»Auftauchen, nur im Akt vorhanden sein und wieder versinken«1

 
 

Im Bonner Plenarsaal des Deutschen Bundestags zeigte die Uhr auf 3 Uhr 38, als Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmeier zur namentlichen Abstimmung die Stimmkarten einsammeln ließ. Zum letzten Mal in dieser Nacht verlas er ein Abstimmungsergebnis: Zwölf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands galt die Wehrpflicht wieder für alle Männer zwischen achtzehn und fünfundvierzig – Westberliner ausgenommen.

An jenem Samstagmorgen des 7. Juli 1956, gut vier Stunden später, um 8 Uhr 5, starb nach schwerem Krebsleiden im Dahlemer Oskar-Helene-Heim, Clayallee 229 –233, Gottfried Benn. Der ein Meter neunundsechzig kleine, am Ende seines Lebens knapp über achtzig Kilo wiegende Berliner Sanitätsoffizier zweier Weltkriege, Dermatologe und Dichter zweier Phasen des Expressionismus, der so unendlich bedauerte, die Höhe des Blutdrucks von Goethe und Hölderlin nicht gewusst zu haben, »ob sie pyknisch waren u. zur Dicke neigten, ob sie Durst hatten, ob sie Bier oder Wein tranken, ob sie gut schliefen«,2 hatte am Ende seines siebzig Jahre währenden Lebens einen Blutdruck von 130/80 mmHg. Das Blutbild wies einen an der oberen Norm befindlichen Wert von 10 000 Leukozyten pro Mikroliter auf. Die letzte Blutsenkung war mit 34/64 mm deutlich erhöht. Der große Überlebende war tot.

 

Das Lebensschicksal ist ja nichts Äusseres u. kommt nicht aus der Umwelt auf uns zu, sondern es steigt aus uns selber auf, wir ziehen es heran, selbst Tod, Schicksalsschläge, naturalistischer Wirrwarr sind unsere eigenen Materialisationen u was wir Lebenslauf u. Biographie nennen, ist die Aura, die Oddschicht unseres inneren Seins, das sich Geltung u. Gestaltung schafft. So gesehn, passt auch mein jetziges, nun 11 Jahre währendes Schweigen u. Verdecktsein, in meinen Stil u. meine angeborenen Linien. »Es giebt Existenzen, in die greift das Schicksal nicht ein –« …3

 

So schrieb der Mann mit dem Denkerschädel, dem wehen Mund, der in Sanftheit gedämpften Stimme und dem unter schweren, herabgelassenen Augenlidern entrückten Blick. Er führte ein Leben an den Rändern, wo, wie er sich selbst ausdrückte, das Dasein fällt und das Ich beginnt.4 Meist verlief es aufreizend jenseits gesellschaftlicher Anerkennung und meist in der Rolle des Outcast. Regelmäßig trafen ihn schwere persönliche Schicksalsschläge, worauf psychische oder körperliche Zusammenbrüche folgten.

 

Wer wie ich alle Scalen von Missstimmungen, inneren und äusseren Dyspepsieen, Verfallslagen, Gebrochenheiten, tiefsten Depressionen, unsagbaren Zerstörtheiten kennt …, der kann mitfühlen … (Je älter ich werde, umso rätselhafter wird mir, was der Mensch als zoologische Erscheinung eigentlich bedeutet. Er ist kein Tier, aber was er ist, ist so unheimlich und heimtückisch, dass ich tagelang in kein Gesicht mehr sehen kann.)5

 

Weil die Zusammenbrüche nicht zu ergründen waren, sondern nur zu fühlen, ergaben sich daraus Verwandlungen, Neuausrichtungen und Neuanfänge, die ohne die Bereitschaft zu Verdrängungen und Vergessen, ohne die glücklichste Gabe der Menschheit: »ihr schlechtes Gedächtnis«,6 nicht möglich gewesen wären. Besessen von Unerinnerlichkeit, schuf er das Erträgliche und aus dem Vergessen des Gestern die Neuheit der Stunde.7

