»Tua res agitur«60

 
 

Nachdem die Benns Ende Januar nach Berlin geflohen waren, führte Gottfrieds erster Weg zum Truppenarzt beim Standortarzt. Schließlich war er krankgeschrieben, und das wollte er bei der bedrohlichen Lage der Dinge auch bleiben. Zum einen musste er sich in die alte Umgebung wieder einfinden und dann die eigene wie die Versorgung der zahlreich zu ihm kommenden Patienten sicherstellen. Die sowjetischen Truppen hatten mittlerweile das vierzig Kilometer östlich von Berlin gelegene Strausberg erreicht, und die Intensität der Bombardierungen nahm mit jedem Tag zu.

Am 3. Februar, also bereits am fünften Tag nach Benns Rückkehr, erreichten die Luftangriffe, denen tags darauf das Nazi-Kampfblatt Völkischer Beobachter »rein terroristischen Charakter« zusprach, ihren vorläufigen Höhepunkt: Innerhalb von nur 53 Minuten, vormittags zwischen elf und zwölf – öffentliche Luftwarnung und Fliegeralarm waren bereits erfolgt –, griffen 937 Bombenflugzeuge der 1. und 3. Luftdivision der 8. US-Airforce die Stadtteile Kreuzberg, Schöneberg und Tempelhof an. Etwa zweitausend Tonnen Spreng- und Brandbomben ließen die Häuser reihenweise bis zu den Kellern zusammenstürzen. Die durch Phosphorbomben verursachten Brände hielten die Löschtrupps tagelang in Atem. Beinahe dreitausend Menschenleben forderte der Angriff. »Auf den Bayrischen Platz allein kamen 9 Volltreffer«,61 darunter auch der U-Bahnhof, wodurch die Tunneldecke einstürzte. Dreiundsechzig Tote lagen unter den Trümmern.

 

Du kannst Dir nicht denken, wie der Bayrische Platz aussieht. Seit dem Tagesangriff vom Samstag steht noch heute Dienstag alles Betroffene in Flammen. … Es ist ein Wunder, daß Benns noch leben.62

 

Während Benn die Stunden des Angriffs im Bunker des Schöneberger Rathauses verbrachte, in dem drei Wochen später – während des größten Angriffs überhaupt – durch einen Volltreffer 178 Menschen ums Leben kamen, gingen in seiner Wohnung lediglich die Fenster zu Bruch, die er am Tag darauf notdürftig mit Pappen vernagelte, denn es regnete in Strömen. Fließendes Wasser gab es ebenfalls nicht mehr. Die nächste funktionierende Pumpe war in der Helmstedter Straße: Ecke Grunewaldstraße links und dann die zweite rechts. Rußiger Rauch hing in der feuchten Luft. Schmodder klebte an den Schuhen. Als er sich in die Schlange der Wartenden einreihte, hatte er mehr Zeit, als ihm lieb war, darüber nachzudenken, was eigentlich passierte – mit ihm, seiner Stadt und seinem Land: ein »Lebensabend, wie er im Buche steht«.63 Warum sind sie nicht hier? Brecht, Werfel, Döblin, Broch, die Manns, Feuchtwanger, Bruno Frank, Hermann Kesten, Arnold Zweig … tua res agitur! Aber dann ließ er den Gedanken auch schon wieder fallen. Als Kinder hatten sie im Selliner Pfarrhaus täglich, sommers wie winters, den eisernen Schwengel so lange auf und ab gezogen, bis die Eimer voll waren und paarweise auf den Schultern ins Haus geschleppt werden mussten. Erstaunlich genug, dass hier überhaupt alles weiterging – die Patienten kamen vom ersten Tag an. Sie zahlten zwar meist in Naturalien, mal mit zwei Flaschen Grünem Veltliner aus der Wachau, mal mit Muschelsalat oder selbstgebackenem Kuchen. Auch das kannte er ja als Kind nicht anders. Zu Ostern hatte jede Familie aus der Gemeinde frische Eier abzuliefern, ganze Waschkörbe voll, und im Herbst gab es von jedem, der konfirmiert wurde, eine fette Gans. Auf dem Weg zur Pumpe musste er noch in die Jenaer Straße, Pantoponspritze, schnell wirkendes Opiat gegen Schmerzen und Angst. Zum Glück hatten Elisabeth Rexhausen und ihr Angestellter Dr. Gerhard Wilcke noch ihre Apotheke am Bayerischen Platz. Genau zehn Jahre später wird er wieder hier sitzen.

