Kapitel 74
Los Seres

 

Ich will die Wahrheit wissen«, wiederholte Alice. »Ich will wissen, wie das Labyrinth und der Gral Zusammenhängen. Ob überhaupt ein Zusammenhang besteht.«

»Die Wahrheit über den Gral«, sagte er und blickte sie eindringlich an. »Madomaisela, erzählen Sie mir, was Sie über den Gral wissen.«

»Na, das Übliche, vermute ich«, sagte sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ernsthaft an ihrer Antwort interessiert war. »Nein, im Ernst. Ich möchte gern wissen, was Sie herausgefunden haben.«

Alice rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Eigentlich kenne ich nur die landläufige Meinung, dass es ein Kelch mit einem Elixier darin war, durch das man das Geschenk des ewigen Lebens erlangen konnte.«

Sie brach ab und sah Baillard verlegen an.

»Ein Geschenk?«, fragte er und schüttelte den Kopf. »Nein, kein Geschenk.« Er seufzte. »Und was glauben Sie, wo diese Überlieferungen herstammen?«

»Vermutlich aus der Bibel. Oder aus den Schriftrollen vom Toten Meer. Vielleicht auch aus anderen frühchristlichen Schriften, ich weiß es nicht genau. Die Frage habe ich mir noch nie gestellt.«

Audric nickte. »Das ist ein verbreiteter Irrtum. Tatsächlich stammen die ersten Versionen der Geschichte, die Sie gerade zusammengefasst haben, aus dem 12. Jahrhundert, obwohl es offensichtliche Übereinstimmungen mit Themen der klassischen und der keltischen Literatur gibt. Und vor allem mit mittelalterlichen französischen Texten.«

Plötzlich musste sie an die Karte denken, die sie in der Bibliothek in Toulouse gefunden hatte.

»Wie das Labyrinth.«

Er lächelte, ging aber nicht darauf ein. »Im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts lebte ein Dichter namens Chrétien de Troyes. Seine erste Gönnerin war eine Tochter von Eleonore von Aquitanien, Marie, die Gemahlin des Comte der Champagne. Später weilte er auch am Hofe des Comte Philip von Flandern, der ein Vetter Maries war.

Chrétien war zu seiner Zeit ungeheuer beliebt. Bekannt wurde er durch seine Übersetzungen klassischer Texte aus dem Lateinischen und Griechischen, bevor er eine Reihe von Versepen über die Ritter schrieb, die Sie wahrscheinlich als Lancelot, Gawain und Parzival kennen. Seine allegorischen Erzählungen lösten eine Flut von Geschichten über König Artus und seine Ritter der Tafelrunde aus.« Er hielt inne. »Die Parzival-Erzählung - Li contes del graal - ist der früheste erhaltene Text über den Heiligen Gral.«

»Aber ...«, setzte Alice stirnrunzelnd zum Widerspruch an. »Er kann sich das doch nicht einfach ausgedacht haben ? So was doch nicht. So was saugt man sich nicht aus den Fingern.«

Wieder huschte das schwache Lächeln über Audrics Gesicht. »Als Chrétien aufgefordert wurde, seine Quelle zu nennen, behauptete er, er habe die Geschichte vom Gral aus einem Buch, das sein Gönner Philip ihm geschenkt habe. Und tatsächlich ist die Geschichte vom Gral diesem Philip gewidmet. Leider starb Philip 1191 auf dem Dritten Kreuzzug bei der Belagerung von Akkon. Deshalb wurde das Epos nie vollendet.«

»Was wurde aus Chrétien?«

»Nach Philips Tod verliert sich seine Spur. Er verschwand einfach.«

»Ist das nicht eigenartig, wo er doch so berühmt war?« »Möglicherweise wurde sein Tod einfach nicht beurkundet«, sagte Baillard langsam.

Alice sah ihn fragend an. »Aber das glauben Sie nicht?«

Audric ging über die Frage hinweg. »Trotz Chrétiens Entscheidung, die Erzählung nicht zu vollenden, entwickelte die Geschichte vom Heiligen Gral ihr Eigenleben. Es entstanden direkte Adaptationen aus dem Altfranzösischen ins Mittelhochdeutsche und Altwalisische. Wenige Jahre später schrieb der deutsche Dichter Wolfram von Eschenbach eine ziemlich burleske Version. Er behauptete, dabei nicht auf Chrétiens Vorlage zurückgegriffen zu haben, sondern auf eine andere Erzählung von einem unbekannten Autor.«

