»Letzter Klang, immer Ende, finale Lust«3
Nie war Gottfried Benn isolierter als im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. Der Schriftsteller, der zwar seit April 1938 von den Nazis mit einem Berufsverbot belegt worden war, aber während des Kriegs umso produktiver wurde, blieb nämlich stumm. Nicht nur die Schreibmaschine blieb für lange Zeit unbenutzt, auch das andere dichterische Handwerkszeug, sein wichtigstes, die Arbeitskladde, in die er täglich seine Notizen schrieb, blieb bis zum September 1945 geschlossen. Benn hatte sie mit gelegentlich einer Winternacht geschriebenen Versen zugeklappt.4
10. 1. 45.
Verweile weisser Abend
Es war so dunkel, die Stadt
die kein Feuer zu strahlen
und keine Träume hat
Doch die, wenn auf Dächern und Brunnen
der Schnee sich eingeweht
plötzlich in einem Raum
von tödlicher Schönheit steht
Wir längst dem Sturz verfallen
und ganz dem Nichts gebracht
Was hältst Du weisser Abend
noch eine Stunde vor Nacht.
Knapp ein und ein halbes Jahr hatten Gottfried Benn und seine Frau nun in der neumärkischen Provinz Mark Brandenburg verbracht. Ihre erste Bleibe, die sie auch im Jahr darauf als Hertas Zimmer, Ausweich- und Besucherquartier nutzten, besorgte ihnen Benns Schwester Ruth, die sich mit ihrem Mann ebenfalls in Landsberg aufhielt. Für kurze Zeit wohnten sie in einem Mietshaus in der Böhmstraße 2 bei Frau Fraaß, der Frau von Ruths Schwager. Kurz danach wurde Benn Zimmer 63 im Block II der Kaserne zugewiesen, jedoch ebenfalls nur für wenige Tage, dann zog er in
eine ganz nette und manierliche 2 Z.-Wohnung mit Bad und warmem Wasser und einigermaßen wohnlich gemacht mit einigen Decken, Kissen usw. von zu Hause, was wir auch alles mit größten Schwierigkeiten und Widerständen hierhergebracht haben. Bei dem anfänglichen Einzug fanden wir die Räume dieses wahrhaft königlichen Palazzos in einem überwältigenden Kontrast zu seinem stolzen Aussehn: gänzlich verdreckt, starrend von Schmutz und – Wanzen.5
Mehrere Male fuhren Herta und Gottfried nach Berlin, »morgens um 3 Uhr auf, um abends wieder zurück zu sein und jedesmal diese lebensgefährlichen Züge, der Kampf aller gegen alle, diese hassenswerte Menschheit mit Koffern und Kindern, nervös, verhungert, verängstigt und rücksichtslos. Auch haben wir aus unserer Wohnung geholt, was wir konnten …«6
137 Stufen mußte man steigen, wenn man von der Bahnhofstraße endlich an den Fuß des Hügels gelangt war.
Nichts Träumerischeres als eine Kaserne! Zimmer 66 [sic] geht auf den Exerzierplatz, drei kleine Ebereschen stehn davor, die Beeren ohne Purpur, die Büsche wie braunbeweint. Es ist Ende August, noch fliegen die Schwalben, doch zu den großen Zügen schon versammelt. Eine Bataillonskapelle übt in einer Ecke, die Sonne funkelt auf Trompeten und Schlagzeug, die Himmel rühmen spielt sie und Ich schieß’ den Hirsch im wilden Forst. Es ist das fünfte Kriegsjahr, und hier ist eine völlig abgeschlossene Welt, eine Art Beguinage, die Kommandorufe sind etwas Äußerliches, innerlich ist alles sehr gedämpft und still. Eine Stadt im Osten, über ihr dies Hochplateau, darauf unser Montsalvat, hellgelbe Gebäude und der riesige Exerzierplatz, eine Art Wüstenfort. …
Die Blöcke stehn, die Wogen rauschen. Immer neue Wogen von Männern, neue Wogen von Blut, bestimmt, nach einigen Schüssen und Handgriffen in Richtung sogenannter Feinde in den östlichen Steppen zu verrinnen. Unbegreiflich das Ganze …7
Benns Wohnung in der Bozener Straße, in die mittlerweile Schwester Edith und Bruder Ernst-Viktor eingezogen waren, während dessen Frau Dora und die Kinder bei Bruder Stephan in Prenzlau waren, hatte bislang allen Brandbombenangriffen widerstanden. Ob er jemals wieder dorthin zurückkehren könnte, stand in den Sternen.
