»… wenn das keine neue Häutung gibt, will ich keine Schlange sein«3
Nachdem Benn von den Oberstdorfer Urlaubstagen wieder nach Berlin zurückgekehrt war, musste alles sehr schnell gehen: Um in die Reichswehr eintreten zu können, nahm er Kontakt zu seinem ehemaligen Studienkollegen Walther Kittel auf, der jetzt Chef des Stabes der Heeres-Sanitätsinspektion im Reichskriegsministerium war. Da Benn seine berufliche Existenz ernstlich gefährdet sah, bewarb er sich im November auch um eine städtische Arztstelle in seiner »Spezialität«,4 erhielt aber eine schnöde Absage: »›Kein Bedarf. Papiere anbei zurück.‹«5 Er besorgte sich die notwendigen Bescheinigungen6 und eine Ehrenerklärung des Preußischen Staatsrats, Präsidenten der »Akademie« und der »Union« und Präsidialrats der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst, dass er
sich von Anfang an dem neuen Staat unbedingt zur Verfügung stellte und niemals gegen die Gesetze der nationalen Ehre verstiess.
Über die formale Feststellung hinaus obliegt es mir im Rahmen der mir vom Führer und Reichskanzler zur Verantwortung übergebenen Aemter des deutschen Schrifttums Herrn Dr. Benn auf das Herzlichste zu danken für den kämpferischen Einsatz zur Deutschen Kultur im Sinne des Dritten Reiches an der internationalen Front!7
Der Zusage, zum 1. Januar 1935 in die Reichswehr (die vom 16. März an Wehrmacht hieß) eintreten zu können, stand nun nichts mehr im Weg. Doch es ging nicht ganz so schnell, wie Benn dachte. Als er Anfang des Jahres aus dem Weihnachtsurlaub aus Dänemark zurückkehrte, mussten noch weitere Briefe geschrieben werden, um den Abschied aus Berlin zu besiegeln. Ende Januar glaubte Benn, es gehe nach Hamburg, Mitte Februar war es amtlich:
Am 1.4. also Hannover. Ich erwarte sehr den Tag, wo ich hier alles hinter mich werfe. Obschon ich die neuen grossen Schwierigkeiten nicht verkenne, die mich bedrohn. Aber hier ist es zu Ende. Nicht etwa allein wirtschaftlich, vor allem geistig, was die Technik der Produktion angeht, die innere. Ausgeschöpft, leer. Milieuwechsel dringend geboten.8
Als sich Benn schließlich von seinem »Protektor im Oberkommando verabschiedete, fragte [er]: ›Bitte noch eines, wenn ich in ein Büro komme, muß ich da ›Heil Hitler‹ sagen oder ›guten Morgen‹?‹ ›Murmeln Sie ›Morjen‹, das genügt‹, war die Antwort.«9
Am schwersten dürfte Benn das Auflösen seiner Wohnung in der Belle-Alliance-Straße gefallen sein. Zwar waren beinahe jedes Jahr die Wasserleitungen eingefroren, so dass »ich das Wasser aus einem Brunnen holen lassen musste«; aber er hatte dort doch »herrliche Jahre, mein Leben schlechthin!«10 verbracht. Zwei Wochen vor dem Auszug bot er die letzten Einrichtungsgegenstände der Praxis der seit vielen Jahren mit ihm und Gertrud Zenzes befreundeten Psychotherapeutin Marthe Loyson an, die später nach Chicago ging. Ihr verkaufte er für 15 Mark seinen Instrumentenschrank und lieferte dazu »die Monumentalbüste von mir von G. H. Wolff in gebranntem Ton (Original), abgebildet in Hentzen: ›Deutsche Bildhauer der Gegenwart‹ …, leihweise, aber für lange, da sie mir zum Transport zu schwer u. gefährdet ist«.11 Der Rest des Mobiliars wurde einen Tag vor der Abreise bei einem Spediteur eingelagert. Am 29. besuchte er nachmittags Tilly Irdisch. Dann kam der Reisetag.
Benn erreichte nach etwas mehr als drei Stunden im D-Zug um 12 Uhr 51 Hannover und verließ bei Kälte und Regen den Hauptbahnhof, vor sich das bronzene Standbild König Ernst Augusts in Husarenuniform hoch zu Ross. Eine Viertelstunde Fußweg entfernt würde er erstmals seine im Voraus gemietete möblierte Wohnung in der Hohenzollernstraße 11 im Hochparterre bei Frau Mia Sattler sehen. Er hielt es für nicht ausgeschlossen, in einem Stundenhotel gelandet zu sein: »Manchmal denke ich, das Ganze ist ein Buff.«12 Das Zimmer war zum Schlafen zu hell und, obwohl versprochen, gab es kein Telefon. »Ach, die Zimmer sind primitiv. Und der Kaffee so schlecht!«13 Da die Wohnung, zu der Benn nicht einmal Schlüssel besaß, außerdem ziemlich weit von seiner Dienststelle in der Adolfstraße entfernt war, wollte er sofort wieder kündigen und ging auf Wohnungssuche.
