Bereits während der Arbeiten am Doppelleben einigten sich Autor und Verleger auf »gewisse Propagandamaßnahmen.«55 Als das Buch Ende März 1950 erschien, erreichten sie ihren Höhepunkt. Niedermayer witterte einen Verkaufserfolg, glaubte, dass nach Abschluss des für Benn sensationell verlaufenden Comeback-Jahres »nun etwas Persönliches über den Autor viele Menschen interessieren würde«,56 und ahnte eine »literarische Sensation«.57 Für Frank Maraun stand »der Bestseller 1950«58 im Februar schon fest.
Benns Haltung war ambivalent. Einerseits sah er sich niemandem, weder der Öffentlichkeit noch staatlichen Stellen, verpflichtet, sein Verhalten während der Nazi-Diktatur zu rechtfertigen, andererseits war es seine Idee, seiner Autobiographie aus dem Jahr 1934 einen zweiten Teil hinzuzufügen, nachdem Max Niedermayer ihn mit dem Plan konfrontiert hatte, »den ›Lebensweg eines Intellektualisten‹ als Buch für sich herauszubringen«.59
Mitte November war der erste Teil des Radardenkers beendet, und Benn verschaffte sich einen Überblick über das Material, das für die Fortsetzung in Frage kam. Er ordnete, studierte und glossierte »Dokumente über Glanz u Elend der Literaten«,60 wie den Brief Klaus Manns an ihn aus dem Jahr 1933 oder das Schreiben, mit dem er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, und gab Niedermayer die Landsberger Prosastudie »Block II, Zimmer 66« zu lesen. Ende November war der Radardenker fertig, so dass Benn sich intensiv mit den »Schatten der Vergangenheit« und »Leier und Schwert«61 auseinanderzusetzen begann.
Benns Rechtfertigungsschrift hatte eine Vorgeschichte. Sie reicht in den Sommer 1949, als ihn der zu dieser Zeit in Los Angeles lehrende Ludwig Marcuse und der Schauspieler Alfred Beierle besuchten. Seit dem Sonntagnachmittag des 24. Juli ließ Benn eine Frage nicht mehr los, die Marcuse »in hastiger Verlegenheit« herausgestoßen hatte:
»Können Sie mir erklären, wie Sie mit lauter Eifer ›Ja‹ sagen konnten zu dem grausigsten deutschen Ereignis des Jahrhunderts?« Er war überrumpelt, was mir peinlich war. Er wurde rot, ich sah schnell fort. Er stotterte (ich bedauerte schon mein Eindringen): »Ich … ich … weiß nicht.« Schnell fing er sich auf: »Als die braunen Bataillone unter meinem Fenster vorbeimarschierten, glaubte ich an eine elementare Revolution.«62
Zum Abschied überreichte er Marcuse ein Exemplar der Ausdruckswelt. Kurz vor Weihnachten las Benn in einem in der Berliner Ausgabe der Neuen Zeitung veröffentlichten Brief Marcuses, dass er »immer noch nicht schwer genug nehme, was in Deutschland geschehen ist – geschehen mit Hilfe von jedem, der einmal Ja sagte«.63 Bereits als Benn seine Drei alten Männer ausländischen Bekannten zugeschickt hatte, nahm er deren betroffene Reaktionen widerwillig zur Kenntnis, »dass weder Schuld noch Sühne, Umerziehung und Besserungsversicherungen aus Deutschland in dem Band zu finden sind … Sie wünschen Ihre deutsche Frage dargestellt, nicht unsere Weiterentwicklung anzuhören.«64
»Doppelleben« meint die Aufspaltung in ein Ich, das denkt, Kunst herstellt, und ein anderes, das lebt. Das denkende sagt:
Ich bin weder für noch gegen, ich bin ausserhalb. Der Elfenbeinturm Flauberts ist mir noch viel zu materiell. Ich bin für Vacuum u man hat ja jetzt völlig lufttote Kanäle von 30 m Länge konstruiert, in denen die Gegenstände eine Geschwindigkeit von 3000 Stundenkilometern entwickeln – das wäre ein grossartiger Aufenthalt.65
Nun stand Benn beim Niederschreiben seines Doppellebens vor der Frage, wie der »lebendige« Teil seiner Vergangenheit angemessen darzustellen wäre. Er schlug einen flotten Ton an, von dem die Leser bis heute gefesselt und irritiert sind: »Als Ganzes ist das Manuskript ja mehr unterhaltender Art und Sprache und Diktion ist vielleicht etwas salopp.«66 Er machte »es in keiner Weise tiefsinnig und abgründig, sondern mehr erzählerisch und unterhaltend«.67 Offensichtlich drängte es Benn, über die Vergangenheit gleichzeitig sprechen und nicht sprechen zu wollen, und offensichtlich gelang ihm mit Doppelleben auch beides.
