Kapitel 30
Carcassonne

 

Dienstag, 5. Juli 2005

 

Alice spürte, wie sich ihre Stimmung hob, als sie im Wagen saß und Toulouse hinter sich ließ.

Die Autobahn führte mitten durch eine fruchtbare grüne und braune Ackerlandschaft. Hier und da sah sie Felder mit Sonnenblumen, die Köpfe von der späten Nachmittagssonne weggedreht. Die meiste Zeit verliefen die Gleise des Hochgeschwindigkeitszuges parallel zur Straße. Nach den Bergen und welligen Tälern der Ariege, die ihr erster Eindruck von diesem Teil Frankreichs gewesen waren, kam ihr diese Landschaft irgendwie zahmer vor.

Auf den Hügeln sah sie kleine Dörfer liegen. Einzelne Häuser mit geschlossenen Fensterläden und einem cloche-mur, dessen Glocken sich vor dem rosa dämmrigen Himmel abhoben. Sie las die Namen der Orte, an denen sie vorbeikam - Avignonet, Castelmaudary, Saint-Papoul, Bram - und ließ sich die Worte wie Wein über die Zunge rollen. Vor ihrem geistigen Auge verhieß jeder einzelne von ihnen Straßen mit Kopfsteinpflaster und helle Steinmauern, die vergessene Geschichte in sich bargen.

Sie kam ins Departement Aude. Ein braunes Schild verkündete: Vous etes en Pays Cathare. Sie lächelte. Katharerland. Ihr war rasch klar geworden, dass sich diese Gegend ebenso sehr über ihre Vergangenheit definierte wie über ihre Gegenwart. Nicht nur Foix, sondern auch Toulouse, Beziers und Carcassonne selbst, all die großen Städte hier im Südwesten lebten noch immer im Schatten der Ereignisse, die sich vor fast achthundert Jahren zugetragen hatten. Bücher, Souvenirs, Ansichtskarten, Videos, eine ganze Touristenindustrie lebte davon. Wie die Abendschatten, die sich immer weiter nach Westen streckten, so schienen auch diese Schilder sie nach Carcassonne zu ziehen.

Um neun Uhr hatte Alice die Mautstelle passiert und folgte den Schildern Richtung Stadtzentrum. Sie war nervös und aufgeregt, fühlte sich seltsam beklommen, als sie durch die grauen Gewerbegebiete und Einkaufsparks am Stadtrand fuhr. Sie war ganz nah dran, das spürte sie jetzt.

Wenn die Ampeln auf Grün sprangen, schwamm Alice mit dem Verkehrsstrom mit, fuhr über Kreisverkehre und Brücken und war dann plötzlich wieder in der freien Natur. Entlang der Straße wuchsen dürre Sträucher, wilde Gräser und vom Wind gebeugte knorrige Bäume.

Alice erreichte einen Hügelkamm, und da war sie.

Die mittelalterliche Cité beherrschte die Landschaft. Sie war wesentlich imposanter, als Alice gedacht hatte, wuchtiger und vollkommener. Aus dieser Entfernung und mit den dunkelroten Bergen, die sich weit dahinter als deutliches Relief erhoben, sah die Cité aus wie ein verzaubertes Königreich, das im Himmel schwebte.

Alice verliebte sich auf den ersten Blick.

Sie hielt am Straßenrand und stieg aus. Es gab zwei Festungswälle, einen inneren und äußeren Ring. Sie konnte die Kathedrale und die Burg erkennen. Ein rechteckiger, symmetrischer Turm, sehr schlank, sehr hoch, überragte alles andere.

Die Cité lag oben auf einem grasbewachsenen Berg. Die Hänge führten zu Straßen hinunter, die von rot gedeckten Häusern gesäumt wurden. In der Ebene am Fuße des Berges sah Alice Weinfelder, Feigen- und Olivenbäume, lange Reihen mit schweren, reifen Tomaten.

Sie hatte keine Lust, näher heranzufahren und dadurch den Bann vielleicht zu brechen, deshalb schaute Alice zu, wie die Sonne unterging und allem die Farbe nahm. Sie fröstelte, die Abendluft auf ihren nackten Armen war kühl.

Die Erinnerung lieferte ihr die Worte, die sie brauchte. Am Ausgangspunkt anzukommen und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.

Zum ersten Mal verstand Alice ganz genau, was T. S. Eliot damit gemeint hatte.


Das Verlorene Labyrinth
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