Es gehört zum Schicksal der um 1890 Geborenen, zwei Weltkriege erlebt und erlitten zu haben. Die Biographie Gottfried Benns ließe sich bestimmt unter dem Aspekt persönlicher und weltgeschichtlicher Katastrophen nachzeichnen. Aber sein Leben ist nicht die Geschichte von Niedergängen. Zwar liebte er Trümmer genau wie Statuen und die Katastrophen beinahe so sehr wie die Strophen, die er schrieb.8 Immer wieder sägte er die Äste ab, auf denen er nistete, und hielt »des Messers Schneide zur Hand«.9 »Gewiß, das Weltall zu besiegen, / Blickt er umher, hinab, hinan.«10 Dem West-östlichen Diwan als dichterisches Leitmotiv für Paul Hindemiths Oratorium Das Unaufhörliche entliehen, kristallisierte sich Goethes »hinab, hinan« als eines der großen Gesetze11 im Lebensschicksal des märkischen Pfarrerssohnes heraus, der als Siebzehnjähriger beschlossen hatte, nicht wie sein Vater Seelen, sondern Körper zu heilen; nicht das Wort zu deuten, sondern es zu gestalten.

Bereits früh holte den vom Gestaltungswillen Getriebenen allerdings ein anderes großes Gesetz ein, das der psychiatrisch erfahrene Arzt »die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose: Wirklichkeit«12 nannte. Die Abspaltung des Ich – sie war nicht nur das quälende Symptom einer dem Untergang geweihten Epoche, sondern wurde ihm, der sich nach Ernst Kretschmers Typenlehre als »schizoid«13 bezeichnete, zum persönlichen Verhängnis.

»Jetzt oder nie, Aufstieg oder Vernichtung«?14 Benns Antwort blieb ambivalent: einerseits Aufstieg – andererseits Vernichtung. Meist lagen beide sogar dicht beieinander. Als seine Mutter unheilbar an Krebs erkrankt war und er im Norden Berlins in einem Moabiter Krankenhaus an einem Sektionskurs teilgenommen hatte, gelang ihm

 

ein Zyklus von sechs Gedichten, die alle in der gleichen Stunde aufstiegen, sich heraufwarfen, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall.15

 

Mit seinem Erstling, der Gedichtsammlung Morgue, war ihm im Frühjahr 1912 der fulminante Eintritt in die Welt der europäischen Literatur gelungen. Andererseits war aber auch der unumstößliche Drang erwachsen, die Welt der Krankenhäuser, der Leichenhäuser und der Kasernen zu verlassen. Lieber wollte er sich »als praktischer Arzt niederlassen u. ein Weib nehmen u. meinen Garten bebauen«16 oder ferne Länder bereisen oder gar auswandern. Die Entscheidung wurde ihm am 1. August 1914 abgenommen. Der erste der Weltkriege begann, Benn nahm an der Erstürmung Antwerpens teil und lebte in der Brüsseler Etappe, bis er sich drei Jahre später in Berlin als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten niederließ.

Benns Leben, die »Oddschicht seines inneren Seins«, ließe sich auch als Abfolge von produktiven Phasen beschreiben. Die Tageskalender legen jedoch offen, dass auf Wochen, in denen er bei Tag seine Arbeitshefte vollschrieb und selbst beim allabendlichen Bier in der Kneipe die poetischen Einfälle nicht aufhörten zu sprudeln, immer wieder Wochen tiefer Depression und Apathie folgten.

 

Solch eine Phase tiefer und lang anhaltender Depression behandelt die Eröffnung dieses Buches – die Ereignisse vom Februar bis zum September 1945, die Monate, in denen das Weltkriegszeitalter zu Ende ging, aber auch die Monate, in denen Benn seine Arbeitskladden geschlossen hielt. Persönlich ist es die Zeit der Lösung fast aller menschlichen Bindungen: Benns Dienststelle wurde von Landsberg a. d. Warthe nach Berlin zurückverlegt, die Reichswehr befand sich im Prozess rasanter Auflösung. Die Praxis in der Bozener Straße lag in Schutt und Asche und musste wieder aufgebaut werden. Seine zweite Ehe befand sich in einer manifesten Krise, einen Freundeskreis hatte er nicht mehr. Schließlich beging seine Frau Herta im Juli 1945, nach Neuhaus an der Elbe evakuiert, aus Angst vor Übergriffen sowjetischer Truppen Selbstmord – Benn war extrem isoliert. Das einzige schriftliche Zeugnis aus dieser Zeit, neben wenigen überlieferten Briefen, ist Benns Tageskalender.