 

… immer auf eine Bank, die nicht weit von einem kleinen Wasserbassin ist, in dem die Vögel baden. Aus grossen Gedanken mache ich mir nichts mehr, das Nippen u Plantschen genügt mir. Manchmal fliegt ein Vogel mit dem Trunk direct auf einen zu u erst kurz vor der Brust biegt er ab. … Rückweg an dem Brunnen vorbei, richtiger: Pumpe, … natürlich musste ich den Eimer selber tragen, war ja allein u das bischen Wasser schwappte auch mal über.64

 

Der Tagesablauf des Dr. med. Benn war vor allem von Versorgungsnöten bestimmt. Inzwischen hatte er ein funktionierendes Netzwerk aufgebaut, das ihm die überlebenswichtigen Dinge sicherte. Drei Männer, Dienstuntergebene, die sich schon in Landsberg um sein Wohl gekümmert hatten, taten dies nun auch in Berlin: Hans Wagner fuhr im letzten Kriegsjahr immer wieder nach Berlin und versorgte die Benns mit frischem Fisch und im Sommer mit Obst, Ernst Pollähne, dem Benn im Jahr zuvor zur Verleihung des Kriegsverdienstordens zweiter Klasse verholfen und eine Stellung in Landsberg verschafft hatte, sowie der Obergefreite Walter Paulat, ebenfalls Fachmann im Organisieren wichtigster Dinge, aber auch zum Reparieren der Rollos eingesetzt. Ein gewisser Göbel war Obstlieferant, Himmelsbach für Radio und Telefon zuständig und der Tabakwarenhändler Guido Königsberger für die Zigaretten. Bereits Mitte Februar hatte Benn an das Wehrversorgungsgruppenamt eine Erneuerung seiner Krankmeldung geschickt und beim Quartiersamt die Erlaubnis eingeholt, in seiner Wohnung wieder zu praktizieren.

Gegenüber Oelze fasste Benn die Ereignisse jener bitterkalten Tage, in denen es Schnee, Staub und Schmutz regnete, zusammen:

 

Berlin! Eine fahle Trümmerstadt am Rande der Hungersnot. Und wenn die Schlacht um Berlin beginnt, was jeden Tag bevorsteht u. schneller als die Meisten ahnen, wird Schluss sein: die Russen mit Artillerie u. die andern von oben pausenlos 48 Stunden, u. dann wird alles befriedigt sein, die einen von der heroischen Verteidigung u die andern von der ebenfalls heroischen Eroberung. Meine Dienststelle versucht herauszukommen, findet aber kein Unterkommen. Mit Gen. Kdo. haben wir nichts zu tun, direkt mit OKW, aber das ändert auch nichts.

Wir schlafen auf einem Strohsack, da unser Schlafzimmer in L.aW. steht. Täglich etwa 7 –8 Stunden Lichtsperre, also im Dunkeln, da die Fenster fehlen u. vernagelt sind; 3–4 mal Alarm; wir sehn alt u. grau aus u. leben von trockenem Brod – der Lebensabend, wie er im Buche steht.65

 

»Und manchmal ist eine Frühlingsstimmung in der Luft, als ob Veilchen und Liebe dazugehörten …«,66 heißt es überraschend im selben Brief. Als ob Veilchen und Liebe dazugehörten. Die Liebe zu Herta, wenn es je eine gab, war erloschen. Im Kalender wird sie ignoriert oder, wenn ihr Name auftaucht, gedemütigt. Anfang März, nach sechs Wochen, notierte der Haushaltsvorstand und Ehemann: »H. plättet«.67 Das letzte Mal, dass er ihren Namen erwähnt hatte, war an ihrem Geburtstag, am 2. Februar, als sie gemeinsam bei Dramburg zum Essen waren. Wenn der Eindruck nicht täuscht, ging Hertas Evakuierung nach Neuhaus an der Elbe am 5. April eine manifeste Ehekrise voraus.