Alice überlegte angestrengt. »Wie beschreibt Chrétien denn den Gral?«

»Er bleibt recht vage. Aber er stellt ihn nicht als Kelch dar, sondern als eine Art Schale, entsprechend dem lateinischen gradalis, aus dem das altfranzösische gradal oder graal entstanden ist. Eschenbach ist da deutlicher. Bei ihm ist der Gral - gräl - ein Stein.«

»Und woher kommt dann die Vorstellung, dass der Heilige Gral der Kelch ist, den Christus beim letzten Abendmahl benutzte?«

Audric drückte die Fingerspitzen aneinander. »Sie geht auf einen Dichter zurück, einen Mann namens Robert de Boron. Irgendwann zwischen Chrétiens Perceval und dem Jahr 1199 schrieb er ein Versgedicht mit dem Titel Joseph d'Arimathie. Bei de Boron ist der Gral nicht nur ein Gefäß - der Kelch des letzten Abendmahls, den er als san greal bezeichnet -, sondern er füllt ihn auch noch mit dem Blut vom Kreuz. Im Altfranzösischen das sang real - das >wahre< oder >königliche< Blut.«

Er unterbrach sich kurz und sah Alice an.

»Für die Hüter der Labyrinth-Trilogie bot diese sprachliche Konfusion - san greal und sang real - eine praktische Möglichkeit der Verschleierung.« »Aber der Heilige Gral ist ein Mythos«, sagte sie hartnäckig. »Er kann nicht wahr sein.«

»Der Heilige Gral ist ein Mythos, keine Frage«, sagte er und hielt ihren Blick fest. »Eine schöne Legende. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, dass alle diese Geschichten Ausschmückungen ein und desselben Themas sind. Die mittelalterliche christliche Vorstellung von Opfer und Suche, die zu Buße und Erlösung führt. Der Heilige Gral war in der christlichen Terminologie etwas Spirituelles, ein Symbol des ewigen Lebens, nichts, was für bare Münze zu nehmen war. Dahinter stand der Gedanke, dass die Menschheit durch den Opfertod Christi und die Gnade Gottes das ewige Leben erlangt.« Er lächelte. »Aber dass so etwas wie der Gral existiert, das steht außer Zweifel. Das ist die Wahrheit, die die Seiten der Labyrinth-Trilogie in sich bergen. Und um dieses Geheimnis zu wahren, gaben die Gralshüter, die Noublesso de los Seres, ihr Leben.«

Alice schüttelte ungläubig den Kopf. »Wollen Sie damit sagen, dass der Gral gar keine christliche Vorstellung ist? Dass all die Mythen und Legenden auf einem ... einem Missverständnis aufbauen?«

»Eher auf einer List als auf einem Missverständnis.«

»Aber seit zweitausend Jahren wird über die Existenz des Heiligen Grals gestritten. Wenn sich jetzt herausstellt, dass diese Gralslegenden zwar einen wahren Kern haben ... « Alice suchte nach den richtigen Worten, obwohl sie das, was sie da sagte, kaum glauben konnte. »Dass es sich aber bei dem Gral gar nicht um eine christliche Reliquie handelt. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen ... «

»Der Gral ist ein Elixier, das die Kraft hat zu heilen und das Leben erheblich zu verlängern. Aber zu einem bestimmten Zweck. Es wurde vor rund viertausend Jahren im alten Ägypten entdeckt. Und diejenigen, die es zusammengebraut und seine Macht erkannt hatten, hielten es für klüger, das Geheimnis vor Menschen zu schützen, die es nur für ihren eigenen Nutzen einsetzen würden und nicht zum Nutzen anderer. Das geheime Wissen wurde auf drei einzelnen Papyrusbögen in Hieroglyphen aufgezeichnet. Auf dem einen wurde das Innere der Gralskammer genau beschrieben, das eigentliche Labyrinth. Das zweite listete die Ingredienzien für die Zubereitung des Elixiers auf. Auf dem dritten stand die Beschwörungsformel, durch die das Elixier in den Gral verwandelt wird. Sie verbargen sie in den Höhlen außerhalb der alten Stadt Avaris.«

»Ägypten«, stieß Alice hervor. »Bei meinen Recherchen, als ich dahinter kommen wollte, was ich hier gesehen hatte, ist mir aufgefallen, wie häufig Ägypten erwähnt wurde.«

Audric nickte. »Die Papyri sind in klassischen Hieroglyphen geschrieben - das Wort selbst bedeutet >Worte Gottes< oder göttliche Sprachen Mit dem Untergang der großen Kultur Ägyptens ging auch die Fähigkeit verloren, die Hieroglyphen zu lesen. Das Wissen, das in den Papyri enthalten war, wurde bewahrt und über die Generationen hinweg von Hüter zu Hüter weitergegeben. Aber die Fähigkeit, die Beschwörungsformel zu sprechen und den Gral zu rufen, ging verloren.

