Chaos43
Im Herbst 1923 schien Deutschland im politischen Chaos zu versinken. Während linke Regierungsbündnisse nach dem Vorbild der russischen Revolution in Sachsen und Thüringen paramilitärische Verbände aufzustellen begannen, die erst wieder aufgelöst wurden, als die Reichswehr am 23. Oktober in Sachsen einmarschierte, formierten sich in Bayern die Rechten zum Kampf gegen die Republik. Am Abend des 8. unternahm Adolf Hitler, Vorsitzender der NSDAP, in München einen Putschversuch. Sein »Marsch nach Berlin« endete jedoch schon am nächsten Tag an der Feldherrnhalle. Wenige Tage darauf wurde mit der Rentenmark eine neue vorläufige Währung eingeführt, die die Inflationswirren beendete.
Das Chaos war ein Zustand, in dem sich Benn auskannte, der ihn gewissermaßen erregte. Selbst wenn es »nur« um das Politische und Ökonomische ging, für das sich Benn nicht sonderlich interessierte, so steckten darin doch die Chancen des Neubeginns und der Neuordnung, und das zielte direkt auf den Hauptschalter im Bennschen Energiehaushalt: Je unübersichtlicher die Verhältnisse waren, desto mehr fühlte sich Benn gedrängt, einen – wie er sich einmal ausdrückte – seiner »jüngsten Tage zu arrangieren«. Am 6. Dezember wurde in der Weltbühne sein Chaos betiteltes Gedicht abgedruckt:
Keine Flucht. Kein Rauschen.
Chaos. Brüchiger Mann.
Fraß, Suff, Säfte tauschen
ihm was Lebendes an,
mit im Run der Aeonen
in die Stunde des Nie
durch der Zeiten und Zonen
leere Melancholie.
Über Benns Leben in der Mitte der zwanziger Jahre ist nur wenig bekannt. Ab April 1924, zwei Monate nachdem bei dem Verleger der Morgue, A. R. Meyer, das schmale Lyrikheft Schutt erschienen war, von dem Widmungsexemplare an Gertrud Zenzes und Egmont Seyerlen überliefert sind, korrespondierte und traf sich Benn mit der Übersetzerin Bertha Schiratzki, die in der Redaktion des Querschnitt mitarbeitete und deren kleine Fingernägel er ausgesprochen schätzte. Möglicherweise bewegten sie sich besonders flink und sicher über die Schreibmaschinentastatur. Im Juni fuhr er mit Ellen Overgaard nach Hahnenklee in den Oberharz und hatte die Kinder im Juli bei sich in Berlin. Im August kam Klabund aus München zu Besuch. Benn vergaß, drei ausgeliehene Bücher in die Staatsbibliothek zurückzubringen, hatte Ärger mit der Steuerbehörde und ließ die Pensionsansprüche seines Adoptivsohns Andreas überprüfen, die schließlich auf 164 Mark festgesetzt wurden.
Wahrscheinlich Ende 1924 lernte er die Schauspielerin Margarete Anton kennen, »eine junge Dame, die sehr merkwürdig und pathologisch ist«,44 und widmete ihr ein »königliches« Gedicht: »… Substanz / Aller Schöpfungskrisen / Aller Taumel des Mann’s –«.45 Am 8. Januar 1925 traf er Fräulein Schiratzki zum Abendbrot, nachdem er ihr zuvor vier Gedichte, darunter auch ebenjenes, zur Veröffentlichung angeboten hatte, um noch am selben Abend seinem Freund egmont Seyerlen sein Liebesleid zu klagen: »Meine Affäre ist zu Ende. Ich muss tauchen u. vergessen. Wie habe ich sie geliebt!«46 Ob er nun die »merkwürdige« und »pathologische« Schauspielerin meinte, ob die mit den kleinen Fingernägeln oder doch die Fotografin – man weiß es nicht.
Im März unterschrieb Gottfried Benn als »Arzt und Naturforscher« eine von dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld initiierte »Eingabe gegen das Unrecht des § 175 R.Str.G. B. mit den Unterschriften vieler hervorragender Deutscher den gesetzgebenden Körperschaften des Deutschen Reiches überreicht vom Wissenschaftlich-humanitären Komitee, E. V.«47
Dann fuhr er durch »Nordfrankreich, flaches Land, es könnte Ostfriesland oder Jütland sein; Tiefebene der Seine, nirgends durch höhere Gebirge gegürtet«,48 nach Paris. »Je m’amuse! Oh-la-la!«,49 und: »Kennen Sie Paris? Wenn nein − fahren Sie auf Ihrer nächsten Reise hierher. Es ist fabelhaft, die schönste Stadt der Welt.«50 Doch nicht die Amüsierlust war es, die ihn in die Stadt der Liebe geführt hatte, sondern eine Auftragsarbeit, die er allem Anschein nach noch während der Reise erledigte.51 So erschien bereits im Juni in einem den Hauptstädten der Welt gewidmeten Heft der Monatsschrift Faust ein Reisebericht Benns.52 Soweit wir wissen, fuhr Benn allein, im Gepäck L. Teubners Reiseführer Eine Woche in Paris (1907). Beinah alles in Paris schien ihm groß und großartig.
Es ist der Stapel der Welt und die Messe der Nationen; es hat in seinen endlosen Komplexen Schätze angehäuft, die sich mit nichts vergleichen lassen; es hat in seinen angeschwärzten Straßen einen Atem der Welt, den ich berauschender fand als in New York. … niemand kann bestreiten, daß Berlin eine monumentale Geschäftsstadt ist, aber Paris ist das Genie einer Nation und entfaltet es in jeder Stunde.53
Immerhin mehrte die Reise seinen Ruhm: Am 16. Mai war im Berliner Tageblatt zu lesen, dass Philippe Soupault, ein Freund von Eugène Jolas, der Benns Prosatexte in der in Paris erscheinenden Zeitschrift transition erscheinen lassen sollte, am Abend zuvor in einem Vortrag in der Sorbonne im Rahmen einer vom internationalen Studentenclub in Paris organisierten Versammlung über moderne deutsche Literatur Stefan George, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Franz Werfel und Fritz v. Unruh als Europas bedeutendste Lyriker nannte.54 Der dergestalt geschmeichelte Benn besorgte sich die Zeitung gleich mehrmals, schnitt den Artikel aus und schickte ihn voller Stolz an Fräulein Schiratzki, um seine Mitarbeit beim Querschnitt im rechten Licht erscheinen zu lassen, und am selben Tag an Carl Werckshagen, der Benn in einer Besprechung der Gesammelten Schriften bescheinigt hatte, »der späte Mensch, das letzte Ich [zu sein], die Seele des abendländischen Menschen in Auflösung und Untergang, die Auflösung schmeckend, den Untergang lebend«.55
Carl Werckshagen, geboren 1903 in Berlin, Student der Philosophie, Geschichte und Germanistik, war für Benn kein ganz Unbekannter. Die Schwestern Hilde und Traute kannte er schon seit 1918.56 Benn und der junge Schriftsteller, den es zum Theater trieb, waren sich auf Anhieb sympathisch, und es entwickelte sich eine dauerhafte Freundschaft. Bereits nach wenigen Briefen und Begegnungen nannte ihn Benn »mein lieber Charly« und wurde fortan zum kritischen Begleiter von Werckshagens schriftstellerischen Versuchen.