Am 9. März fuhr der aus Neuhaus stammende Hans Wagner in seine Heimatstadt. Er war es, der den Benns riet, in das von Briten besetzte Städtchen zu gehen, wo es ein »par leerstehende Katen«68 gebe. Kurz darauf kündigte Benn an:

 

Sollte ich hingelangen, würde ich dort noch einen Schluss zu dem Essayband schreiben: »Willkommen den literarischen Emigranten«, Bezug nehmend auf jenen »Offenen Brief an die l. E«, 1933. Ich würde sagen, dass ich meine damaligen Positionen im wesentlichen aufrecht erhalte u. dass ich auch rückblickend das Bleiben in Deutschland für das Richtigere halte. »Der Untergang eines Volkes, selbst wenn es sich um das [deutsche] handelt, ist eine ernste Sache, die sich nicht mit literarischen Arabesken von Miami aus, auch nicht mit einem an sich gerechtfertigten Hass abtun lässt, hier handelt es sich um Kern- und Substanzfragen – tua res agitur!«69

 

Einen direkten Hinweis darauf, dass Benn mit seiner Dienststelle nach Neuhaus gehen sollte, gibt es nicht. »Packen!«70 lautete der Eintrag am nächsten Tag, doch mit der Übersiedlung des Ehepaares wurde es aus unbekannten Gründen nichts. Bis zu Hertas endgültiger Abreise dauerte es noch einen Monat: »Schön Wetter. Packen / … / H. ab Lehrter Bahnhof 352 . … / Anruf Freese, dass seine Frau fort.«71 Sie war zu diesem Zeitpunkt also nicht die Einzige, die von ihrem Mann aus Berlin evakuiert wurde. Was Benn beim Abschiednehmen am Lehrter Bahnhof nicht wusste, war, dass er seine Frau nicht mehr lebend wiedersehen würde.

 

Ich bleibe noch hier, … werde versuchen, nachzukommen. Die Angriffe hier sind unerträglich.

Die lit. E. werde ich wohl nicht mehr begrüssen. Es ist alles so belanglos, ob sie kommen, was sie denken, wie sie urteilen.72

 

Eigentlich hatte er darstellen wollen, warum das Bleiben in Deutschland das Richtigere gewesen sei. Denkbar ist auch, dass Benn in Berlin bleiben wollte, im Zentrum des Geschehens, aus dem heraus die Lage zu beurteilen er für unverzichtbar hielt. Genauso gut vorstellbar ist aber auch, dass ihn die Angst, als Deserteur erschossen zu werden, davon abgebracht hat, mit Herta zusammen die Stadt zu verlassen. Sie wechselten noch wenige Briefe, die meist Hans Wagner beförderte. Dann riss der Kontakt ab.

 