Diese Entwicklung war zwar nicht geplant gewesen, aber sie sorgte für eine zusätzliche Geheimhaltungsschicht«, fuhr er fort. »Doch dann entschlüsselte im 9. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung ein arabischer Alchimist namens Abu Bakr Ahmad Ibn Wahshiyah das Geheimnis der Hieroglyphen. Zum Glück erkannte der Navigataire Harif die Gefahr und konnte Abu Bakrs Versuche vereiteln, sein Wissen weiterzugeben. In jener Zeit gab es nur wenige Zentren der Gelehrsamkeit, und die Kommunikationswege waren langsam und unzuverlässig. Danach wurden die Papyri nach Jerusalem geschmuggelt und dort in unterirdischen Kammern auf den Ebenen von Sepal verborgen.

Vom 9. bis zum 19. Jahrhundert machte niemand mehr entscheidende Fortschritte in der Hieroglyphenentschlüsselung.

Niemand. Ihre Bedeutungen wurden erst wieder erhellt, als 1799 im Zuge der ägyptischen Expedition Napoleons, die nicht nur militärisch, sondern auch wissenschaftlich ausgerichtet war, eine detaillierte Inschrift gefunden wurde, die in der heiligen Sprache der Hieroglyphen, in der damals verbreiteten demotischen Schrift und in Griechisch abgefasst war. Haben Sie schon von dem Stein von Rosette gehört?«

Alice nickte.

»Von diesem Moment an fürchteten wir, dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre. Der Franzose Jean-Francois Champollion war besessen von der Idee, den Code zu knacken. 1822 gelang es ihm schließlich. Die Wunder der alten Welt, ihre Magie, ihre Zaubersprüche, alles, von Grabinschriften bis zum Buch der Toten, alles konnte plötzlich gelesen werden.« Er seufzte. »Mit einem Mal war es äußerst besorgniserregend, dass sich zwei Bücher der Labyrinth-Trilogie in den Händen von Leuten befanden, die sie für ihre Zwecke missbrauchen würden.«

Seine Worte klangen wie eine Warnung. Alice fröstelte. Sie merkte jetzt, dass der Tag zur Neige ging. Draußen färbten die Strahlen der untergehenden Sonne die Berge rot und gold und orange.

»Aber wenn das Wissen so gefährlich ist, sobald es für schlechte Ziele eingesetzt wird, warum haben Alaïs und die anderen Hüter die Bücher dann nicht vernichtet, als sie die Möglichkeit hatten?«, fragte sie.

Sie spürte, wie Audric sich sammelte, und sie begriff, dass sie irgendwie zum Kern seiner Erfahrung, der Geschichte, die er erzählte, vorgedrungen war, obwohl ihr nicht klar war, wieso. »Wenn die Bücher nicht gebraucht worden wären, dann ja. Vielleicht wäre das eine Lösung gewesen.«

»Gebraucht? In welcher Hinsicht gebraucht?«

»Die Hüter wussten schon immer, dass der Gral Leben verleiht. Sie haben es als Geschenk bezeichnet«, er holte tief Luft, »und ich kann verstehen, dass manche es so sehen. Andere sehen es vielleicht mit anderen Augen.« Audric verstummte. Er griff nach seinem Glas und trank etliche Schlucke Wein, ehe er es mit schwerer Hand wieder auf den Tisch stellte. »Aber das Leben wird für einen bestimmten Zweck geschenkt.«

»Welchen Zweck?«, fragte sie rasch, aus Angst, er könnte an dieser Stelle abbrechen.

