Kapitel 29
Als sie durch die Stadt zurückhasteten, war nicht zu übersehen, dass ein Exodus begonnen hatte.
Juden und Sarazenen strebten zum Haupttor, manche zu Fuß, manche mit Karren, auf denen sich ihre Habe türmte, Bücher, Karten, Möbel. Geldverleiher führten gesattelte Pferde, die Körbe, Truhen, Waagen und Pergamentrollen trugen. Alaïs bemerkte auch ein paar christliche Familien in der Menschenmenge.
Der Palasthof des Suzeräns leuchtete weiß in der Morgensonne. Als sie durch das Tor kamen, sah Alaïs an der Miene ihres Vaters, wie erleichtert er war, dass die Versammlung des Rates noch nicht zu Ende war.
»Weiß sonst noch jemand, dass du hier bist?«
Alaïs blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen, denn erst jetzt merkte sie, dass sie noch gar nicht an Guilhem gedacht hatte. »Nein. Ich habe mich gleich auf den Weg zu Euch gemacht.« Der freudige Ausdruck, der kurz über das Gesicht ihres Vaters huschte, ärgerte sie.
Er nickte. »Warte hier. Ich werde Vicomte Trencavel von deiner Anwesenheit unterrichten und seine Erlaubnis erbitten, dass du mit uns reiten darfst. Auch dein Gemahl sollte es erfahren.« Alaïs sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit des Hauses verschwand. Dann wandte sie sich um und ließ den Blick über den Hof schweifen. Tiere dösten, ungerührt von den Problemen der Menschen, ausgestreckt im Schatten, ihr Fell flach gegen die kühlen, hellen Mauern gedrückt. Trotz ihrer Erlebnisse und trotz der Geschichten, die Amiel de Coursan ihr erzählt hatte, fiel es ihr hier an diesem ruhigen, friedlichen Ort schwer zu glauben, dass die Gefahr so bedrohlich nahe war, wie alle sagten. Hinter ihr wurden die Türen aufgestoßen, und eine Schar von Männern kam die Stufen herabgeeilt und strömte über den Hof. Alaïs drückte sich gegen eine Säule, um nicht mitgerissen zu werden.
Plötzlich erschallten überall auf dem Hof Rufe und Kommandos, Befehle, die kaum erteilt sogleich befolgt wurden, und écuyers holten im Laufschritt die Pferde ihrer Herren. Im Nu verwandelte sich der Palast vom Verwaltungssitz in das Herz einer Garnison.
In dem Tohuwabohu hörte Alaïs jemanden ihren Namen rufen. Guilhem. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie drehte sich um und reckte den Hals, um zu sehen, wo seine Stimme herkam.
» Alaïs«, rief er ungläubig. »Wieso? Was macht Ihr hier?«
Jetzt sah sie ihn. Er kam durch die Menge auf sie zu, bahnte sich einen Weg, bis er sie in die Arme schloss, hochhob und so fest drückte, dass sie dachte, er würde ihr das letzte bisschen Atemluft aus dem Körper pressen. Ihn zu sehen, seinen Duft zu riechen, verdrängte für einen Augenblick jeden anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Alles war vergeben und vergessen. Es machte sie fast ein wenig verlegen, dass er sich offenbar so maßlos freute, sie zu sehen. Alaïs schloss die Augen und stellte sich vor, sie beide wären allein, wie von Zauberhand wieder im Château Comtal, und alle Kümmernisse der letzten Tage wären nur noch ein fast vergessener böser Traum.
»Ihr habt mir so gefehlt«, sagt Guilhem und küsste ihren Hals, ihre Schulter, ihre Hände. Alaïs fuhr zusammen.
»Mon cör, was habt Ihr?«
»Nichts«, versicherte sie rasch.
Guilhem hob ihren Mantel ein wenig an und sah die dunkellila verfärbte Prellung an ihrer Schulter. »Nichts, beim Sant Foy. Wie um alles in der Welt ist das ... «
»Ich bin gestürzt«, sagte sie. »Und die Schulter hat das meiste abbekommen. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Bitte, macht Euch keine Sorgen.«
Guilhem blickte unsicher, hin- und hergerissen zwischen Sorge und Skepsis. »Verbringt Ihr so Eure Stunden, wenn ich fort bin«, sagte er, jetzt mit Argwohn in den Augen. Er machte einen Schritt zurück. »Warum seid Ihr hier, Alaïs?«
Sie zögerte. »Um meinem Vater eine Nachricht zu bringen.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, erkannte Alaïs, dass sie das Falsche gesagt hatte. Sofort schlug ihre Freude in Furcht um. Seine Miene verfinsterte sich.
»Was für eine Nachricht?«
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was mochte ihr Vater gesagt haben? Was für einen Vorwand konnte sie angeben?
»Ich ...«
»Was für eine Nachricht, Alaïs?«
Sie stockte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie beide unbeschwert miteinander umgingen, doch sie hatte ihrem Vater ein Versprechen gegeben.
