»Kummer im Herzen u. Rummel im Haus«46
Am Abend des 28. April holten Gottfried und Ilse Nele, die »Blut-Dichteste des Dichters«,47 am Flughafen Tempelhof ab und brachten sie ins Hotel am Steinplatz. Bereits seit Tagen wurde der Nobelpreisverdächtige in Gamaschen und Homburg mit den traumschweren Augen in den Gazetten, Funkhäusern und Theatern der Republik überschwänglich gefeiert: Thilo Koch malte mit dem Flug der Eule für den Norddeutschen Rundfunk ein Hörbild, der Südwestfunk wiederholte die Drei alten Männer. Horst Behrend, Leiter der Vaganten Bühne, veranstaltete am 29. einen Abend zu Ehren Benns. Vom Bonner Anzeiger über das Buxtehuder Tageblatt, den Wiesbadener und den Weser-Kurier bis zum Hamburger Echo, der Münchner Abendzeitung, der Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen Zeitung usw. usw. feierten sie den Orpheus aus der Mark, den positiven Nihilisten, den Sänger in karger Zeit oder den lyrischen Patriarchen mit massivem Gehirn, sie bejubelten den schöpferischen Pessimismus, sein Ja über den Abgründen und die entgötterte Welt im Vers und erinnerten sich ehrfurchtsvoll an Momente persönlichen Begegnens, sei es das disziplinierte Auftreten oder sein unbemerkbar feines Lächeln: »Geborener Beobachter, ein Schweiger. Ein Herr.«48
Mittlerweile waren Oelzes, Niedermayers und Marguerite Schlüter eingetroffen. Man sah sich zum Abendessen im Hotel, wohin auch Gottfried und Ilse für drei Tage zogen, um den Rummel von ihrer Wohnung fernzuhalten und näher bei den Gästen zu sein.
Wir könnten dann am 2. V morgens alle zusammen frühstücken, meine Frau u. ich gehn dann in die Wohnung u sehn nach, was los ist, von 12–2 Siesta im Hotel, von 4–6 Cocktailparty in der Wohnung, um Punkt 6 wird alles hinauskomplimentiert, u um 8 geben wir ein kleines bescheidenes Souper im Hotel, im engsten Kreis, kaum 12 Personen, wir haben ja kaum Bekannte, die uns näher stehn. Ab 10h Barbesuch ad libitum.49
Das Souper wurde durch die Senatsfeier in der Amerika-Gedenkbibliothek ersetzt. Gegen elf Uhr kehrte der engste Kreis von etwa zwanzig Gästen wieder zurück ins Hotel zum kalten Büffet, wo man bis nach ein Uhr nachts zusammen war.
Der Goldregen blühte im frisch geharkten Vorgarten der Bozener Straße 20, doch es war ein kalter und grauer Mittwochvormittag, an dem die Benns nach Hause kamen, um die Gratulation von Kultursenator Tiburtius und weitere 80 Telegramme, 200 Briefe und 50 Blumensträuße entgegenzunehmen, darunter auch die Glückwünsche des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Willy Brandt und des Bundespräsidenten Theodor Heuss, der eine Gabe von 2000 Mark ankündigte.
Am Nachmittag trafen die Gäste zur Cocktailparty ein. Neben den bereits Erwähnten trugen sich Hans Egon Holthusen, Hauptredner der Abendveranstaltung, Paul Rittermann, Günter Giefer, Franz Tumler und Ottomar Starke ins Gästebuch ein. Otto Flint aus der Boxerkneipe hatte telegrafiert:
Lieber, guter Gottfried Benn,
schleunigst ich zum Fläschchen renn.
Auf Ihr Wohl ein Gläschen rinnt
bei mir runter – Otto Flint.50
Als der Jubilar den überfüllten Saal der Amerika-Gedenk-Bibliothek betrat, hätte Benn bestimmt viel dafür gegeben, den Bibliothekssaal gegen die Boxerkneipe, den Sekt gegen Bier und das Abendprogramm gegen die Radioübertragung eines Boxkampfes einzutauschen. Eingerahmt vom Klavierspiel Klaus Billings, der Sonaten von Philipp Jarnach und Boris Blacher vortrug, rezitierte der Schauspieler Walter Tappe aus dem Werk, Joachim Tiburtius sprach für den Senat und Hans Egon Holthusen redete festlich auf den Gefeierten ein, ehe er ihm im Namen Berlins und im Namen der Nation dankte, »für das immer neue Glück, Sie lesen« und »die Gunst, einen Dichter lieben zu dürfen, der uns unter überaus schwierigen Bedingungen sagt, wo wir stehen und wer wir sind«.51
Dann schritt der blasse Gottfried Benn langsam durch den Raum und betrat das Podium: »ernst, freundlich, aber mit einer gewissen Distanz«,52 und bedankte sich. Er bedankte sich beim Senator, den Künstlern, dem Redner und dem Publikum, das weder gekommen sei, um der Wahl einer Schönheitskönigin, noch einem Ringkampf beizuwohnen, sondern einem Geistesmenschen,
der sich den Glauben nicht nehmen lässt, dass in der Selbstbegegnung des Ich die Worte, orphisch, sich entfalten, in ihr a l l e i n, ohne Richtung auf ein bestimmtes historisches oder materielles Ziel, diese Selbstbegegnung des Ich – die ausserhalb der endlichen Grenzen einer einzelnen Generation, ja eines einzelnen Kulturkreises im Sinne der Strophen aller Strophen, die uns der Grösste hinterliess, ihr Wesen f ü h l t.53
Und er beendete den Festakt mit der ersten Strophe von Goethes Divan-Gedicht Unbegrenzt.