»In den vergangenen viertausend Jahren ist die Macht des Grals häufig beschworen worden, wenn die dringende Notwendigkeit bestand, Zeugnis abzulegen. Die großen, langlebigen Patriarchen der christlichen Bibel, des Talmud, des Koran sind uns vertraut. Adam, Jakob, Moses, Mohammed, Methusalem. Propheten, deren Werk nicht in der üblichen Lebensdauer des Menschen vollendet werden konnte. Sie alle lebten Hunderte von Jahren.«

»Aber das sind doch Parabeln«, wandte Alice ein. »Allegorien.« Audric schüttelte den Kopf. »Sie lebten deshalb jahrhundertelang, damit sie berichten konnten, was sie erlebt hatten, damit sie die Wahrheit ihrer Zeit bezeugen konnten. Harif, der Abu Bakr überreden konnte, sein Wissen über die Sprache des alten Ägyptens für sich zu behalten, lebte lange genug, um den Fall von Montsegur zu bezeugen.«

»Aber das sind ja rund vierhundert Jahre.«

»Sie lebten«, wiederholte Audric einfach. »Denken Sie an das Leben eines Schmetterlings, Alice. Eine ganze Existenz, so strahlend, aber sie währt mitunter nur einen menschlichen Tag. Ein ganzes Leben. Zeit hat viele Bedeutungen.«

Alice schob ihren Stuhl zurück und ging vom Tisch weg. Sie wusste nicht mehr, was sie empfand, was sie glauben sollte.

Sie wandte sich um. »Das Labyrinth-Symbol, das ich an der Höhlenwand gesehen habe, auf dem Ring, den Sie tragen, ist das das Symbol das wahren Grals?«

Er nickte.

»Und Alaïs? Sie wusste das alles?«

»Zuerst war sie skeptisch, genau wie Sie. Sie glaubte nicht an die

Wahrheit, die in den Seiten der Trilogie enthalten ist, aber aus Liebe zu ihrem Vater kämpfte sie darum, die Bücher zu schützen.«

»Sie glaubte, dass Harif über vierhundert Jahre alt war?«, hakte sie nach, versuchte nicht mehr, die Skepsis in ihrer Stimme zu kaschieren.

»Zuerst nicht, nein«, räumte er ein. »Doch im Laufe der Zeit erkannte sie die Wahrheit. Und als ihre Zeit kam, merkte sie, dass sie die Worte sprechen konnte, sie verstehen konnte.« Alice kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder. »Aber warum gerade Frankreich? Warum wurden die Papyri überhaupt hierher gebracht? Warum ließ man sie nicht dort, wo sie waren?«

Audric lächelte. »Im 10. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung brachte Harif die Papyri in die Heilige Stadt und ließ sie auf den Ebenen von Sepal verstecken. Fast einhundert Jahre lang waren sie dort sicher, bis die Armeen Saladins auf Jerusalem vorrückten. Er wählte einen der Hüter aus, einen jungen christlichen chevalier namens Bertrand Pelletier, um die Papyri nach Frankreich zu bringen.«

Alaïs' Vater.

Alice merkte, dass sie lächelte, als hätte sie gerade Neuigkeiten über einen alten Freund erfahren.

»Harif erkannte zweierlei«, erzählte Audric weiter. »Erstens, dass die Papyri innerhalb der Seiten eines Buches sicherer und geschützter aufgehoben wären. Zweitens, dass die Wahrheit sich am besten unter einer Schicht aus Mythen und Legenden verbergen ließ, denn an den Höfen Europas zirkulierten inzwischen immer mehr Gerüchte über den Gral.«

»Zum Beispiel, dass die Katharer im Besitz des Kelches Christi wären«, sagte Alice, die plötzlich begriff.

Baillard nickte. »Die Jünger des Jesus von Nazareth rechneten nicht damit, dass er am Kreuz sterben würde, aber so kam es. Sein Tod und seine Auferstehung förderten die Entstehung von Geschichten von einem heiligen Becher oder Kelch, einem Gral, der ewiges Leben schenkte. Wie diese Geschichten damals gedeutet wurden, weiß ich nicht, aber fest steht, dass die Kreuzigung des Nazareners eine regelrechte Verfolgungswelle auslöste. Viele flohen aus dem Heiligen Land, darunter auch Joseph von Arimathäa und Maria Magdalena, die beide mit dem Schiff nach Frankreich kamen. Und es wird gesagt, dass sie das Wissen um ein uraltes Geheimnis mitbrachten.«

»Die Gralspapyri?«

»Oder irgendeinen Schatz, die Juwelen aus dem Tempel Salomons. Oder den Kelch, aus dem Jesus von Nazareth beim letzten Abendmahl trank und in dem sein Blut aufgefangen wurde, als er am Kreuz hing. Oder Pergamente, schriftliche Zeugnisse, die belegten, dass Christus nicht am Kreuz gestorben war, sondern lebte, sich hundert und mehr Jahre mit einer kleinen auserwählten Schar von Gläubigen in den Bergen der Wüste versteckt hielt.«

Alice hatte es die Sprache verschlagen. Sie starrte Audric an, aber sein Gesicht war wie ein verschlossenes Buch, und sie konnte nichts darin lesen.

