Kapitel 7

 

Stunde um Stunde tobte die Debatte.

Diener hasteten hin und her, holten Körbe mit Brot und Trauben, Platten mit Fleisch und weißem Käse, füllten immer und immer wieder große Krüge Wein nach. Niemand aß viel, aber dafür wurde reichlich getrunken, was den Zorn schürte und die Urteilskraft schwächte.

Das Leben außerhalb des Chateau Comtal nahm weiter seinen gewohnten Gang. Die Kirchenglocken schlugen die Andachtsstunden an. Die Mönche sangen, und die Nonnen beteten zurückgezogen in Sant-Nasari. Auf den Straßen von Carcassonne gingen die Menschen der Stadt ihren Geschäften nach. In den Vororten und Hütten unterhalb der Festungsmauern spielten Kinder, Frauen arbeiteten, Händler und Bauern und Handwerker der Gilden aßen und plauderten und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen.

Im Großen Saal wurden vernünftige Argumente zunehmend von Beleidigungen und Vorhaltungen verdrängt. Eine Seite wollte Standhaftigkeit zeigen. Die andere sprach sich für ein Bündnis mit dem Comte von Toulouse aus, mit der Begründung, dass gegen eine so große Armee wie die in Lyon, falls die Schätzungen zutrafen, selbst mit vereinten Kräften nichts auszurichten war.

Jedermann hörte bereits die Kriegstrommeln im Kopf schlagen. Manche stellten sich Ehre und Ruhm auf dem Schlachtfeld vor, das Klirren von Stahl auf Stahl. Andere sahen die Berge und Ebenen mit Blut bedeckt, sahen einen endlosen Strom von verarmten und verletzten Menschen besiegt durch das brennende Land taumeln.

Pelletier wanderte unentwegt in der Halle auf und ab, hielt Ausschau nach Anzeichen für Uneinigkeit oder Widerstand oder Einwände gegen die Autorität des Vicomte. Er sah jedoch nichts, was ihm ernsthaft Anlass zur Sorge gab. Sein Seigneur, davon war er überzeugt, hatte genug getan, um alle an sich zu binden, und die Herren des Pays d'Oc würden sich ohne Rücksicht auf ihre jeweiligen Interessen um Vicomte Trencavel scharen, zu welcher Entscheidung er auch letztlich gelangen würde.

Die Schlachtlinien verliefen eher nach geographischen als nach ideologischen Vorgaben. Diejenigen, deren Ländereien in den ungeschützteren Ebenen lagen, wollten auf die Kraft von Verhandlungen setzen. Diejenigen, deren Herrschaftsgebiet im Hochland der Montagne Noire im Norden lag oder in den Sabarthès- Bergen und den Pyrenäen, waren entschlossen, dem Kreuzheer Widerstand zu leisten. Pelletier wusste, dass das Herz von Vicomte Trencavel für Letztere schlug. Er war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Herren aus den Bergen und teilte ihren unbändigen Freiheitsdrang.

Doch Pelletier wusste auch, was Trencavels Kopf ihm sagte: Er konnte nur dann Schaden von seinem Land abwenden und sein Volk schützen, wenn er seinen Stolz herunterschluckte und verhandelte.

 

Am späten Nachmittag roch der Raum nach Enttäuschung und abgedroschenen Argumenten. Pelletier war müde. Diese Haarspaltereien, diese schönen Reden, die sich im Kreis drehten, ohne je zu einem Ergebnis zu kommen, hatten ihn zermürbt. Obendrein hatte er nun Kopfschmerzen. Er fühlte sich steif und alt, zu alt für solche endlosen Debatten, dachte er, während er den Ring drehte, den er immer am Daumen trug, und sich die schwielige Haut darunter bereits rötete.

Es war an der Zeit, die Sache abzuschließen.

Er ließ sich von einem Diener Wasser bringen, tunkte ein Stück Leinen in den Krug und reichte es dem Vicomte.

»Hier, Messire«, sagte er.

Dankbar nahm Trencavel das nasse Tuch und wischte sich damit über Stirn und Nacken.

»Meint Ihr, wir haben ihnen lange genug Zeit gelassen?«

»Das glaube ich, Messire«, antwortete Pelletier.

Trencavel nickte. Er hatte die Hände fest auf die geschnitzten Holzlehnen seines Sessels gelegt und wirkte so ruhig wie am Anfang, als er aufgestanden war und zum Rat gesprochen hatte. Viele ältere, erfahrenere Männer hätten Mühe gehabt, eine derartige Versammlung zu leiten, dachte Pelletier. Sein starker Charakter verlieh ihm den Mut, das durchzustehen.