Das frisch tapezierte und gestrichene Zimmer bei der Modistin Else Hoppe, Breite Straße 28/II, von wo aus er nur noch eine Viertelstunde zum Büro brauchte, bezog er bereits am 1. Mai: »Alleinmieter. Am Gaswasserapparat ist Dusche aus Schlauchu Gießkannenansatz, was ich ganz gern habe. … dort ist reines Geschäftsleben, viele Lokale auch sehr gute. Preis 50 M. Schreibtisch, Telefon vorhanden. Bett altmodisch.«14
Nachdem Gottfried Benn »am 1. April den Brief nach Berlin [ge]schrieb[en hatte], für den ich das alles unternommen hatte, nämlich daß ich infolge meines Eintritts in die Wehrmacht alle Verbindungen zu anderen Körperschaften zu lösen hätte und in keiner literarischen Stellung mehr tätig sein könnte«,15 blieb er zwei Jahre und drei Monate in Hannover. Er war Leiter der Abteilung IVb der Wehrersatzinspektion, d. h. er hatte »nicht nur die Fachaufsicht über die Wehrbezirkskommandos, die die Musterungen und Einstellungen der Rekruten durchführten, sondern auch die Aufstellung der Sanitätsabteilungen mit zugehörigen Sanitätsstaffeln der 19. und 31. Division in Hannover und Braunschweig, wie auch die Organisation der Lazarette«16 zu besorgen.
Doch so leicht, wie Benn dachte, ließ sich dem Literaturbetrieb nicht entkommen. Die Tarnung seiner Persönlichkeit – »als ob sich eine Kobra in einer Apotheke ansiedelt, bis der Aspirinverkäufer sie entdeckt u. wie im Bengalifilm erschießt«17 – hatte Grenzen. Bereits nach wenigen Tagen setzte er sich an den Schreibtisch, der im Erker zwischen drei Fenstern mit Blick ins Grüne stand, und schrieb einen geharnischten Brief an Wilhelm E. Süskind, einen der Herausgeber der bei der DVA erscheinenden Monatsschrift Die Literatur, den er zuerst seinem Lektor Karl Pagel zur Ansicht gab. Doch Pagel leitete den Brief nicht weiter und schickte ihn zurück.
Was war vorgefallen? Benn hatte im neuesten Heft der Literatur einen Beitrag von Werner Deubel18 entdeckt, von dem er wusste, dass er ihn in einem Brief an die Herausgeber der unter dem Tarnnamen Wille zum Reich bei Erich Röth erscheinenden Kampfzeitschrift des Widerstands gegen Hitler als Schweineliteraten und Juden beschimpft hatte, der die Quelle des Expressionismus vergifte. Man müsse sich, so Deubel, nur Benns Foto in Marcuses Weltliteratur der Gegenwart ansehen, und man wisse Bescheid. Benn ließ sich von Pagel einigermaßen beschwichtigen und kündigte an, sich von Süskind und der Literatur in Zukunft fernzuhalten.
Es dauerte seine Zeit, bis sich Benn an die neue Umgebung und die komplett veränderten Lebensumstände gewöhnt hatte. Nicht mehr Reichskanzler, Siechen und Fürstenberg hießen seine abendlichen Anlaufpunkte, sondern Kasten, Knickmeyer und Kröpcke. Die Bürozeiten lagen zwischen neun und vierzehn Uhr, sein direkter Vorgesetzter saß weit entfernt beim Gruppenkommando 2 in Kassel. Der Dienst nahm ihn völlig in Anspruch, und er redete sich ein, es sei besser, »in diesem Milieu zu existieren, … als, wenn man noch älter ist, wie Herr Stucken, von Geschenken u. Wohltaten zu leben, das muß noch bitterer sein«.19 Karfreitag bis Ostersonntag besuchte ihn Morchen, mit ihr fuhr er nach Hildesheim; Ostermontag bis Mittwoch war Tilly mit »Liebe, Hummer, Küssen und Tränen«20 an der Reihe. Ebenfalls zu Besuch kamen im Laufe der Monate Tochter Nele, der Vater, Schwester Edith, Martina Bally aus Paris (die Cousine seiner ersten Frau Edith), Benns neuer Freund Oelze, der Kritiker und publizistische Benn-Begleiter Frank Maraun, den er 1925 durch die Vermittlung des Schauspielers Aribert Wäscher kennengelernt hatte, und seine alten Freunde Egmont Seyerlen, Else C. Kraus und Alice Schuster sowie Erich Reiss, der ihm jedoch »ziemlich auf die Nerven«21 ging, so dass er sich in einem Brief an Elinor Büller zu der Bemerkung hinreißen ließ: »Mein Bedarf an Juden ist gedeckt.«22 Ihr Kommen kündigten an: Gertrud Zenzes, Elsa Fleischmann, Carl Werckshagen. Doch zu einem Treffen in Hannover kam es nicht.
Die Abende und Wochenenden verbrachte Benn, wenn er keine gesellschaftlich-dienstlichen Pflichten zu erfüllen hatte, so wie er es gewohnt war, außer dass er die ersten Monate öfter in den Zoo, ins Theater und in die Oper ging oder »Kinolaufstimmung«23 hatte. Dafür las er weniger, abgesehen von Kriminal- und Wildwestromanen, die er verschlang, und dichtete nicht. Noch nicht. An den Sonntagen wanderte er im Deister oder am Steinhuder Meer, oder er »fuhr mit den großen Reiseomnibussen in mir bis dahin unbekannte Gegenden der Weser, der Heide, des Solling oder in mir fremde Städte, wie Hameln, Celle, Wolfenbüttel, alles interessante Orte«.24