Im September 1952 fand sich Gottfried Benn unversehens auf der öffentlichen Bühne wieder, und er wird selbst kaum gewusst haben, ob es bei seinen Auftritten mehr um Kunst oder mehr um Politik ging. Zwar hatte er sich erfolgreich geweigert, für die Literarische Welt einen Beitrag über die Frage »Was ist Kulturpolitik?« zu schreiben, und hatte der Europa-Union Deutschland sowie dem Forschungsinstitut für Europäische Gegenwartskunde in Wien, die ihn zu Gastvorträgen eingeladen hatten, die kalte Schulter gezeigt, doch als ihn die Leitung der Berliner Festwochen um die Teilnahme an einer Matinée bat, ließ er sich erweichen.
Am späten Sonntagvormittag des 7. September war die mit Dahlien, Gladiolen und Astern übersäte Bühne des Theaters am Kurfürstendamm in weißes Scheinwerferlicht getaucht. Gottfried Benn, in ein blaues Sakko gekleidet, setzte sich auf einen der schweren, bequemen Sessel und versuchte eine Antwort auf die Generalfrage der im Ganzen vier Berliner Gespräche zu geben, deren erstes der Literatur gewidmet war: »Wo stehen wir heute?« Kleist hätte die Frage mit Sicherheit nicht verstanden, begann Benn seine Ausführungen, Fontane womöglich eine ironische Antwort parat gehabt, »auf keinen Fall wäre er wohl an einem Sonntagvormittag auf die Bühne eines Theaters gegangen und hätte darüber debattiert. Wir tun es, da stehn wir heute, da sitzen wir.«137
Der Eindruck, dass Benn sich im Öffentlichkeit suchenden literarischen Betrieb wohlzufühlen begann, täuscht, aber vielleicht kann man sagen, er begann sich einzurichten. Zwei Tage zuvor hatte der Bundespräsident Benns Verleihungsurkunde des Bundesverdienstkreuzes unterzeichnet,138 und zwei Tage danach fuhr er in literatur-außenpolitischer Mission nach Belgien, wo er die Internationale Dichter-Biennale besuchte: »Das Auswärt. Amt in Bonn finanziert mich u. schickt mich als deutschen Vertreter.«139
Am 9. September reiste Benn zusammen mit Walter Lennig, dem Feuilletonchef des Tagesspiegel und Nachbarn aus der Bozener Straße, mit dem Flugzeug über Hannover ins Zentrum der internationalen Dichtkunst, wo über 150 Lyriker aus aller Welt teilnahmen. Einen Zwischenstopp im spätsommerlichen Brüssel nutzte Gottfried Benn, um die Erinnerung an seinen Aufenthalt in den Jahren des Ersten Weltkriegs zurückzuholen. Aber es lag »ja nun alles so lange zurück, daß es kaum mehr wahr ist, nichts irrealer als vergangene Stimmungen, was im Gedächtnis bleibt und als Erinnerung hervorkommt, ist lauter Schlacke«.140
Neben Benn nahmen aus Deutschland Rudolf Hagelstange, Wilhelm Lehmann, Karl Krolow, Marie-Luise Kaschnitz und Hans Egon Holthusen am Rückblick auf das vergangene Halbjahrhundert teil. Benn traf weitere Bekannte: Alain Bosquet aus der amerikanischen Delegation sowie Alexander Lernet-Holenia. Der hatte Benn vor Monaten in einer Kritik über Die Stimme hinter dem Vorhang persönlich angegriffen und nutzte, da beide im unmittelbar am Meer gelegenen Hotel du Soleil wohnten, die Gelegenheit, sich zu entschuldigen. »Er ist ja persönlich ein sehr eleganter und gewandter Mann, er war der einzige Österreicher da und sass immer mit mir am selben Tisch im Restaurant, schloss sich sehr an mich an.«141
Am 12. September schritt Benn im Anschluss an den Ecuadorianer Jorge Carrera Andrade ans Mikrophon. Danach sprach Léopold Sédar Senghor, der zwischen 1960 und 1980 das Staatsoberhaupt des Senegal werden sollte. Während Benns Auftritt kam es Rudolf Hagelstange vor, »als ob der ›weiße Mann‹ spreche«,142 den »die Sicherheit, mit der die Schwarzen und Gelben sich bewegten«, beeindruckte.