Bereits im Oktober, nachdem ein Privatdruck mit 22 Gedichten an die wenigen Freunde und Bekannten verschickt war,8 hatte sich Benn in der Kaserne so weit eingelebt, dass er dank der meist von Herta besorgten Bücher aus der Leihbücherei Schaeffer & Co. an der Ausdruckswelt weiterarbeiten konnte. »Mein Mann ist von einem unheimlichen Fleiss«, schrieb Herta im Juli 1944 an Leonharda Gescher, die Witwe von Joachim Ringelnatz. »Ich habe eben wieder für ihn geschrieben. Danach ist mir stets zumute wie etwa nach einer Gehirnmassage, wenn es sowas gäbe.«9
In dieser Kaserne schrieb ich: »Roman des Phänotyp«, viele Teile aus »Ausdruckswelt«, darunter »Pallas«, und aus den »Statischen Gedichten«, z. B. »Ach, das ferne Land«, »September«, »Dann –«, »Statische Gedichte« u. a.10
Für das Leben in Landsberg hatte Benn nur Spott, ja Verachtung übrig. Der Tag könnte aus zwei Nächten und einem Nachmittag bestehen: »Der Rest ist mir beschwerlich.«11 Was ihn umgab, war kurz gesagt: innen Vakuum und das Äußere kaum noch vorhanden. Er verließ die Kaserne nur noch, wenn es unbedingt sein musste, und mied die »Metropole von Leben und Reiz«.12 Die »trüben Fluten« der Warthe und die »Kohlrübenatmosphäre«13 der umliegenden Felder taten ihr Übriges. Seit letztem Oktober arbeitete Herta als ehrenamtliche Bürokraft ihres Ehemannes, was einerseits den Vorteil hatte, dass sie so einer anderen Dienstverpflichtung entkam, andererseits hockten die beiden in ihren beiden »Wohn-Zimmern, die zugleich mein Büro sind«,14 so dicht aufeinander, dass sie einander zunehmend auf die Nerven gingen.
Wenn er nach Berlin kam, das mittlerweile auf das heftigste aus der Luft bombardiert wurde, nutzte er den Aufenthalt zum Haareschneiden, oder es gelang ihm, Kostbarkeiten wie Rum oder Kalbfleisch zu besorgen. Die Bozener Straße 20, in die Herta und Gottfried abwechselnd fuhren, um alles Wichtige zu retten und nach Landsberg zu transportieren, stand noch: »(einsame Insel), aber die Fenster kaputt, es ist kalt u. schmutzig, man kann nicht mehr länger als 1 Stunde da bleiben, man friert«.15
Die meiste Zeit war Benn einsilbig, reizbar und schlecht gelaunt. Wenigstens ließen sich zum Hochzeitstag und kurz darauf zu Hertas Geburtstag zwei Flaschen Bordeaux organisieren, doch trotz Bohnenkaffee und Apfelkuchen wollte keine Feierlaune aufkommen. Im Gegenteil: Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, und am nächsten Morgen verließ Herta ohne Frühstück die Wohnung. Als sie am Nachmittag »mit ihrer Tasche, am Stock, im roten Hut«16 wieder nach Hause kam, legte sie sich wortlos ins Bett. Wie beider Tagebücher zeigen, war Entzug das Mittel, sich gegenseitig zu bestrafen. In den Tagen vor Gottfrieds Geburtstag notierte Herta, dass er sie immer so hetze, während er sich ins Bett lege. Als einmal beide einen Abendspaziergang machen wollten und die Kaserne verließen, »ertönte Voralarm und G. machte kehrt und ließ mich stehen«.17
