»Don Juan aller Laster«

 
 

Gottfried Benns Frau und die beiden Kinder verließen unmittelbar nach seiner Rückkehr Dresden und zogen in eine Sieben-Zimmer-»Familienwohnung« in die Passauer Straße 19 – jedoch ohne das Familienoberhaupt. Er führte das bereits in Brüssel praktizierte, sexuell unabhängige Leben weiter: »Denn eigentlich bin ich ein Abenteurer u. Rastaquouère u. ein Don Juan aller Laster u. trage jetzt die Maske des Papas oder eines Sanitätsrats!«19 So dauerte es auch nicht lange, bis er die selbstbewusste Malerin – mit den »etwas vollen Gelenken u. Wadenansätzen«20 – Dorothea Hahn kennenlernte, die etwa zwanzig Jahre jünger war als Edith und für etwas mehr als drei Jahre die Freundin an seiner Seite wurde. In der Schülerin Otto Modersohns, die später eng mit den Dadaisten verbunden und eine Freundin Hannah Höchs war, sah er die griechische Kurtisane Mnais, die Heinrich Manns Symbol der Schönheit und Liebe in dessen gleichnamiger Erzählung war: »Sie sollen sein wie / Mnais, den windgen / Morgen auf ihren / spiegelnden Hüften, / hoch und allein.«21

 

»Also, zeitweise habe ich mich sogar gut mit Benn amüsiert. Nie außerhalb, immer in diesem kleinen Zimmerchen … Benn hatte eine merkwürdige Art den Frauen, d. h. mir zu schmeicheln. Er verwöhnte damals Frauen wahrscheinlich nie, sie sollten ihn verwöhnen, kam aber für mich nicht in Frage. Ich glaubte immer seinen Komplimenten noch sehr viel weniger als anderen. Sie waren dazu da, ihn zu amüsieren, aber das glaubte ich nicht. Dann war es nur die Frage, wer war der Stärkere von uns zweien.«22

 

Spätestens im März 1921 war der Kampf entschieden. Seinem »bleibe so u. mein Arm wird dich halten«23 widersetzte sie sich energisch und leistete Verzicht. Benn verabschiedete sich von ihr nicht ohne zynischen Unterton:

 

Fahren Sie fort, ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu werden – jedem das Seine u. Gott mit uns und niemand wird wissen, warum Sie geschaffen wurden u. die unerforschliche Schöpferkraft Ihre Gestalt zusammenfügte u. das ist gut. Hochachtungsvoll 24

 

Aber zurück in das Jahr von Benns Heimkehr. Mitte Dezember reiste Carl Sternheim zu einem Autorenabend des Verlags der Zeitschrift Marsyas nach Berlin, deren Herausgeber der Österreicher Theodor Tagger war. Von der Stadt zeigte sich Sternheim zutiefst enttäuscht. Einziger Lichtblick war sein Plan, zusammen mit den Brüsseler Freunden Benn und Carl Einstein sowie seinem Gastgeber Tagger ein enzyklopädisches Werk »zum Abbruch bürgerlicher Ideologie« zu verfassen.25

Wie eng die Freundschaft mit Carl Einstein wirklich war, lässt sich nur schwer sagen. Glaubt man Einsteins Aussage aus dem Jahr 1923, war sie im Geiste enger als in der Realität. Einstein, kunst- und linksradikal, war ein erklärter Bewunderer Benns:

 

Alle halbe Jahr – wenn ich mal Benn sehe – streift man schüchtern seine alten Arbeiten. Er kuriert Tripper und ich mache Kunst – was ungefähr noch dümmer ist. Nachdem wir festgestellt haben, daß es mal wieder sehr sympathisch gewesen ist, gehen wir nach Hause. … Ich habe noch nie zwei solche Käuze gesehen; ohne jedes Ausnutzen von Ruf oder Beziehung. Eigentlich habe ich große Achtung vor uns beiden und jeder vor dem andern; während wir das meiste Drumrum gar nicht schätzen …26

 

Benn führte in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr ein (Doppel-)Leben zwischen der zeitraubenden bürgerlichen Existenz als Krankenhausarzt mit Privatpraxis, Ehemann und Familienvater und der antibourgeoisen Existenz des sonntags dichtenden literarischen Außenseiters. Wenn er an die Jahre 1918–23 dachte, was hatte er sich »erniedrigt u. gepeitscht um Kunst zu machen«:

 

Die Sonntage mit Hunger u. Kaffeetrinken bis zum Taumeln, die Nächte vielfach verbummelt, um noch müder, depressiver, mürber zu sein. Und wozu? Das ist die Frage! Um isoliert, abersonderlich dazustehn, wenn das Alter beginnt, immer in Gefahr, aus der Insel der bürgerlichen Existenz, auf die man sich rettete, ausgestoßen zu werden. Ein Rätsel, das Ganze.27

