Undurchsichtig aus Prinzip82

 
 

Nach Benns Rückkehr aus Kopenhagen, wo er gemeinsam mit Overgaards und Nele das Jahr 1926 begrüßt hatte, stand ihm ein schwerer Gang bevor: Im Moabiter Untersuchungsgefängnis saß sein fünf Jahre jüngerer Bruder Theodor; mit einigen anderen Männern war er angeklagt, sich mehrerer Fememorde, jener hauptsächlich innerhalb rechtsnationaler Gruppierungen in geheimer Selbstjustiz an Verrätern, Spitzeln oder Abtrünnigen verübten Morde, schuldig gemacht zu haben; ihn wollte Benn vor Prozessbeginn noch einmal besuchen. Die Berliner Polizei hatte ermittelt, dass im Jahr 1923 auf dem Truppenübungsplatz Döberitz ein Schütze namens Erich Pannier auf Befehl von Führern der sogenannten »Schwarzen Formation« hinterrücks mit Eisenstangen erschlagen und in einem nahen Birkenwald vergraben wurde. Theodor und drei weitere Angeklagte wurden am 2. Februar 1926 zum Tod verurteilt; zwei Jahre später aber, wusste Benn Thea Sternheim zu berichten, wurde Theos Todesurteil in eine langjährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Durch das Amnestiegesetz vom 24. 10. 1930 wurde auch diese aufgehoben.

Die eigentliche Freundschaft zwischen Gottfried Benn und Thea Sternheim begann Ende 1925.83 Benn hatte »der hohen Protectorin«84 ein Exemplar seines soeben erschienenen Gedichtbandes gewidmet, womit der unterbrochene Kontakt wiederhergestellt war.85 Theas Besuch in Berlin war notwendig geworden, da bei Carl eine alte Lues (Syphilis) diagnostiziert worden war, die er von Benn behandeln lassen wollte. Eine Lumbalpunktion im Zehlendorfer Hindenburg-Krankenhaus bei Professor Paul Fleischmann,86 Benns behandelndem Arzt und Freund, bestätigte schließlich die Diagnose und machte eine mehrwöchige Kur nötig.

Benn, der »seit Wochen in total unterhaltungs- u. besuchsfeindlicher Stimmung«87 war, nutzte die ersten Monate des Jahres, seine familiären, beruflichen und literaturbetrieblichen Krisen durch journalistische »Brodarbeit« (»Preis 200 M. [das ist gegen Bruno Kastner noch sehr wenig]«88) zu bearbeiten. Medizinische Krise erschien im Mai im Querschnitt, Summa Summarum im Juni in der Weltbühne. Damit waren zwar die (vornehmlich finanziellen) Probleme nicht gelöst, doch wenigstens ausgesprochen. Es waren die Wochen, in denen er die Sängerin Alice Schuster bei einem Maskenball kennenlernte und sie hinterher, im Cutaway im Romanischen Café sitzend, zwei Stunden lang anschwieg:

 

Sonnabend war ich schwofen in der Kunsthochschule. Mässiges Vergnügen. Stiess auf eine starke Blondine, natürlich – mein Schicksal – Sängerin, Sopran, u ich habe doch geschworen, nur noch Altistinnen zu verehren, die Rollen sind kürzer, man braucht nicht 3 Akte lang in der Oper zu sitzen. In diesem Fall übrigens verehre ich garnicht, kleine Lappalie.89

 

Nach der Begegnung übersandte er seine Gedichte. »Sie brauchen dies nicht interessant zu finden, es ist privat (wie jede Kunst. Was allgemein ist, ist überflüssig).«90 Man spürt deutlich, wie stark ihn Oskar Loerkes Bemerkung getroffen hatte, dass nach der Veröffentlichung der neuesten Gedichte für ihn die Gefahr wachse, »ein Vorläufer, ein Außenseiter, ein Abgestempelter des Speziellen zu werden«.91 Ob er zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass er in den Überlegungen der verantwortlichen Politiker und Akademiker für die am 19. März neu gegründete Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste – im Übrigen genau wie seine prominenten Kollegen Brecht und Döblin – keine Rolle spielen sollte?

Im Mai suchte Benn wiederum den Kontakt mit den Kindern Thea Sternheims, wenn auch anders, als die es sich gewünscht haben wird. Dorothea, 1905 geboren, Tochter Carl Sternheims, als Thea noch mit Arthur Löwenstein verheiratet war, stürzte sich (oder wurde gestürzt – man weiß es nicht) in eine kurze, aber heftige Affäre mit Gottfried Benn. »Die Lage ist so: Moiby ist in Benn verliebt. Wie steht Benn zu ihr? Er ist undurchsichtig aus Prinzip.«92 So Theas Eindruck, nachdem sie und ihre Töchter bis in die Nacht bei Benn in der Passauer Straße gewesen waren, »in den sieben Zimmern, die er uns zeigt auch nicht der kleinste Gegenstand bei dem man verweilen möchte«.93 Anfang Juli resümierte Mopsa: »Benn war die letzte Etappe, ich glaube ich habe an ihn ausgegeben was ich überhaupt an Hingabemöglichkeit für einen Mann hatte«,94 während Benn »[Thea] mit Erdbeeren füttert[e], über seine grenzenlose Nervenzerrüttung [klagte], die ihn zu jedem Entschluss, zu jedem Umgang unfähig mache«.95

