»3000«114 oder »Spät ankommen, spät bei sich selbst, spät beim Ruhm, spät bei den Festivals«115

 
 

Als sich die Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Ende Oktober 1951 zu ihrer Jahrestagung trafen, waren die Hotels in Darmstadt ausgebucht. Der mit 3000 DM dotierte Georg-Büchner-Preis wurde in diesem Jahr zum ersten Mal von der Akademie und nicht vom Land Hessen vergeben, was zur Folge hatte, dass der Preisträger nicht mehr notwendigerweise aus Hessen kommen musste.

Geehrt wurde der Dichter, »der, streng und wahrhaftig gegen sich selbst, in kühnem Aufbruch seine Form gegen die wandelbare Zeit setzte und in unablässigem Bemühen, durch Irren und Leiden reifend, dem dichterischen Wort in Vers und Prosa eine neue Welt des Ausdrucks erschloß«.116 Geehrt wurde »das intensivste Gehirn, das verletzbarste Ich, das empfindungsmächtigste Herz«.117 Geehrt wurde der von Radio- und Wochenschauleuten, von Presse und Fotografen umringte Gottfried Benn: »ein glorreicher Tag, der glänzendste meines Lebens völlig gelungen in Stimmung, Äußerem u. Gesellschaftlichem.«118 Er sei überhaupt nicht nervös gewesen, schrieb er seiner Tochter, sondern »gleichgiltig und kalt, ich markierte nur etwas Ergriffenheit und Dank«.119 Andere Beobachter erlebten ihn schüchtern wie einen Schüler, still duldend, dass man ihn, mit der Urkundenmappe aus Marokkoleder unter dem Arm, für die Fotografen hin und her schob.

 

Um 11 Uhr hielt ich meine Rede und um 2 Uhr ging sie schon als Reichssendung über alle deutschen Sender … Grosses Festessen der Stadt, Ilse wurde vom Kultusminister zu Tisch geführt, mein Stuhl von Rosen umkränzt und viele Reden auf mich. Nun ist es vorbei und alles überstanden.120

 

»Zurück flogen wir und Ilse wurde totkrank und kam als halbe Leiche aus dem Apparat und war noch drei Tage krank«121 – Benns erster Flug überhaupt. Die Lust am Reisen war dem »Bozenerstrassenhöhlenbewohner«122 für den Rest des Jahres, das bisher ganz im Zeichen dreier Reisen nach Wiesbaden und Umgebung gestanden hatte, vergangen.

 

Ach, vergeblich das Fahren!

Spät erst erfahren Sie sich:

bleiben und stille bewahren

das sich umgrenzende Ich.123

 

 

Im Winter 1951 /52, nachdem Benns Essays aus den zwanziger und dreißiger Jahren erschienen waren, brütete er »über neuen faulen eiern«,124 einem »Song aus dem Hof- und Hinterzimmer mit Blick auf eine Kaninchenbucht und Kohlstrunkrudimente«,125 einem sonderbaren Hörspiel »über – Liebe … kalt u. cynisch, aber gut«:126 Die Stimme hinter dem Vorhang. In jenem Winter

 

beschäftigten [ihn] die Fehltritte in glücklichen Ehen. Treue ist ein so ungeheuer innerer Prozeß, daß man ihn überhaupt nicht lehren oder verkünden kann. Für die Praxis gilt meine Maxime: gute Regie ist besser als Treue. Den Partner schonen, nicht merken lassen, kein Wirklichkeitsfanatismus an dieser Stelle! Aber wenn es nun mit einem durchgeht –127

 

Nur war hier der Wunsch Vater des Gedankens, denn »in Anbetracht der gewissen Krise, die die Sache hier hervorgerufen hat und der Hintergründe der Krise«,128 widmete Benn den Druck des Büchleins seiner Frau Ilse. Als Benn am 18. Dezember die Stimme nach Wiesbaden schickte, begingen die beiden ihren fünften Hochzeitstag, und er war nicht in der Lage, das Wort auszuschreiben. Im Kalender steht: »HZT V«.129

Vorerst ging also nichts mehr mit ihm durch. Mit der Kellnerin, der »Tränenbereiterin« und »Eröffnerin von Tränen und Qual« war es aus: »geschlossen die Rune, die Reihe, die deinen Namen trug«.130 Er beschloss, über Ostern nach Meran zu fahren: »Ich fühle mich nicht sehr wohl und will mich versuchen, zu restaurieren. Berlin wird immer trostloser und deprimierender, ich erwäge sogar, es für immer zu verlassen.«131

Benn fuhr mit dem Nachtzug über München. Im Milieu des bayerischen Biers fühlte er sich wohl, »die herrlichen vollen Schoppen mit dem leuchtenden Gold schon am frühen Morgen«.132 Der Ton, den er in den Briefen an Ilse anschlug, war liebevoll-versöhnlich. Beinahe täglich schwang er sich mit dem Sessellift »in einem kleinen Holzstuhl allein … in die Höhe (300– 400 m) u setzte sich oben in die Sonne«.133 Vom Gardasee schrieb er: »Dieser See ist wirklich ein Traum u. die Fahrt das Ufer entlang, in Felsen gehauene Autostrasse zwischen Cypressen, Oliven, Citronengärten – phantastisch. Hier musst Du her!«134

Nach Hause fuhr Benn wieder über München. Vorher machte er noch Halt in Stuttgart, wo er mit Heinrich Böll, Wolfgang Weyrauch, Max Bense und anderen an einer vom Süddeutschen Rundfunk veranstalteten Schriftstellertagung »Hörspiel und Literatur« teilnahm. Benns Hörspiel Die Stimme hinter dem Vorhang – jene »Mischung G. B. in Reinkultur: cynisch und melancholisch«135 – war im März erschienen. Es stand bei Radio Bremen unter der Regie Gert Westphals kurz vor seiner Uraufführung und sollte sein zu Lebzeiten meistaufgeführtes Stück werden.136

Im Anschluss verbrachte Benn noch einige Tage in München, machte Höflichkeitsbesuche in den Redaktionen des Merkur und der Neuen Zeitung, verabredete sich mit Clemens Graf Podewils von der Akademie der Schönen Künste zum Abendessen und zog mit Hans Egon Holthusen und Helmuth de Haas durch Cafés und Kneipen.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
titlepage.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html