»Marburg ist mir nichts gewesen«64
Wann dem Heranwachsenden die Idee gekommen ist, Medizin zu studieren, liegt im Dunkeln. Wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, würde er Pfarrer oder zumindest Lehrer geworden sein. Aber noch stritt der Schulabgänger mit seinem Vater um die Fakultät: Einen Platz in der Mitte der Gesellschaft, wie dieser ihn als Seelsorger einnahm, wollte er keinesfalls. An die Spitze, zu der er seinem Gefühl der Überlegenheit nach drängte, konnte er nicht. Es blieben die Ränder. Hier wollte er leben, wo »das Dasein fällt«: in der Medizin dort, wo Krankheit und Tod nahe sind, in der Literatur dort, wo »das Ich beginnt«.65 Diese Auseinandersetzung mit dem Vater galt es zu bestehen, denn dieser konnte sich nicht vorstellen, wie das lange Medizinstudium zu finanzieren wäre. Auf beiden Feldern – dem der Medizin und dem der Literatur – wollte Gottfried sich und seinen Mitmenschen begegnen, dem Leid der anderen und seinem eigenen. Diese fundamentale Ausgangsposition, die in Wahrheit keine Position ist, sondern eine Ambivalenz, galt es herzustellen. Oder auch wieder herzustellen. Sein Doppelleben zu ermöglichen. Ob er sich dabei wie ein Aussätziger vorkam? Anfangs vielleicht. Je weiter die Projektionen seiner selbst am Rand angesiedelt waren, desto unangreifbarer machte er sich für seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten und später, als der literarische Erfolg sich eingestellt hatte, für seine Gegner, aber auch für seine Bewunderer.
Als der »dreifache Kollege« Alfred Döblin, »Schriftsteller, Arzt, Akademiker«, im April 1932 einmal eine Dichterlesung Benns einleitete, fragte er sich, wie es kommen könne, dass ein Dichter, der mit dem »Willen zur Echtheit« ausgestattet sei, Medizin studiere. »Um zu helfen, vielleicht auch«, aber viel wichtiger sei die »Entschlossenheit, der Krankheit und der Vergänglichkeit ins Gesicht zu sehen«66 – dem Unbegreifbaren und letztlich Undeutbaren.
Im Streit, an welcher Fakultät Gottfried zum Wintersemester sein Studium aufnehmen sollte, unterlag er dem Vater. Zunächst. Bis zum Eintritt in die militärärztliche Akademie wird er seine Unterschriften mit dem Zusatz »stud. phil.« versehen. Er bezog in Marburg ein günstiges Zimmer bei der Familie Reinhard in der Wilhelmstraße 10, das sich in unmittelbarer Nähe der Alma Mater befand. Etwa 1500 (männliche) Studenten gab es 1903 im knapp 20 000 Einwohner zählenden Städtchen an der Lahn. Mit der Immatrikulation trat der 17-jährige Junge aus der Neumark, wie fünf andere Erstsemester, in die Korporation des Akademischen Turnvereins Marburg ein. Die Verbindung, Mitglied des Dachverbandes ATB, war nicht farbentragend und nicht schlagend. Im Sommersemester 1904 wurde er Bücherwart, war Frühschoppenvertreter und Mitglied der Festkommission67 – bis auf das letzte Ämter, die ihm durchaus lagen. Bereits sein Vater war Mitglied eines solchen Turnvereins gewesen.
Nach Marburg zu gehen, bestimmte mich eigentlich nur der Umstand, daß es Universität ist; daß ich in den A. T. V. ging, war für mich als Sohn eines alten Herrn, der noch heute mit grosser Liebe am Verein hängt, selbstverständlich. Ich hoffe und glaube, ebenso schöne Semester im A. T. V. zu verbringen, wie er es seiner Zeit getan hat.68
Ein halbes Jahrhundert später, nachdem Benn seine Autobiographie Doppelleben veröffentlicht hatte, erreichte ihn eine Postkarte eines Verbindungsbruders, der darin vergeblich »suchte, / Was Du über Marburg sagtest, / Ob Du lachtest oder klagtest, / Falls Dein Geist es fertig brächte / Und auch jener Zeit gedächte. / Doch steht in der Worte Zahl / ›Marburg‹ nicht ein einziges Mal. / Unsichtbar nur war zu lesen: / ›Marburg ist mir nichts gewesen.‹ / (Du weißt als alter Humanist, / daß dies ein kleiner Buchstab ist)«69
In der Tat hat Benn seine Marburger Zeit für nur wenig erwähnenswert gehalten. Er studierte unwillig, u. a. bei dem Herausgeber zahlreicher Meyer-Klassiker-Ausgaben und Heine-Spezialisten Ernst Elster,70 dem Begründer des Deutschen Sprachatlas Ferdinand Wrede und dem Neukantianer Hermann Cohen, den er viele Jahre später einen »philosophischen Rüpel«, »krummen Greis des psychophysischen Dilemmas« und »Schleimbeutel des Seins« nannte.71 Den einmal gefassten Entschluss, Arzt zu werden, verlor er dabei nicht aus den Augen. Einmal traf er auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin den Vater, der ihn zur Rede stellte, dass er nicht ordentlich arbeite. Gottfried erwiderte, er solle ihn Medizin studieren lassen, und er werde arbeiten. Damit ließ er den Vater im Wartesaal stehen. Vor allem aber dichtete er fleißig:
In Berlin-Lichterfelde gab es eine Zeitschrift mit dem Titel »Romanzeitung«. Die hatte eine Rubrik, in der anonym eingesandte Gedichte rezensiert wurden. Dorthin schickte ich damals Gedichte und wartete nun zitternd einige Wochen auf das Urteil. Es kam und lautete:72
»Stud. G. B. in M. Warmes Gefühl, unzureichender Ausdruck. Vermeiden Sie auch die Elisionen: ›woll’n‹, ›soll’n‹, ›spiel’n‹. Das macht die Sprache hart.«73 So der verantwortliche Redakteur der Deutschen Roman-Zeitung, Otto von Leixner. Die eingesandten Gedichte werden sich von den Versen der Schulzeit nur wenig unterschieden haben.
Bald nach Studienbeginn Anfang März, noch während des Semesters, reiste Benn nach Bad Boll. Sekundiert von seinem Freund Heinrich von Finckenstein, der mittlerweile in Bonn Jura studierte, weihte er Christoph Blumhardt in seine Nöte ein, traute er ihm doch am ehesten zu, den sturen Vater umzustimmen. Hatte Blumhardt sich nicht ebenfalls mit seiner ganzen Existenz gegen den Vater gestellt, als er seine Pfarrstelle aufgab und als Abgeordneter in den Landtag einzog?74
In zunehmendem Maß erwies sich der 18-jährige Gottfried als streitbarer junger Mann. Nicht allein mit dem Vater, von dem wir wissen, dass er im November persönlich bei seinem Freund in Bad Boll vorstellig wurde, führte er eine unerbittliche Auseinandersetzung. Ende des Sommersemesters hatte er ein Ehrengerichtsverfahren mit einem Bundesbruder des A. T. V., verließ Verbindung und Universität und setzte das ungeliebte Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität für zwei weitere Semester fort.