»Dass Christus nicht am Kreuz gestorben war«, wiederholte sie und konnte kaum glauben, was sie da sagte.

»Oder andere Erzählungen«, sagte er langsam. »Manche behaupteten, dass Maria Magdalena und Joseph von Arimathäa nicht in Marseille, sondern in Narbonne gelandet waren. Seit Jahrhunderten glaubt man, dass etwas sehr Wertvolles irgendwo in den Pyrenäen versteckt worden ist.«

»Dann waren es also nicht die Katharer, die das Geheimnis des Grals besaßen«, folgerte Alice, »sondern Alaïs. Und sie boten ihr Zuflucht.«

Alice lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ging die Ereignisse noch einmal in Gedanken durch.

»Und jetzt ist die Labyrinth-Höhle geöffnet worden.«

»Zum ersten Mal seit fast achthundert Jahren können die Bücher wieder zusammengeführt werden«, sagte er. »Und obwohl Sie, Alice, nicht genau wissen, ob Sie mir glauben oder das, was ich Ihnen erzählt habe, als das wahnhafte Gerede eines alten Mannes abtun sollen, gibt es andere, die nicht daran zweifeln.«

Alaïs glaubte an die Wahrheit des Grals.

Tief in ihrem Innern, jenseits der Grenzen ihres bewussten Denkvermögens, wusste Alice, dass er die Wahrheit sagte. Aber ihrem rationalen Ich fiel es schwer, das zu akzeptieren. »Marie-Cecile«, sagte sie dumpf.

»Heute Nacht wird Madame de l'Oradore in die Labyrinth- Höhle gehen und versuchen, den Gral zu beschwören.«

Alice spürte, wie eine Welle der Furcht sie erfasste.

»Aber das kann sie nicht«, sagte sie rasch. »Ihr fehlt das Buch der Wörter. Ihr fehlt der Ring.«

»Ich fürchte, sie hat begriffen, dass das Buch der Wörter noch immer in der Kammer sein muss.«

»Stimmt das?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Und der Ring? Den hat sie doch auch nicht.« Sie senkte den Blick auf seine dünnen Hände, die flach auf dem Tisch lagen. »Sie weiß, dass ich kommen werde.«

»Aber das ist doch Wahnsinn«, entfuhr es ihr. »Wie können Sie auch nur im Traum daran denken, dorthin zu gehen?«

»Heute Nacht wird sie versuchen, den Gral zu beschwören«, sagte er mit tiefer, gleichmütiger Stimme. »Und deshalb wissen sie, dass ich kommen werde.«

Alice schlug klatschend mit den Händen auf den Tisch. »Was ist mit Will? Was ist mit Shelagh? Ist Ihnen das Schicksal der beiden denn völlig gleichgültig? Es wird ihnen nichts nützen, wenn Sie auch noch gefasst werden.«

»Gerade weil die beiden - weil Sie, Alice - mir nicht gleichgültig sind, werde ich gehen. Ich glaube, dass Marie-Cecile sie zwingen wird, an der Zeremonie teilzunehmen. Es müssen fünf Teilnehmer da sein, der Navigataire und vier weitere.« »Marie-Cecile, ihr Sohn, Will, Shelagh und Authié

»Nein, nicht Authié. Jemand anderer.«

»Wer dann?«

Er überging die Frage. »Ich weiß nicht, wo Shelagh und Will in diesem Moment sind«, sagt er, als dächte er laut nach, »aber ich bin überzeugt, dass sie bei Anbruch der Nacht zur Höhle gebracht werden.«

»Wer, Audric?«, wiederholte Alice, diesmal nachdrücklicher. Wieder antwortete er nicht. Er erhob sich, ging zum Fenster und schloss die Läden, ehe er sich wieder zu ihr umwandte.

»Wir müssen gehen.«

Alice war frustriert, nervös, durcheinander und vor allem verängstigt. Und doch hatte sie gleichzeitig das Gefühl, keine andere Wahl zu haben.

Sie dachte an Alaïs' Namen auf dem Stammbaum, wie er da stand, achthundert Jahre von ihrem eigenen entfernt. Sie sah das Symbol des Labyrinths vor sich, das sie über Zeit und Raum hinweg miteinander verband.

Zwei Geschichten zu einer verwoben.

Alice nahm ihre Sachen und folgte Audric hinaus in das letzte Licht des sich neigenden Tages.

Das Verlorene Labyrinth
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