Kapitel 38

 

Die Nacht hatte sich über das Lager der Kreuzfahrer gesenkt. Guy d'Evreux wischte sich die fettigen Hände an dem Tuch ab, das ihm ein ängstlicher Diener hinhielt. Er leerte seinen Becher und spähte zu dem Abt von Citeaux am Kopfende der Tafel hinüber, um zu sehen, ob er schon so weit war aufzustehen.

Er war es nicht.

Blasiert und selbstgefällig hatte sich der Abt in seinen weißen Roben zwischen dem Herzog von Burgund und dem Comte von Nevers platziert. Das ständige Gerangel der beiden samt ihren Anhängern um die besten Plätze hatte schon begonnen, noch ehe das Kreuzheer Lyon verließ.

Ihr eisiger Gesichtsausdruck verriet, das Arnald-Amalric sie wieder einmal peinigte. Häresie, Höllenfeuer, die Gefahren der Landessprache, alles Themen, mit denen er ein Publikum stundenlang quälen konnte.

Evreux hatte vor keinem von ihnen Achtung. Er hielt ihre Ambitionen für jämmerlich - ein paar Goldmünzen, Wein und Huren, ein paar Schlachten und dann ruhmbedeckt zurück nach Hause, nachdem sie ihre vierzig Tage gedient hatten. Lediglich de Montfort, der etwas weiter entfernt an der Tafel saß, schien zuzuhören. In seinen Augen brannte ein unangenehmer Eifer, dem nur der Fanatismus des Abtes gleichkam.

Evreux kannte de Montfort nur dem Namen nach, obwohl sie praktisch Nachbarn waren. Evreux hatte nördlich von Chartres Land mit einem guten Jagdrevier geerbt. Durch eine geschickte Heiratspolitik in Verbindung mit harten Steuern war der Reichtum der Familie in den letzten fünfzig Jahren stetig gewachsen. Er hatte keine Brüder, die ihm den Titel streitig machen könnten, und keine nennenswerten Schulden.

Das Gebiet von de Montfort lag bei Paris, keine zwei Tagesritte von Evreux' Anwesen. Es war bekannt, dass de Montfort das Kreuz auf eine persönliche Bitte des Herzogs von Burgund hin genommen hatte, aber sein Ehrgeiz war ebenso sprichwörtlich wie seine Frömmigkeit und sein Mut. Er hatte an den Feldzügen in Syrien und Palästina teilgenommen und war einer der wenigen Kreuzfahrer gewesen, die sich geweigert hatten, während des Vierten Kreuzzuges ins Heilige Land an der Belagerung der christlichen Stadt Zara teilzunehmen.

De Montfort war zwar inzwischen über vierzig, aber noch immer stark wie ein Ochse. Launisch und verschlossen wie er war, erwiesen ihm seine Männer eine ungewöhnliche Treue, wohingegen ihm viele Barone mit Argwohn begegneten, weil sie ihn für verschlagen und krankhaft ehrgeizig hielten. Evreux verabscheute ihn, so wie er all jene verabscheute, die ihre Taten zum Werk Gottes erklärten.

Evreux hatte das Kreuz nur aus einem einzigen Grund genommen. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, würde er nach Chartres zurückkehren, und zwar mit den Büchern, hinter denen er schon sein halbes Leben lang herjagte. Er hatte keineswegs die Absicht, auf dem Altar des Glaubens anderer zu sterben.

»Was ist?«, knurrte er den Diener an, der dicht neben ihn getreten war.

»Ein Bote für Euch, Herr.«

Evreux blickte auf. »Wo ist er?«, fragte er schneidend.