Die kurze Liaison mit Mopsa endete fatal. Im Sommer musste sie operiert werden. Anfang August fuhr sie bereits zurück nach Berlin, um in Benns Nähe zu sein, dem daraufhin die ganze Angelegenheit im wahrsten Sinn des Wortes an die Nieren ging.96 Am 6. unternahm sie einen Selbstmordversuch, schluckte 25 Veronal, »auch nur ein Zufall dass ich noch existiere«.97 Der Zufall hatte einen Namen und er hieß Gottfried Benn. Er – so legt es jedenfalls ein Romanentwurf Mopsas aus dem Jahr 1930 nahe – war es, der sie fand, ihr den Magen auspumpte und veranlasste, dass sie in Paul Fleischmanns Klinik nach Zehlendorf eingeliefert wurde. Thea Sternheim bekam vorerst von alledem nichts mit. Später war sie

 

betrübt, dass Benn, offenbar durch Karls [der nach Berlin gefahren war und sich Benn zur Brust genommen hatte] und Moibys brutalen [sic] Eingriff erschreckt, seine freundschaftlichen Beziehungen zu mir abzubrechen scheint, jene Beziehungen, die mich nicht erfüllen konnten, doch Wärme ausströmten und wohltaten.98

 

Vor dem Hintergrund des Selbstmordversuchs Mopsa Sternheims lässt sich dem vielzitierten Brief von Benn an die ehemalige Geliebte Gertrud Zenzes, der die schwierige Wirtschaftslage, in die er geraten war, sowie innere und äußere Fluchtgedanken aussprach, ein neuer Aspekt hinzufügen:

 

Hinter mir ekelerregende Wochen: ich habe die Wohnung Passauerstr. nach langen schwierigen Verhandlungen tauschlos abgegeben u. bin ganz in die Bellallstr. gezogen, die ich habe renovieren usw. lassen. So bin ich nun hier gelandet, in meinem Altersheim, Siechenhaus, Greisenasyl, vorbei der Prunk der wohlhabenden Jahre, still in den Hafen der Greis. Nun bin ich die ewigen Sorgen u. Ausgaben wegen der grossen Wohnung los u. hoffe, wieder etwas hochzukommen, wenigstens soweit, dass ich mal wieder an eine Reise denken kann. Vorläufig allerdings nicht, die Praxis ist mikroskopisch klein, nahezu unsichtbar, uneinträglich, degoutant. …

Sonst nichts Neues. Sehe und höre niemanden, ausser manchmal Einstein. Selbst mit der Liebe ist es nicht mehr weit her, es vergehen Wochen u Monate ohne Abenteuer u. dann waren sie nachher dow [sic].99

 

Am 17. Dezember 1929 heiratete Mopsa den österreichischen Maler Carl Rudolf von Ripper. Benn war Trauzeuge. Die Macht seiner Ausstrahlung auf die nun Vermählte schien er jedoch noch lange nicht eingebüßt zu haben. Noch Jahre später musste sie »all meine Borsten herausstrecken, damit ich nicht wieder auf meine premiers amours hereinfalle. … ich habe so eine Totenangst vor dem Burschen, wo er doch so böse und dick und scheusslich ist«.100

Trotz allen Klagens kam es auch vor, dass er sich vierzehn Stunden in den D-Zug setzte »zu einer Donna. … Böse u. enttäuscht fuhr ich zurück«,101 »einem Kusse, Augen, welche glänzen, / fährt man eine Nacht nach, über Grenzen«.102

Was Benns Lyrikproduktion angeht, endete das Krisenjahr 1926 äußerst produktiv. Man muss »arbeiten u. leiden. Nicht an Huren u. Liebchen, sondern an Antithesen u. dem Ich«.103 Im Querschnitt erschienen zwei Gedichte,104 im Simplicissimus eines,105 ein anderes sandte er Carl Werckshagen für den Fischzug,106 und Herbert Ihering vom Börsen-Courier erhielt drei Gedichte zum Abdruck, die Benn jedoch wieder zurückverlangte:

 

Sie schrieben am 10. 12. 26. an mich wegen eines Gedichtes, das Sie seines Titels »Osterinsel« wegen nicht verwenden konnten, da es Adventszeit war. Ich schickte Ihnen also zwei andere Gedichte für Ihre Weihnachtsnummer. Ich hörte aber wieder nichts davon und sie erschienen auch nicht. Bitte veranlassen Sie jetzt, dass mir die drei Gedichte zurückgesandt werden, ich wünsche nicht mehr, dass sie im Börsencourier erscheinen.107

 

Gewöhnlich gab Benn seine Gedichte, sobald sie geschrieben waren, Zeitungen und Zeitschriften zur Erstveröffentlichung, Da er sie gerne gesammelt in Büchern gedruckt sah und für den März im Verlag »Die Schmiede« seine Gesammelten Gedichte angekündigt waren, war es besonders ärgerlich, dass ihm eines der Gedichte, die darin erscheinen sollten, von einer Zeitung wieder zurückgeschickt worden war.