Was ich vorgetragen habe, ist nicht bemerkenswert, es geht im wesentlichen auf meinen Marburger Vortrag Probleme der Lyrik zurück. Diesmal habe ich also meine Arie auf französisch gesungen, ich hatte den Eindruck, es kam nicht an.143
Am 14. September verließ Gottfried Benn den Lyrikkongress, einen Tag vor seinem Ende.144
Und so ging es weiter: »Neue glänzende Einladungen für mich: nach Genf als Mitglied einer internationalen Jury, die 1953 einen riesigen Literaturpreis vergeben soll, 5 Mitglieder, ein Engländer, ein Franzose, ein Scandinavier, ein Italiener (Silone) und ich für die deutschsprachigen Länder (Schweiz, Österreich, Deutschland).«145 Nachdem die Dichter-Götter Gabriel Marcel, Denis de Rougemont, Hans Oprecht, Ignazio Silone und Gottfried Benn im März 1953 drei Tage lang beraten hatten, teilten sich der unbekannte Werner Warsinsky und der spätere Nobelpreisträger Czeslaw Milosz den Europäischen Literaturpreis 1953. Zurück fuhr Benn über Zürich, wo er den Verleger der Statischen Gedichte Peter Schifferli persönlich kennenlernte, mit Max Rychner Aprikosenkuchen aß und von Erhard Hürsch im Cabriolet in die Benediktinerabtei Einsiedeln chauffiert wurde.146
Benns Fangemeinde wuchs von Jahr zu Jahr, mit all den damit verbundenen Schattenseiten. Oft türmten sich Berge von Briefen und Sendungen auf seinem kleinen Schreibtisch, die es ihm schwermachten, sich zur täglichen Erledigung der Post durchzuringen. Immer häufiger wurde er mit Arbeitsproben »von Menschen« belästigt, die »in unserm Vaterland dasitzen und Gedichte machen«.147
Einmal erhielt er Gereimtes aus Göttingen – »Nach der Lektüre Benn’scher Gedichte«: »Lesen ist selber Brennen, / – Aufgehn und Sinken des Mondes, / Schweben, Vergehen, Erkennen – / und um das Leuchten verlohnt’s«, woraufhin er sich die Bemerkung nicht verkneifen konnte: »– ›verlohnt’s‹ – sehr gemütlich, Herr …! Alles Quatsch! Benn«148
Die beiden berühmtesten Lyriker, die als junge, vor dem Beginn ihrer Karriere stehenden Männer Benn ihre Gedichte sandten und gespannt auf sein Urteil warteten, waren der 30-jährige Helmut Heißenbüttel und der 23-jährige Peter Rühmkorf. Heißenbüttel bekam immerhin eine Antwort, »handschriftlich, kurz, höflich, vorsichtig ermunternd«,149 an seinen Gedichten sei etwas dran. Rühmkorf, der sein Päckchen mit den Worten »Achtung, achtung, Literatur! Lyrik, prima, prima Lyrik, die gute Hausmacherlyrik: Genaues Zeitbild, Voraussagen + Rückblick, alles in einwandfrei dichterischer Form«,150 reißerisch anpries, bekam keine Antwort: Vielleicht passte Benn der allzu forsche Ton nicht, wir wissen es nicht.151
Die folgenreichste Fehleinschätzung unterlief Benn jedoch im Fall George Forestiers, dessen im Oktober 1952 bei Eugen Diederichs erschienener Lyrikband Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße in kurzer Zeit auflagenstark knapp 20 000 mal verkauft werden konnte. Im Mai erhielt Benn die Gedichte Forestiers von einem Mitarbeiter des Verlags mit der Bitte, eine Vorrede zu verfassen. Benn lehnte ab, stellte jedoch »das Folgende zur Verfügung in beliebiger Verwendung«:
Ich finde nirgends Spuren davon, dass er wie Sie meinen ein Jünger ist, er wirkt selbstständig, ich würde sagen ein Mann der Ordnung und der Helle. Er bemüht sich nicht, durch Mystizismus und dunkle Andeutungen etwas anderes zu geben als er ist, nämlich ein Wanderer und Weitermüsser und dabei weich und sogar hoffnungsvoll. Einige Gedichte schweben in einem aurorenhaften Licht. … Zweifellos stehn wir vor einer dichterischen Begabung, von der man sehr bedauert, dass Ihre Entwicklung abgebrochen wurde.152
Damit hatte sich Benn inmitten eines kommenden Literaturskandals begeben, der in der frühen Geschichte der Bundesrepublik seinesgleichen sucht. Denn gerade auch aufgrund von Benns Lob – »wunderbar zarte, gedämpfte, melancholische Verse« – wurde Forestier zum Liebling der Feuilletons und zum Shootingstar der Lyrikszene, zumal es hieß, er sei in Indochina als Fremdenlegionär gefallen und man habe seine Gedichte »zwischen Gedichtblättern Gottfried Benns in einer kleinen schmutzigen Kladde«153 gefunden; doch als 1954 ein Nachleseband mit weiteren Gedichten erschien, kamen Gerüchte auf, Forestier sei noch am Leben. Mittlerweile wurde nicht nur die Autorschaft, sondern auch die Qualität der Gedichte in Zweifel gezogen, bis in einer Enthüllungsstory des Spiegel im Oktober 1955 zutage trat, dass der eigentliche Verfasser ein gewisser Karl Emerich Krämer war, ein dichterischer Hochstapler, »der mit schiefen Metaphern hantierte und … weniger an den bewunderten späten Benn als an Freddy Quinns etwa gleichzeitig entstandene Erfolgsschlager wie Brennend heißer Wüstensand erinnert«.154
Anfang März 1952 stellte Benn einen Antrag auf Gewährung einer Pension sowie einer Übergangshilfe, Ansprüche, die er in seinem Berufsleben als Soldat erworben hatte. Angesichts des Zeitaufwandes, den ihm sein Schriftstellerberuf seit einigen Jahren abverlangte, erschien es konsequent, dass er am 1. Juli 1953 sein Praxisschild von der Hauswand abmontieren ließ. Ab diesem Tag war seine Praxis für Kassenpatienten geschlossen. Lediglich für seine »Salondamen« war Benn noch da.