»Messire, verzeiht mir, doch das kann ich nicht sagen. Die Nachricht war nur für seine Ohren bestimmt.«
»Könnt Ihr nicht oder wollt Ihr nicht?«
»Ich kann nicht, Guilhem«, sagte sie traurig. »Ich wünschte, es wäre anders.«
»Hat er Euch kommen lassen?«, fragte er erbost. »Hat er Euch kommen lassen, ohne mich um Erlaubnis zu fragen?«
»Nein, niemand hat mich kommen lassen!«, rief sie aus. »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.«
»Und doch wollt Ihr mir nicht sagen, warum.«
»Ich flehe Euch an, Guilhem. Verlangt nicht von mir, dass ich das meinem Vater gegebene Wort breche. Bitte. Versucht mich zu verstehen.«
Er packte ihre beiden Arme und schüttelte sie. »Ihr wollt es mir nicht sagen? Nein?« Er stieß ein jähes, bitteres Lachen aus. »Und ich dachte wirklich, ich käme für Euch an erster Stelle. Was war ich doch für ein Narr!«
Alaïs wollte ihn festhalten, doch er stürmte bereits durch die Menge davon. »Guilhem! Wartet.«
»Was ist los?«
Sie fuhr herum und sah ihren Vater hinter sich stehen.
»Mein Gemahl ist gekränkt, weil ich nicht bereit war, mich ihm anzuvertrauen.«
»Hast du ihm gesagt, dass ich dir verboten habe, mit ihm darüber zu sprechen?«
»Ich habe es versucht, doch er wollte mir nicht zuhören.« Pelletiers Miene verfinsterte sich. »Er hat kein Recht, von dir zu verlangen, dass du dein Wort brichst.«
Alaïs spürte Zorn in sich aufsteigen und widersprach ihm.
»Mit Verlaub, Paire, er hat alles Recht der Welt. Er ist mein Gemahl. Er verdient meine Ergebenheit und meine Treue.«
»Du bist nicht untreu«, sagte Pelletier ungehalten. »Sein Zorn wird vergehen. Das hier ist nicht der rechte Ort und nicht der rechte Zeitpunkt.«
»Er ist sehr empfindsam. Kränkungen treffen ihn tief.«
»Wie uns alle«, entgegnete er. »Jeder von uns ist empfindsam. Aber wir anderen lassen unseren Verstand nicht von unseren Gefühlen beherrschen. Komm, Alaïs. Denk nicht mehr dran. Guilhem ist hier, um seinem Seigneur zu dienen, nicht, um mit seiner Frau zu streiten. Ich bin sicher, wenn wir in Carcassona sind, wird sich alles bald wieder zwischen euch einrenken.« Er küsste sie aufs Haar. »Sei unbesorgt. Und jetzt hole Tatou. Du musst dich zum Aufbruch bereitmachen.«
Langsam wandte sie sich um und folgte ihm zu den Ställen. »Paire, sprecht mit Oriane, fragt sie, was sie mit der ganzen Sache zu tun hat. Ich bin sicher, dass sie irgendetwas darüber weiß, was mir zugestoßen ist.«
Pelletier winkte ab. »Und ich bin sicher, dass du deine Schwester falsch einschätzt. Zwischen euch herrscht schon zu lange Zwietracht, und ich habe mich nicht darum gekümmert, weil ich glaubte, ihr würdet euch schon wieder vertragen.«
»Verzeiht mir, Faire, aber ich glaube, Ihr seht ihren wahren Charakter nicht.«
Pelletier überhörte ihren Einwand. »Du neigst dazu, Oriane zu hart zu beurteilen, Alaïs. Bestimmt hat sie nur aus den besten Motiven deine Pflege übernommen. Hast du sie darauf angesprochen?« Alaïs wurde rot. »Eben. Ich sehe dir an, dass du das nicht getan hast.« Er hielt inne. »Sie ist deine Schwester, Alaïs. Sie hat Besseres von dir verdient.«
Die Ungerechtigkeit des Tadels ließ erneut den Zorn aufflammen, der in ihrer Brust glimmte.
»Nicht ich bin es, die ...«
»Falls sich die Gelegenheit bietet, werde ich mit Oriane sprechen«, sagte er mit Nachdruck und machte damit klar, dass das Thema beendet war.
Alaïs tobte innerlich, hielt aber ihre Zunge im Zaum. Sie wusste, dass sie die Lieblingstochter ihres Vaters war, und daher verstand sie, dass seine mangelnde Zuneigung zu Oriane an seinem Gewissen nagte und ihn blind für deren Fehler machte. Von Alaïs hatte er schon immer mehr erwartet.
Enttäuscht schritt Alaïs neben ihm her. »Werdet Ihr versuchen, die Männer zu finden, die den merel genommen haben? Habt Ihr ...«
»Genug, Alaïs. Bis zu unserer Rückkehr nach Carcassona können wir nichts unternehmen. Möge Gott uns sicher und schnell nach Hause geleiten.« Pelletier blieb stehen und sah sich um. »Und bete, dass Besiers die Kraft hat, sie hier aufzuhalten.«