»Er wartet vor dem Lager. Er wollte seinen Namen nicht nennen.«

»Aus Carcassonne?«

»Das wollte er nicht sagen, Herr.«

Mit einer kurzen Verbeugung Richtung Kopfende der Tafel entschuldigte sich Evreux und schlich davon. Sein blasses Gesicht

war gerötet. Er schritt rasch zwischen den Zelten und Tieren hindurch zu der Lichtung am östlichen Rand des Lagers. Zunächst konnte er nur eine undeutliche Gestalt im Dunkeln zwischen den Bäumen ausmachen. Als er näher kam, erkannte er den Mann als den Diener eines Spitzels in Beziers.

»Und?«, fragte er mit vor Enttäuschung harter Stimme.

Der Bote fiel auf die Knie. »Wir haben ihre Leichen in einem Wald vor Coursan gefunden.«

Evreux' graue Augen verengten sich. »Coursan? Sie sollten doch Trencavel und seine Männer verfolgen. Was hatten sie in Coursan zu schaffen?«

»Das kann ich nicht sagen, Herr«, stammelte der Mann.

Auf ein Zeichen von Evreux hin traten zwei seiner Männer hinter den Bäumen hervor, die Hand ruhig auf dem Schwertgriff. »Was habt ihr sonst noch gefunden?«

»Nichts, Herr. Wappenröcke, Waffen, Pferde, sogar die Pfeile, die sie getötet haben ... alles weg. Die Leichen waren entkleidet worden. Man hatte alles mitgenommen.«

»Ist bekannt, wer es war?«

Die Diener machten einen Schritt zurück. »Im castellum reden alle nur von Amiel de Coursans Tapferkeit, und nicht darüber, wer die Männer waren. Es war auch eine Frau dabei, die Tochter des Intendanten von Vicomte Trencavel. Alaïs ist ihr Name.«

»War sie allein unterwegs?«

»Das weiß ich nicht Herr, aber de Coursan hat sie persönlich nach Besiers begleitet. Dort hat sie sich im jüdischen Viertel mit ihrem Vater getroffen. Die beiden haben einige Zeit im Haus eines Juden verbracht.«

Evreux stutzte. »Was du nicht sagst«, murmelte er, und ein Lächeln verzog seine dünnen Lippen. »Und wie heißt der Jude?«

»Seinen Namen hat man mir nicht genannt, Herr.«

»Hat er sich dem Exodus nach Carcassona angeschlossen?«

»Ja, Herr.«

Evreux war erleichtert, obwohl er es nicht zeigte. Er befingerte den Dolch an seinem Gürtel. »Wer weiß sonst noch davon?« »Niemand, Herr, das schwöre ich. Ich habe es niemandem erzählt.«

Evreux stach ohne Vorwarnung zu, stieß den Dolch tief in die Kehle des Boten. Die Augen des Mannes weiteten sich vor Entsetzen, und er begann zu röcheln, während seine letzten Atemzüge aus der Wunde zischten und ein roter Blutstrahl auf die Erde vor ihm spritzte. Der Bote sackte auf die Knie, versuchte panisch, die Klinge aus seiner Kehle zu reißen, wobei er sich die Hände aufschnitt, und kippte schließlich nach vorn.

Einen Augenblick lang zuckte der Körper heftig auf der blutgetränkten Erde, bis ihn schließlich ein letztes Schaudern durchlief und er reglos liegen blieb.

Evreux' Gesicht war völlig ausdruckslos. Er streckte eine Hand aus, Innenfläche nach oben, und wartete, bis einer seiner Soldaten ihm den Dolch wiedergab. Er wischte die Klinge an einem Zipfel der Tunika des Toten ab und schob sie zurück in die Scheide.

»Lasst ihn verschwinden«, sagte Evreux und stieß mit der Stiefelspitze gegen die Leiche. »Ich will, dass dieser Jude gefunden wird. Ich will wissen, ob er noch unterwegs ist oder schon in Car- cassona. Habt ihr eine Beschreibung von ihm?«

Der Soldat nickte.

»Gut. Stört mich heute nicht mehr, es sei denn, es gibt Neuigkeiten von dort.«


Das Verlorene Labyrinth
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