Zu keinem Zeitpunkt in seinem Leben hat Benn die Öffentlichkeit und sie ihn so sehr gesucht wie in den ersten Monaten des Jahres 1950. Im Januar sandte er einen Beitrag zum vierzigjährigen Jubiläum des Kiepenheuer Verlags, um den ihn Noa Kiepenheuer gebeten hatte.68 Erich B. Zornemann lud ihn in die Pädagogische Hochschule ein, im »Lankwitzer Campus« einen Vortrag über Expressionismus zu halten: »Grosses Auditorium, etwa 200, ganz junge, Studenten.«69 Ende des Monats überließ er Erich Schmidt einen Brief an Walter von Molo für eine Verlagsfestschrift zu dessen 70. Geburtstag zum Abdruck.70 Benn geriet in diesen Wochen geradezu in einen Öffentlichkeitsrausch. Neben seiner Arbeit an einem großen Aufsatz zu Nietzsche anlässlich dessen 50. Todesjahr kam er einer Aufforderung Hans Schwab-Felischs von der Neuen Zeitung nach, eine Rezension über den französischen Ärzte-Roman Corps et Ames (Leib und Seele) von Maxence van der Meersch zu schreiben.71 Er besuchte die Gründungsveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für die kulturellen Beziehungen zu Frankreich im Centre Culturel Français und nahm an Sitzungen des vorbereitenden Ausschusses für die Deutsche Akademie der Künste zu Berlin teil, in deren Gründungsausschuss er Ende 1952 vom Senator für Volksbildung berufen wurde.
Gleichzeitig verliebte sich Benn in einer »blauen Stunde« in »eine leere, ungebildete gemeine Person, die weder orthographisch schreiben, noch manierlich mit Messer u Gabel essen konnte, obschon sie Kellnerin in einem der elegantesten First-class-Etablissements des Westens«72 war.
Darf man keine Nelke pflücken,
weil man eine Rose trägt –
wenn die Blumen mich beglücken
ist es das Herz, das schlägt?
Wenn soviele Blüten leuchten,
wenn soviele Gärten stehn
darf das nur den Blick befeuchten,
darf man das nicht tiefer sehn
In die Dolden, in die Kelche
u die Adern zart im Blatt
welche Gegenblüte – welche –
weil man eine Rose hat?73
Mit der ungenannten »Nelke« hatte er zwei Jahre ein Verhältnis, »brachte meine Ehe bis an die äusserste Grenze der Gefährdung, war mir gleich, war bereit zu Grunde zu gehn«.74
Im Kurier erschien ein Vorabdruck des Kapitels »Phase II«, Christa Rotzoll-Busse, Ehefrau Walter Busses von der Welt, bereitete eine große Story für den Spiegel vor. Sie besuchte Benn, arbeitete einen Fragebogen aus und bat um Fotos »als Säugling, als Konfirmand, als Arzt, als Soldat, aber das besitze ich nicht«.75 Am Donnerstag vor Ostern erschien der Artikel unter dem Titel »Er wütet in sich herum«. Am selben Abend sendete der NWDR das Streitgespräch mit Peter de Mendelssohn zum Thema »Der Schriftsteller und die Emigration«.
»Ich hab’ was gelesen«, sagte Benn vor der Aufnahme und zeigte einen Band aus der Leihbibliothek: Mendelssohns Roman »Das zweite Leben«.
»Ich hab’ auch was gelesen.« Mendelssohn wies Benns »Kunst und Macht« vor, Essays aus dem braunen Jahr 1934.
»Das könnte ich gesagt haben«, fand Benn und zitierte Mendelssohn zum Emigrationsthema: »Die Stimme von draußen ist die Stimme des Toten.« Mendelssohn zitierte nicht aus »Kunst und Macht«.76
Mittlerweile hatte Benn einen Brief des Sekretärs der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhalten, in dem Oskar Jancke ihm mitteilte, dass ihn die Akademie »auf ihrer Tagung in Stuttgart zum Mitglied ihres Kollegiums gewählt«77 habe. Kurz vor seinem 64. Geburtstag, zufrieden mit dem Verlauf des zweiten Jahres seines Comebacks, fasste der erklärte »Anti-Synthetiker«78 in einem Brief an Nele zusammen:
Dein Papa – also:
- Mitglied der Akademie der Künste in Berlin,
- Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Frankfurt a. M.
- Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München
- Vater von Nele Topsoe
- Grossvater von Tine und Vilhelm
- Mann von Ilse, der netten, guten
- genau so unbürgerlich und leichtsinnig und verrückt wie immer – –79