 

Im folgenden Februar erschien bei Pfempfert die Novelle Diesterweg, doch die Geschichte von Benns Rückkehr aus Brüssel wurde so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen. Einziges Echo war eine Kurzkritik Martin Sommerfelds im Literarischen Echo, die der Novelle ein »bravouröses Tempo«, »Humor« und »eine Wirkung« bescheinigte, »die der echter Kunst nahe kommt«.28 Die letzte eigenständige Publikation Benns im Verlag Franz Pfemferts sollte im Juni 1919 der Dramenband Der Vermessungsdirigent sein, als Die Aktion bereits den Untertitel »Wochenschrift für revolutionären Sozialismus« bekommen hatte und zeitweise Parteiorgan der neu gegründeten KPD geworden war. »Nie wieder hat es in Deutschland eine Zeitschrift gegeben vergleichbar der ›Aktion‹ – oh jene Jahre 1912–1918, jene unvergesslichen Jahre«,29 schwärmte der alte Benn in einem Brief an den frühen Weggenossen Karl Otten.

Benn war seinem Förderer Pfemfert, den er noch am Weihnachtsfest des Jahres 1928 zusammen mit Thea Sternheim besuchte, zu großem Dank verpflichtet.30 Als der Spartakist Franz Jung, den Benn als Angehörigen des Aktions-Kreises flüchtig kannte, während des Kapp-Putsches im März 1920 in seiner Praxis anrief, um bei »kleineren unbedeutenden Schießereien« verwundete Kampfgenossen medizinisch versorgen zu lassen, fand dieser »sich sogleich bereit, ohne weitere Rückfragen und ohne Abschirmung und alles das, womit Berufsrevolutionäre in solchen Fällen bei der Hand sind«.31

Es war nicht das einzige Mal, dass Benn sich in den unruhigen Jahren nach 1918 »handgreiflich« für seine alten Freunde einsetzte. Im Februar 1919 war die erste und einzige Nummer der nur vierseitigen »Illustrierten Halbmonatsschrift« Jedermann sein eigener Fußball erschienen. Herausgeber war Wieland Herzfelde. Die Illustrationen stammten von seinem Bruder John Heartfield und George Grosz, die Texte von Herzfelde selbst, Mynona (d. i. Salomon Friedländer) und Walter Mehring, der ein Gedicht mit dem provozierenden Titel Der Coitus im Dreimäderlhaus beisteuerte, woraufhin Wieland Herzfelde im März in mehrwöchige »Schutzhaft« genommen32 und ihm zusammen mit Walter Mehring der Prozess gemacht wurde. Medizinisch-literarischer Sachverständiger war, wie Mehring später schrieb,

 

Dr. med. Gottfried Benn, der, an Hand der Lehrbücher von Dr. Eugen Dühren [Dr. Iwan Bloch]: »Der Marquis de Sade und sein Zeitalter«; Dr. Magnus Hirschfeld: [»Sexuelle Zwischenstufen«] ein Referat über den Zusammenhang von Sexualpathologie und Satire hielt, das sich leider nicht in seinen gesammelten Werken findet.

Nach dem letzten Wort der Angeklagten – wir hatten beide, jeder für sich – »Jedermann sein eigener Fußball«, das Alleinrecht auf die Bestrafung gefordert – fällte ein Hoher Gerichtshof einen von uns wirklich unverschuldeten Freispruch, den ich bis heute noch nicht verschmerzt habe.33

 

Mit George Grosz, wie sich der Berliner Gastwirtssohn Georg Ehrenfried Gross seit 1916 nannte – Max Krell bezeichnete ihn einmal als »Benns auf die graphische Ebene projiziertes Ich«34 –, freundete sich Benn an. Die beiden verband mehr als ihre gegenseitige Bewunderung und die Fähigkeit, der Simultaneität und Nervosität der Eindrücke, die die Realität der Großstadt reflektierten, den künstlerischen Ausdruck zu geben, den sie als zeitgemäß empfanden. Benn kannte Grosz’ Caféhaus-Zeichnungen aus den Aktions-Heften des Jahres 1916. Nach dem Krieg war Grosz Mitglied der KPD geworden, aber der beginnenden Freundschaft der »beiden bedeutenden Köpfchen«35 stand dies nicht im Weg. Zum Kreis um George Grosz gehörte ebenfalls der später weltberühmt werdende Mode- und Porträtphotograph Erwin Blumfeld, der sich an ein legendäres Atelierfest Ende 1918 bei George Grosz erinnerte, für das die beiden als Sandwichmänner auf dem Kudamm Reklame liefen:

 

Grosz pinselte ein Plakat: »Wohlgebaute junge Damen der Gesellschaft mit Filmtalenten werden zum Atelierfest bei Maler Grosz gebeten, acht Uhr abends, Abendtoilette! Olivaerplatz 4.« … Zum Fest kamen elf Männer: Mynona, Grosz, Piscator, Hülsenbeck, Mehring, das Siebenmonatskind (der spätere Pipi-Dada), Benn, Gumpert, Yomar Förste, Wieland und Muti Herzfelde (Monteur-Dada) und ich. Als mehr als fünfzig Damen auftauchten, mußten wir wegen Überfüllung schließen. … Um das Fest in Schwung zu bringen, schlugen wir vor, man solle sich entkleiden. Wir Männer zogen uns in die Küche zurück und beschlossen, unentkleidet zu bleiben. Als wir ins Studio zurückkamen, war die Damenwelt nackend und die Orgie begann.36

 

Man widmete sich gegenseitig Zeichnungen und Gedichte, die nicht einmal zur Veröffentlichung bestimmt sein mussten:

 

George Grosz, Vorort-dämon,

Etagen-Mephisto, Confetti-Diabol, / … /

»Rückschritt breitet sich nicht aus –,

Hast Du Georg Gross im Haus« – / … /

Wer sind Sie überhaupt??

Sie Jüngling aus kleinen Kreisen,

Nord-Ost-Geburt,

Sphären karikierend, die sich Ihnen verschliessen / …37

 

 

und auf der Rückseite gedruckter Neujahrswünsche für das Jahr 1921 betätigte sich Benn für die »Grosz-Heartfield-Werke« gar als Werbetexter:

 

… garantiert erfolgreiche Erziehung zum Original-Simultan-Stammeln … / Wichtig für Unterdrückungs-Psychosen / Den Kindern kann stundenlang vorge-sungen, -malt, -dichtet werden: Stummes Staunen!! / … / Ganze Gemäldeausstellungen können hier untergebracht werden: nirgends Wiederspruch!! / Ruhmsteigerung pro Quartal mittels bürgerlich zurechtgemachter Biographien (z. b. lernte 3 Jahre Schlosser in Kentukky, dann betrat er Europa): Also: Betonung des Elementaren – 12 Biographen sind Tag u Nacht beschäftigt!! … Ständig Pressenotizen!!! Vertreter bei allen Illustrierten Zeitungen!!38

 

Nachdem George Grosz im Sommer 1922 von einer Reise nach Russland mit einer Fischvergiftung zurückgekehrt war, musste er sich, gezeichnet von Ödemen im Gesicht, von seinem Arztfreund mit Kalkspritzen behandeln lassen: »Grosz vertrug jedoch diese Kur nicht, fiel mehrfach um, und so mußte Benn damit aufhören. Überhaupt war wohl Benns Interesse an Eva Grosz größer als seine freundschaftlichen und künstlerischen Beziehungen zu dem Zeichner. Als Ausdruck seiner Zuneigung pflegte er Frau Eva Schüsseln mit frischen Erdbeeren zu schicken. Benn, der Schwierige, brachte es aber auch fertig, sich auf der Türschwelle umzudrehen und wieder zu gehen, als er – eingeladen zu einer Abendgesellschaft bei Grosz – nicht den Kreis und Atmosphäre vorfand, die er erwartet hatte.«39 Später sind kaum noch Berührungen der beiden Freunde überliefert. Im April 1932 wird Benn Grosz ein Exemplar der Frankfurter Zeitung mit seiner Akademie-Rede zusenden, Grosz Benn im Juni 1933 zu seiner Antwort auf die literarischen Emigranten gratulieren, nach dem Krieg Gertrud Zenzes den Kontakt zum Ehepaar Grosz wiederherstellen,40 das Care-Pakete sendet und im Juni 1951 erstmals wieder nach Berlin kommt:

 

Der Abend mit Ehepaar Grosz war reizend, sehr alkoholisch u. dauerte bis 12 ½. Wir küssten uns auf beide Wangen, George und ich, u waren ein Herz u. eine Seele. Sie haben geerbt drüben u. zuckeln nun durch Europa, anscheinend eine ganze Masse geerbt! Freut mich für sie.41

 

Drei Jahre später trafen sie sich erneut. Der Berliner Senat gab zu Ehren George Grosz’ einen Empfang, doch »Gr. war nach einer halben Stunde schon wieder so blau, dass er nicht mehr wusste, was er redete, persönlich und allein habe ich ihn nicht gesehn, ich hatte keine Lust auf eine Sauftour«.42 Zum letzten Mal sahen sie sich am 30. November 1954 in Benns Stammkneipe.43

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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