Der Winter 1943 ging zu Ende, und aus Gründen der Raumeinsparung wurden die Zimmer in der Kaserne teilweise neu verteilt. Benn verrichtete den truppenärztlichen Dienst von nun an in seiner Wohnung. Wann immer er Zeit hatte, saß er jedoch am Schreibtisch und feilte an den Aphorismen für die Ausdruckswelt:
Augenblicklich bin ich in Libellenstimmung »– weder Käfer noch Schmetterling – hohe Töne, Schwirren«, nämlich: alles Inhaltliche u. Thematische wird mir immer fragwürdiger u. bedenklicher, es bleibt nur das Gegeneinanderhalten der Fassungen u. Färbungen, die Reflexe, das Spiel u. aus einem olympischen Einerseits-Andererseitsstandpunkt entwickelt sich ein neuer blitzender Stil.18
Benn war im Begriff, seinen Essaystil derart zu vervollkommnen, dass seine neuen Texte den Rahmen »seiner Fibel für Anfänger, verdummte Jugend, verwahrlostes Nachfahrensgeschlecht über die Probleme unserer Generation« sprengten und in Richtung »raffinierter Points für Fortgeschrittene«19 trieben. Als er Anfang März die wenigen, mit Libellen überschriebenen Sätze aufs Papier brachte, notierte er im Kalender: »Bedenken gegen alle diese Aphorismen –«.20 Das Bedenkliche an diesen außerordentlichen Sätzen und Absätzen war jedoch auch, dass sie das waren, was in den Essays zuvor gewissermaßen nur Programm war. Ganz plötzlich gelang ihm nahezu im Tagesrhythmus etwas, das er »Selbstentzündung, autarkische Monologie«21 nannte. Nie war Nihilismus ein größeres Glücksgefühl22 als in den Tagen im April, als »schon summarisches Überblicken, Überblättern … einen leichten Rausch«23 verschaffte. Seit dem 19. März, als der Plan eines »›Roman[s] nach Innen‹«24 gefasst war, von dem selbst der Brieffreund und literarische Vertraute F. W. Oelze nur so viel erfahren durfte, dass er buddelte und verschwand,25 verging kein Tag mehr, an dem der Roman des Phänotyp – der Titel stand bereits tags darauf fest –26 nicht bedacht wurde oder einzelne Kapitel (»Gegensatz zu Schifferkreisen«, »Stadtpark«, »Stadtpark II«) entstanden. Neben der Schreibarbeit verschlang Benn reihenweise Bücher, die ihn künstlerisch beschäftigten: Von John Dos Passos las er von einem Tag auf den andern Auf den Trümmern, von James Fenimore Cooper Der rote Freibeuter, von d’Annunzio Feuer, von Carl Einstein Bebuquin,27 dem, so Benns Einschätzung, mit diesem Roman »die Möglichkeit von geordneten Worten und Sätzen als Kunst, als Kunst an sich«28 vorgeschwebt hatte. Seinen Roman des Phänotyp konzipierte Benn als »absolute Prosa«, und es ist mehr als interessant zu beobachten, dass er sich beim Schreiben dieser Prosa mit Texten umgab, deren »›Vollkommenheit durch die Anordnung von Worten‹«29 er bewunderte.