Der Verlag »Die Schmiede«, 1921 von Fritz Wurm, Julius B. Salter und Heinz Wendriner begründet – Hauptlektoren waren Rudolf Leonhard und Walter Landauer –, war als ein Verlag der expressionistischen Avantgarde mit angeschlossenem Bühnenvertrieb hervorgetreten und wurde innerhalb nur weniger Jahre zu einem bei Autoren und Lesern äußerst beliebten Verlag, der auch in den Jahren der Wirtschaftskrise expandierte, hauptsächlich mit Reihen wie »Berichte aus der Wirklichkeit«, »Klassiker der erotischen Literatur« und »Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts«. Mit Kafka, Döblin, Becher, Flake und Hasenclever hatte man eine Reihe erstklassiger Autoren im Programm, das den Anspruch erhob, ein Programm moderner Weltliteratur mit dem Schwerpunkt auf französischer Literatur zu sein. Unter anderem realisierte der Verlag die erste Übersetzung von Prousts Recherche.

Leo Matthias erinnert sich daran, wie Benn und »Die Schmiede« zusammengekommen waren:

 

Wir saßen im »Restaurant Nettelbeck« und sprachen über literarische Fragen, als Benn mich plötzlich unterbrach und mit der Mitteilung überraschte, er finde keinen Verleger.

 

Soll wohl heißen, keinen Verleger, der ein Buch machen will. Das letzte kleine Gedichtbändchen war bei A. R. Meyer erschienen. Aber was war eigentlich mit Erich Reiss, dem Verleger der Gesammelten Schriften? Das letzte Mal überhaupt tauchte sein Name im Zusammenhang damit auf, dass Benn in der Zeitschrift Faust seine Paris-Arbeit veröffentlichte. Matthias erinnert sich weiter:

 

Ich sah ihn ungläubig an, denn er war bisher stets imstande gewesen, seine Gedichte in Zeitschriften zu publizieren. Aber in diesem Fall handelte es sich, wie er mir sagte, um etwas anderes. Er wollte zum ersten Male seine gesammelten Gedichte herausgeben – und »daran hat niemand Interesse«. Ich erkundigte mich, an wen er sich gewandt habe, und er nannte mir einen berühmten Namen.108

 

Am 23. 11. 1925 heißt es in einem Brief an den Pressezeichner Emil Stumpp, der Benn zu sich eingeladen hatte: »Mit meinem Verleger bin ich inzwischen etwas auseinander.«109 Es erscheint also nicht als ausgeschlossen, dass Benn bereits bevor er seine Gedichte an einen berühmten Verlag schickte – möglicherweise der Rowohlt Verlag, wo Matthias selbst 1921 ein Buch publizierte, nachdem er vorher bei Kurt Wolff gewesen war –, eine Absage von Erich Reiss für seinen Lyrikband bekommen hatte.

 

»Man hat mir meine Gedichte zurückgeschickt.« Da ich den Verlag kannte, war ich nicht allzu erstaunt und erkundigte mich nach weiteren Ablehnungen. Aber es ergab sich, daß Benn das Manuskript nur einem einzigen Verlag angeboten hatte. »Könnten Sie sich nicht an zwei, drei andere Verleger wenden?« »Ich kann es nicht. Ich gehe nicht hausieren. Kontrakte sehe ich mir niemals an. Wenn man mich nicht verlegen will, soll man es bleiben lassen.« Es war unmöglich, ihn zu überzeugen, daß er mehreren Verlegern zum mindesten die Möglichkeit geben müsse, von seinem Vorhaben zu erfahren. »Vielleicht würde es genügen, ein paar Briefe zu schreiben?« Aber er lehnte auch das rundweg ab. – Es blieb mir nichts anderes übrig, als einen Verleger – ohne Wissen Benns – zu verständigen, und meine Bemühungen waren auch bald erfolgreich.

 

1926 erschienen im Verlag »Die Schmiede« zwei Bücher von Leo Matthias. Seine Verbindungen dorthin waren also intakt.

 

Der Berliner Verlag »Die Schmiede«, der als erster Kafka verlegt hat, war erfreut, Benn zu seinen Autoren zu zählen, und wandte sich brieflich an ihn. Und so erschien in diesem Verlag, 1927, in einem blau kartonierten kleinen Oktavband die erste Ausgabe der »Gesammelten Gedichte«. … Er war unfähig sich anzubieten.

 

1927 erlebte der Verlag seine finanzielle Pleite, so dass sich Benn für den Band Gesammelte Prosa, den er ebenfalls plante, schon wieder einen neuen Verlag suchen musste.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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