»Bleibt es dabei, was wir zuvor besprochen haben, Messire?« »Es bleibt dabei«, entgegnete Trencavel. »Sie sind zwar nicht alle einer Meinung, doch ich denke, dass die Minderheit den Wünschen der Mehrheit folgen wird ... « Er verstummte, und zum ersten Mal schwang ein Anflug von Unsicherheit, Bedauern in seinen Worten mit. »Aber, Bertrand, ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg.«

»Ich weiß, Messire«, sagte Pelletier leise. »Mir geht es genauso. Aber auch wenn es uns noch so sehr kränkt, wir haben keine andere Wahl. Eure einzige Hoffnung, Euer Volk zu schützen, liegt darin, einen Waffenstillstand mit Eurem Onkel auszuhandeln.« »Er könnte sich weigern, mich zu empfangen, Bertrand«, sagte Trencavel ruhig. »Bei unserer letzten Begegnung habe ich Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen. Wir sind im Bösen auseinander gegangen.«

Pelletier legte Trencavel eine Hand auf den Arm. »Das Risiko müssen wir eingehen«, sagte er, obwohl er die Sorge des Vicomte teilte. »Seitdem ist einige Zeit vergangen. Die Tatsachen sprechen für sich. Falls das Kreuzheer wirklich so groß ist, wie man sagt - oder auch nur halb so groß -, dann sehe ich keine andere Möglichkeit. Innerhalb der Cité sind wir sicher, aber Euer Volk außerhalb der Mauern ... Wer wird diese Menschen schützen? Nach der Entscheidung des Comte, das Kreuz zu nehmen, bleiben wir - bleibt Ihr, Messire - als einziges mögliches Ziel übrig. Das Kreuzheer wird sich jetzt nicht auflösen. Es braucht einen Feind, gegen den es kämpfen kann.«

Pelletier blickte in Raymond-Rogers bekümmertes Gesicht und sah Bedauern und Trauer darin. Er hätte ihm gern Trost gespendet, etwas gesagt, irgendetwas, aber er konnte nicht. Jeder Mangel an Entschlusskraft wäre verhängnisvoll. Es durfte keine Schwäche aufkommen, kein Zweifel. Von der Entscheidung des Vicomte Trencavel hing mehr ab, als der junge Mann je erfahren würde.

»Ihr habt alles getan, was Ihr tun könnt, Messire. Ihr müsst standhaft bleiben. Ihr müsst das hier beenden. Die Männer werden unruhig.«

Trencavel blickte kurz hoch zu dem Wappen über seinem Kopf, dann wieder zurück zu Pelletier. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen.

»Gebt Congost Bescheid«, sagte er.

Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung eilte Pelletier zu dem escrivain, der sich am Schreibpult gerade die steifen Finger massierte. Congosts Kopf schnellte hoch, aber er sagte nichts, als er nach seiner Feder griff, um die endgültige Entscheidung des Rates schriftlich festzuhalten.

Zum letzten Mal erhob sich Raymond-Roger Trencavel.

»Ehe ich meine Entscheidung verkünde, möchte ich euch allen danken. Ihr Herren von Carcasses, Razes, Albigeois und den Gebieten jenseits davon. Ich achte eure Stärke, eure Tapferkeit und eure Treue. Wir haben lange Stunden geredet, und ihr habt viel Geduld und Eifer bewiesen. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Wir sind die unschuldigen Opfer eines Krieges, der nicht unser Werk ist. Was ich zu sagen habe, wird einige von euch enttäuschen, andere freuen. Ich hoffe, dass wir alle mit Gottes Hilfe und Gnade den Mut finden, zueinander zu stehen.«

Er richtete sich zu voller Größe auf. »Für unser aller Wohl - und für die Sicherheit unseres Volkes - werde ich meinen Onkel und Lehnsherrn Raymond, Comte von Toulouse, um eine Audienz bitten. Wir wissen nicht, was daraus wird. Es ist nicht einmal sicher, ob mein Onkel bereit ist, mich zu empfangen, und die Zeit arbeitet gegen uns. Daher ist es wichtig, dass wir unsere Absichten geheim halten. Gerüchte verbreiten sich schnell, und wenn unser Vorhaben meinem Onkel zu Ohren kommt, könnte das unsere Verhandlungsposition schwächen. Daher werden die Turniervorbereitungen wie geplant fortgesetzt. Mein Ziel ist es, noch vor dem Festtag zurückzukehren, hoffentlich mit guten Neuigkeiten.« Er schwieg kurz, dann sprach er weiter. »Ich werde morgen bei Tagesanbruch aufbrechen, in Begleitung einer kleinen Eskorte chevaliers und, mit eurer Erlaubnis, Vertretern des großen Hauses Cabaret sowie Minerve, Foix, Quillan ...« »Mein Schwert gehört Euch, Messire«, rief ein chevalier. »Und meines auch«, schrie ein anderer. Einer nach dem anderen fielen die Männer im Saal auf die Knie.

Lächelnd hob Trencavel die Hand.

»Euer Mut, eure Tapferkeit, ehren uns alle«, sagte er. »Mein Haushofmeister wird diejenigen verständigen, deren Dienste benötigt werden. Jetzt jedoch, meine Freunde, bitte ich euch, mich zu entschuldigen. Ich schlage vor, jeder kehrt in seine Unterkunft zurück und ruht sich aus. Wir sehen uns an der Abendtafel wieder.«

In der allgemeinen Unruhe, die entstand, als Vicomte Trencavel die Halle verließ, bemerkte niemand eine einsame Gestalt in einem blauen Kapuzenmantel, die aus einer dunklen Ecke trat und durch die Tür nach draußen schlüpfte.


Das Verlorene Labyrinth
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