Am 9. April 1944 drang die Rote Armee von Norden her nach Odessa ein und befreite zusammen mit Partisanen die Stadt. Benn notierte am nächsten Morgen:30 »Odessa gefallen«, und bearbeitete Anträge für Nachkuren. Mittags gab es »Essen ohne Fleisch«. Seine Mittagsmüdigkeit verscheuchte er mit einem 90-minütigen Spaziergang »hinten raus« zum Schützenplatz, wo drei Karusselle aufgestellt waren. Als er wieder nach Hause kam, las er Heinrich Manns Göttinnen und nahm einen Bildband in die Hand: Das weibliche Schönheitsideal in der Malerei. Er schlug das Buch auf, und beim Überblättern von Piero di Cosimos Tod des Procris und Venus, Mars und Amor, all der anderen Venusse von Giorgione, Jacopo Palma (d. A.) und Tizian, beim Überblättern von Rubens’ Zyklus der Katharina von Medici und der Krönung des Tugendhelden, von Francesco del Cossas Allegorie des Herbstes und Michele Pannonios Ceres »geriet ich in einen Rausch nicht etwa wegen der nackten Körper, die mich völlig kalt liessen, sondern wegen der unermesslichen Fülle an … Stofflichem, das sofort in Worte, Sätze, Rhythmen transponiert werden konnte«.31 Am nächsten Mittag zwischen zwölf und halb zwei flogen »100 Bomber«32 über die Kaserne. Gottfried Benn war immer noch berauscht und zündete zur selben Zeit »eine Bezirksbombe an Abwegigkeiten u. Excentric«:33 Innerhalb von zwei Tagen entstand mit »Summarisches Überblicken« der Prototyp absoluter Prosa »ohne Anknüpfungen u. Einführungen«, die geniale »Fluchtmöglichkeit aus dem Ich«.34
Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. Sie entführen. Der körperliche Blick reicht nur über den Platz bis an die Burgen, – aber die Trauer reicht weiter, tief in die Ebene hinein, über die Wälder, die leeren Hügel, in den Abend, das Imaginäre, sie wird nicht mehr heimkehren, dort verweilt sie, sie sucht etwas, doch es ist zerfallen, und dann muß sie Abschied nehmen unter dem Licht zerbrochener Himmel – –, diese aber entführen, führen weit und führen heim.35
Nie in seinem Leben war Benn dienstlich so wenig in Anspruch genommen wie hier. In seinem Fesselballon, 137 Stufen über der Stadt, war sein schriftstellerisches Gehirn auf Dauerempfang geschaltet, »fast ununterbrochen bereit, zu denken und zu kritzeln«.36
Im Sommer bekam Herta Gelenkentzündungen in beiden Knien, und die beiden verließen die Kaserne fast überhaupt nicht mehr. Abends – »Flieger kreisten u. ein angebundener Ziegenbock heulte im Nachbargarten u. ein Hund lag auf der Treppe«37 – gingen sie
meist in den kleinen sogenannten »Offiziersgarten« hinter unserem Wohngebäude. Wir sitzen dort auf unserer luftigen Höhe auf einer Bank und schauen auf die Dächer der tief unter uns liegenden kleinen Stadt, meist in einer bräunlichen Belichtung, wie Corot malte, und auf die Warthe-Landschaft. Um uns schwirren die Schwalben. Und immer auf demselben Dachgiebel sitzt unsere Freundin, die Amsel »sie singt das grosse Lied der Ariadne, das sie so lange nicht hat singen wollen; es ist die Arie, wie sie in dem Wagen des Bacchus steht«. – Also ein friedliches Dasein inmitten der so kriegerischen Umwelt, tagsüber von 4 Uhr morgens an, inmitten gebrüllter militärischer Kommandos, ohrenbetäubendem Stiefelgerassel die Treppen herauf und herunter …38
Am 13. Juli fuhr Herta für sechs Wochen zur Kur nach Bad Oeynhausen, »weil es Westdeutschland ist u. sie hat dort am Ort noch Beziehungen aus früheren Jahren«.39 Genau eine Woche später, am Tag, als Oberst Graf Stauffenberg vergeblich versuchte, im Führerhauptquartier Wolfsschanze Adolf Hitler umzubringen (»Attentat!«40), brachte seine Tochter Nele Zwillinge auf die Welt (»Nele! Tine / Vilhelm«41).
Ende September mussten die Benns noch einmal umziehen. Benn wurde »Standortarzt von L.aW u. Führer der H.San.Staffel L.aW«,42 die Dienststelle in die Walter-Flex-Kaserne verlegt, und während am Nachmittag wieder Bomber tief über die Kaserne flogen, wurde das private Hab und Gut sukzessive in die Lehmannstraße 68 transportiert. Weitere zwei Wochen später erhielt Benn vom Quartieramt Berlin die Nachricht, dass zwei der Zimmer in der Bozener Straße beschlagnahmt worden seien. Noch bis zum Jahresende traf er sich mit seinen Offizierskollegen wie alle Dienstagabende zum Skatspielen, Herta legte »ihre Patience«.43 Den Silvesterabend, draußen schneite es unentwegt, verbrachte Benn mit der Biographie Dostojewskis von Mereschkowski. »10 ¾« ging er »zu Bett«.44