Bis zum Lebensende hielt Benn die Fakten und Eindrücke des Tages in kleinformatigen Vierteljahresheften fest, die meist Geschenke von Pharmafirmen waren. In der Regel haben sie privaten Charakter und versammeln Kontostände, Einnahmen, Ausgaben, Krankheitsverläufe, Telefonate, Termine, Besuche und die Korrespondenz – bisweilen auch was Ilse, seine dritte Ehefrau, sonntags für ihn kochte.

 

Um ein grosser Schriftsteller zu werden, muss man vor Allem seine eigene Handschrift lesen können. Daran hat es bei mir von je gemangelt. Alle Notizen, Zettel, Diarien nützen zu nichts, wenn man nach 2 Tagen schon garnicht mehr weiss, was sie bedeuten sollen.17

 

39 dieser tagebuchartig geführten Kalender zwischen 1934 (ab 1944 lückenlos) und 1956 sind überliefert und werden in dieser Biographie erstmalig systematisch für die Beschreibung von Benns Leben nutzbar gemacht.

Oft sind die Eintragungen hastig und mit schlechten Stiften notiert. Wer Benns Handschrift kennt, erahnt die Schwierigkeiten bei ihrer Entzifferung. Zudem sind sie äußerst knapp, bisweilen kryptisch und nur unter Heranziehung biographischer Kontexte erschließbar. Mit Hilfe dieser Eintragungen lässt sich auch ein Bild der Monate vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeichnen, die in Benns Biographie bislang eine Lücke hinterließen.

Im September 1945, wenige Tage nachdem der Zweite Weltkrieg auf dem amerikanischen Schlachtschiff »Missouri« mit der Unterzeichnung der japanischen Kapitulation sein offizielles Ende gefunden hatte, schlug Gottfried Benn sein Notizheft wieder auf.18 Mit dem Anheben eines Verses hatte Benn seine Sprache wiedergefunden: »Die Küsten singen«19, und hiermit bereits ein frühes Echo auf den Schlussvers seines ersten großen Nachkriegsgedichts Orpheus’ Tod: »die Ufer tönen –«,20 erklingen lassen. Der Wiedereintritt in die Literatur war im September 1945 nicht nur beschlossene Sache, sondern definitiv geschehen. Künftiger Name des Projekts, den Benn ihm nach dem Ende von Weltkrieg II gab: Phase II. Oberarzt Dr. Werff Rönne, Alter Ego aus Phase I des Expressionismus, im Februar 1943 in Stalingrad gefallen, geopfert, war tot. Zwar konnte sein Nachlass noch vor Kriegsende gerettet werden, aber wenn es eine Fortsetzung seiner schriftstellerischen Existenz geben sollte, musste der Mensch, Gottfried Benn, neu zusammengesetzt werden: ein Doppler-Leben der besonderen Art, bedeuteten doch die Monate ohne Schreiben ein Abstandnehmen von sich selbst, eine Verringerung der Frequenz bis zur Unhörbarkeit. Jetzt war er bereit, die Distanz zu verkürzen, um wieder auf der Höhe der Eigenwahrnehmung zu sein. Benns Verstummen im Jahr 1945 ist das Durchschreiten des peripetischen Tiefpunkts seiner Existenz.

Fast scheint es so, als läge den zyklisch wieder auftretenden »Verwandlungen des Chamäläon«21 eine (spiel)triebhafte Lust zugrunde mit der einen Absicht nur: »dem Traum folgen und nochmals dem Traum folgen und so ewig – usque ad finem.«22 Und dann glaubt man manchmal, die Untergänge seien von ihm selbst inszeniert, um im Glanz phönixhafter Aufstiege um so mehr zu funkeln: »Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder.«23

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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