Am 7. Juli 1956 ging die Nachricht vom Tod des bedeutendsten modernen deutschen Lyrikers durch die Weltpresse: von der Zürcher Tat, dem Algemenen Dagblad über Dagens Nyheter, Berlingske Tidende bis zu Le Monde und L’Express: »Der große Überlebende ist tot … Ein Künstler, dem eine solche Vollendung beschieden war, ist unsterblich.«67
Nur 67 Tage nach den Feierlichkeiten zum Siebzigsten traf sich die Feiergesellschaft am 12. Juli erneut. Vor vier Jahren, fast auf den Tag genau, es war ebenfalls ein heißer Sommertag und Benn war auf Kneipentour bis drei Uhr nachts, hatte er in seinem Kalender notiert:
Am allerschlimmsten: nicht im Sommer
sterben, wo alles so licht u hell
u die Erde
sofür Spaten leicht68
Heute notierte die Witwe ins Gästebuch: »Dieselben Personen sind in der Wohnung nachmittags anwesend ausser H. Rittermann u. Tumler.«69
Um die Mittagszeit dieses brennend heißen Sommertages hatten sich die Verwandten, Freunde, Schriftsteller, Künstler, Verleger aus der ganzen Republik in der überfüllten Kapelle des Dahlemer Waldfriedhofes eingefunden. Durch die Fenster drang flirrendes Sonnenlicht, von beiden Seiten des Sarges der Schein der Flammen weißer Kerzen. Contrapunctus Nr. 1 und Nr. 2 aus Bachs Kunst der Fuge und der Choral aus der Matthäuspassion erfüllten die Kapelle:
Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir!
Wenn ich den Tod soll leiden,
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!
Die Trauerrede sprach Oskar Söhngen, der Vizepräsident der Kirchenkanzlei der EKU. Zu Benns 70. Geburtstag hatte er seine Glückwünsche in die Worte des 92. Psalms gefasst: »Die gepflanzt sind in dem Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen. Und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein.« Benns Antwort: »Schlug sofort den Psalm auf – oh, daß er zuträfe! Oh, daß ich nach Psalm elf gesalbt würde mit frischem Öl, aber mir ist mehr nach Klageliedern III, 7.« – »Gott hat mich vermauert, daß ich nicht heraus kann, und hat mich in harte Fesseln gelegt.« Es war eine würdige Rede, wie allgemein befunden wurde, in der der Theologe den Propheten Jeremias zum Kronzeugen für des Dichters tragische Grundeinstellung machte, seiner
Verpflichtung zu unerbittlicher Wahrhaftigkeit, die allen Illusionen und Selbsttäuschungen, auch den »frommen« Illusionen und Selbsttäuschungen, den Abschied gibt, die es wagt, auf die schönen und leichten Harmonisierungen zu verzichten und vor dem »Unvereinbaren« stillezustehen.70
Danach ergriff Senator Tiburtius das Wort, dankte dem Mitbürger im Namen der Stadt Berlin für seinen stets bereiten strengen und guten Rat und versprach, das Andenken des Dichters für die Jugend in Ehrfurcht lebendig zu halten.
Dann wurde der Sarg Gottfried Benns, gefolgt von Hunderten von Trauernden, zu Grabe getragen, vorbei an den hohen alten Kiefern, unter einem Kreuz roter Rosen und dem satten Blau des Himmels, das den Sommer vollendete.
Hier ergriff Günther Birkenfeld das Wort für die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, und Clemens Graf Podewils verlas Beileidsworte von Emil Preetorius im Namen der Bayerischen Akademie der schönen Künste. Graf Podewils würdigte Benn als »ein[en] Herr[n] von alter Art: Darin beschlossen ist Männlichkeit und Wohlwollen, Zurückhaltung und Entgegenkommen und eine Unerschrockenheit, die sich nicht anders als bescheiden geben kann. Er hatte Maß.«71 Er endete mit Hölderlins Vers aus der Friedensfeier, die Benn in den letzten Monaten noch studiert hatte und für eine eigene Prosaarbeit hatte fruchtbar machen wollen:72
Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.73
Als der Verleger Erich Reiss gestorben war, hatte Gottfried Benn, für den »das Diesseits und das Jenseits das selbe« war, dessen Witwe Lotte Jacobi-Reiss Trost gespendet. Dass er nicht an Gott glaubte, bestritt er energisch, obwohl er zweifelnd hinzufügte: »Schon das Glauben stellt mich ausserhalb von Gott, nämlich dem Universum, und behauptet, dass ich überhaupt etwas wäre.«74
Ich glaube ja an eine irgendwie geartete Weiterexistenz auch nach dem Tod, es ist kein Aufhören, die Toten bleiben bei uns u. gehören dazu, trotzdem bleibt das Aufhören des Sichtbaren und Ansprechbaren eine große Erschütterung.75
Die Toten bleiben bei uns.
Aus Fernen, aus Reichen
Was dann nach jener Stunde
sein wird, wenn dies geschah,
weiß niemand, keine Kunde
kam je von da,
von den erstickten Schlünden
von dem gebrochnen Licht,
wird es sich neu entzünden,
ich meine nicht.
Doch sehe ich ein Zeichen:
über das Schattenland
aus Fernen, aus Reichen
eine große, schöne Hand,
die wird mich nicht berühren,
das läßt der Raum nicht zu:
doch werde ich sie spüren,
und das bist du.
Und du wirst niedergleiten a
m Strand, am Meer,
aus Fernen, aus Weiten:
»– erlöst auch er;«
ich kannte deine Blicke
und in des tiefsten Schoß
sammelst du unsere Glücke,
den Traum, das Los.
Ein Tag ist zu Ende,
die Reifen fortgebracht,
dann spielen noch zwei Hände
das Lied der Nacht,
vom Zimmer, wo die Tasten
den dunklen Laut verwehn,
sieht man das Meer und die Masten
hoch nach Norden gehn.
Wenn die Nacht wird weichen,
wenn der Tag begann,
trägst du Zeichen,
die niemand deuten kann,
geheime Male
von fernen Stunden krank
und leerst die Schale,
aus der ich vor dir trank.76