, kam auf einmal die Erinnerung an einen Mann in den Sinn, der auch einen solchen Ring gedreht hatte, während er ihr Geschichten erzählte.

 

»Zum ersten Mal«, fuhr Audric fort, »mussten sie der Möglichkeit ins Auge sehen, dass Montsegur fallen könnte.

Unten im Tal flatterten noch immer die Standarten und Banner der katholischen Kirche und die fleur-de-lys des französischen Königs, wenngleich sie nach zehn Monaten mit anfänglicher Hitze, dann Regen, dann Schnee zerfetzt und verblichen aussahen. Die Armee der Kreuzfahrer, die von Hugues des Arcis, dem Seneschall von Carcassona, geführt wurde, bestand aus sechs- bis zehntausend Mann. In der Festung waren höchstens einhundert kampfbereite Männer.

Alaïs wollte ...« Er setzte neu an. »Die Führer der Katharerkirche, Bischof Bertrand Marty und Raymond Aiguilher, hielten eine Versammlung ab.«

»Der Schatz der Katharer. Dann stimmt das also? Den hat es gegeben?«

Baillard nickte. »Zwei credentes wurden für die Aufgabe ausgewählt, Matheus und Peter Bonnet. Dick eingepackt gegen die bittere Neujahrskälte, luden sie sich den Schatz auf den Rücken und stahlen sich im Schutze der Nacht aus der Burg. Sie umgingen die Wachen, die auf den passierbaren Wegen postiert waren, die vom Berg durch das Dorf führten, und schlugen sich nach Süden in die Sabarthès-Berge durch.«

Alice riss die Augen weit auf. »Zum Pic de Soularac.«

Wieder nickte er. »Dort übernahmen andere. Da die Pässe nach Aragon und Navarra verschneit waren, zogen sie in Richtung Hafenstädte, von wo sie mit einem Schiff nach Norditalien fuhren. In der Lombardei gab es damals eine blühende, weniger verfolgte Gemeinde von Bons Homes.«

»Was wurde aus den Brüdern Bonnet?«

»Matheus kehrte Ende janvier allein zurück. Diesmal waren die Wachen auf der Straße Einheimische aus Camon sur l'Hers bei Mirepoix, und sie ließen ihn passieren. Matheus berichtete von möglicher Verstärkung. Dass es Gerüchte gab, der König von Aragon würde im Frühjahr kommen. Aber das waren nur tapfere Worte. Mittlerweile war der Belagerungsring so dicht, dass Verstärkungstruppen niemals durchgekommen wären.«

Baillard hob den Blick und sah Alice mit seinen bernsteinfarbenen Augen an. »Alaïs hörte auch Gerüchte, dass Oriane unterwegs nach Süden war, in Begleitung ihres Sohnes und ihres Gatten, um Verstärkung für die Belagerer zu mobilisieren. Das konnte nur eines bedeuten. Sie musste nach all den Jahren, die Alaïs auf der Flucht gewesen war und im Verborgenen gelebt hatte, herausgefunden haben, dass ihre Schwester noch am Leben war. Sie wollte das Buch der Wörter.«

»Das hatte Alaïs doch bestimmt nicht bei sich, oder?«

Audric ging nicht auf die Frage ein. »Mitte Februar rückten die Angreifer erneut vor. Am 1. März 1244, nach einem letzten gescheiterten Versuch, die Basken vom Roc de la Tour zu vertreiben, ertönte ein einsames Hornsignal auf den Wällen der zerstörten Festung.« Er schluckte schwer. »Raymond de Pereille, der seigneur von Montsegur, und Pierre-Roger de Mirepoix, der Kommandant der Garnison, traten vor das große Tor und ergaben sich Hugues des Arcis. Der Kampf war zu Ende. Montsegur, die letzte Festung, war gefallen.«

Alice lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wünschte sich fast wie ein Kind, es wäre anders ausgegangen.

»Es war ein rauer und frostiger Winter auf dem felsigen Berg und in dem darunter liegenden Tal gewesen. Beide Seiten waren ausgezehrt. Die Verhandlungen dauerten nicht lange. Die Kapitulationsurkunde wurde am folgenden Tag von Pierre Amiel, dem Erzbischof von Narbonne, unterzeichnet.

Die Bedingungen waren großzügig. Beispiellos, wie manche sagten. Die Festung würde in den Besitz der katholischen Kirche und der französischen Krone übergehen, aber den Bewohnern drohte für ihre begangenen Verbrechen keine Strafe. Selbst die Mörder der Inquisitoren in Avignonet sollten verschont bleiben. Die Soldaten würden mit nur milden Bußauflagen auf freien Fuß gesetzt, sobald ihre Verbrechen im Inquisitionsregister verzeichnet worden waren. Alle, die dem häretischen Glauben abschworen, sollten ungehindert gehen dürfen. Als einzige Strafe sollten sie ein gelbes Kreuz auf der Kleidung tragen müssen.« »Und wer nicht dazu bereit war?«, fragte Alice.

»Wer sich weigerte, sollte als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.«

Baillard trank wieder einen Schluck Wein.

»Es war üblich, die Vereinbarungen am Ende einer Belagerung durch den Austausch von Geiseln zu besiegeln. In diesem Fall waren das der Bruder von Bischof Bertrand, Raymond, der alte chevalier Arnald-Roger de Mirepoix und Raymond de Pereilles kleiner Sohn.« Baillard hielt kurz inne. »Keineswegs üblich«, fuhr er bedächtig fort, »war dagegen die Gewährung einer zweiwöchigen Gnadenfrist. Die Führung der Katharer bat darum, noch zwei Wochen innerhalb der Festung von Montsegur bleiben zu dürfen, ehe sie den Berg herabkamen. Die Bitte wurde gewährt.«

Alice' Herzschlag beschleunigte sich. »Warum?«

Audric lächelte. »Historiker und Theologen debattieren seit Hunderten von Jahren darüber, warum die Katharer um diese Aufschiebung der Hinrichtung baten. Was musste denn noch getan werden, was nicht bereits geschehen war? Der Schatz war in Sicherheit. Warum wollten die Katharer unbedingt noch länger in der zerstörten und kalten Bergfestung ausharren, nachdem sie schon so viel durchlitten hatten?«

»Und warum?«

»Weil Alaïs bei ihnen war«, sagte er. »Sie brauchte Zeit. Oriane und ihre Männer warteten am Fuß des Berges auf sie. Auch Harif befand sich innerhalb der Zitadelle, außerdem Sajhë und ihre Tochter. Das Risiko war zu groß. Wenn sie in Gefangenschaft gerieten, wären die Opfer, die Simeon und ihr Vater und Esclarmonde gebracht hatten, um das Geheimnis zu hüten, umsonst gewesen.«

Endlich fand auch das letzte Puzzleteilchen seinen Platz, und Alice sah das gesamte Bild, hell und klar und deutlich, obwohl sie ihren eigenen Augen kaum glauben konnte.

Sie blickte aus dem Fenster auf die unveränderliche, beständige Landschaft. Sie sah noch fast genauso aus wie damals, als Alaïs hier gelebt hatte. Dieselbe Sonne, derselbe Regen, derselbe Himmel.

»Sagen Sie mir die Wahrheit über den Gral«, sagte sie ruhig.


Das Verlorene Labyrinth
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