Am Sonntag, dem 11. März, setzte sich Benn an seinen kleinen alten Schreibtisch und begann mit den Vorarbeiten zu dem Willkommensgruß an die Emigranten, vor sich das Bild mit der Bucht von Nizza, oder war es San Remo, er wusste es selbst nicht genau, daneben »eine Photographie aus dem Britischen Museum: ›Hypnos‹, (Perugia 4th. century), ein wunderbarer Kopf mit Flügeln, ein Kopf mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Versunkenheit u. Ernst«.73 Tags zuvor hatte Himmelsbach ein Detektorradio mit Kopfhörer gebracht; die Verbindung zur Welt war wieder hergestellt, vor allem wenn der Strom, wie jetzt immer häufiger, ausfiel. Hans Wagner war auf Erkundungsreise in Neuhaus, und das sonntägliche Treffen mit den in Berlin gebliebenen Geschwistern Edith, Ernst-Viktor und Theo fand heute nicht statt. Siegfried war im Ersten Weltkrieg, der jüngere Halbbruder Hans-Christoph im Oktober 1941 gefallen. Vom Tod des 1916 geborenen Friedrich am 12. Januar hatten ihn Edith und Ernst-Viktor vor zwei Wochen unterrichtet. Stattdessen versuchte Benn an diesem Sonntag das einzige Mal – wahrscheinlich motiviert von der Vorstellung, in Neuhaus in relativer Ruhe weiterschreiben zu können –, sein schriftstellerisches Schweigen zu unterbrechen und an den Briefwechsel mit Klaus Mann und den Emigranten an der Stelle wieder anzuknüpfen, wo er ihn 1933 unterbrochen hatte.

Mit einem Vorwurf wollte er sie begrüßen – tua res agitur! Um den Untergang ihres Volkes sei es gegangen, sei es auch nur das der Naziepoche. Gleich im ersten Satz wollte er ihnen mit Ironie begegnen, die moralische Überlegenheit des hier Gebliebenen demonstrieren und antizipierte damit durchaus gewollt seine erneute Rolle als Außenseiter, die ihm in seiner Vorstellung die Emigranten nach ihrer Rückkehr zuweisen würden. Natürlich würde er ihnen zugestehen, dass sie die Nazis und all ihre Unterstützer hassten, und dieser Hass sei auch berechtigt, denn

 

die menschliche Substanz tritt hier zu Tage.

Dass der Mensch, der gebildete, der studierte, der Hochstand der weissen Rasse, befriedigt wieder in Höhlen wohnt, stolz darauf ist, wenn er 2 Mohrrüben mehr erhält als der Nachbar, die Schauer der Bombennächte vergisst, wenn ihm eine halbe Flasche Schnaps »zugeteilt« wird u er der zuteilenden Gangsterbehörde noch zum Gruss den rechten Arm hebt, dem muss man sich stellen; …74

 

Wer über Deutschland reden und richten will, muss hier geblieben sein.75

 

Trotzdem sage ich auch heute ja dazu, dass ich hier geblieben bin u versucht habe, das Deutschland, in dem ich gross geworden bin, noch einmal zu verstehen. Ein vergeblicher Versuch – teuer bezahlt!76

 

Wie würden sie ihm begegnen? Was ihm vorwerfen? Gemeinsame Sache gemacht zu haben mit skrupellosen Mördern, staatsrechtlichen Fälschern, ihm alle nur denkbaren moralischen Laster anhängen, ihn als Verbrecher bezeichnen, wie sie es bereits mit Furtwängler, Hamsun, Sven Hedin und Ortega versucht hatten? Mit diesen wollte und durfte er nicht über einen Kamm geschoren werden.

 

Es giebt Totalitäten im Menschheitsblock … an denen der Geist völlig zerschellt, die er niemals durchdringen, die er nur umgehen kann.

Das ist neu. Ich wusste es nicht. Wussten Sie es? Wusste es der Liberalismus? Ja. – Nur dann hat er sich falsch verhalten, weichlich u feige gehandelt, Sie hätten mit der Ausrottung dieser Totalitäten anders beginnen müssen, wenn Sie Deutschland liebten. Dann hätten auch Sie nicht zu emigrieren brauchen, aber das Bürgerliche hindert auch Sie, diese Dinge zu erkennen.77

 

Die Argumente waren fast dieselben wie vor Beginn der Nazi-Diktatur.78 1933 hatte Benn den Liberalen vorgeworfen, ihnen habe die Härte gefehlt, die neuen geschichtlichen Realitäten zu erkennen und sich darin einzurichten, jetzt war es der Vorwurf bürgerlicher Weichheit und Gemütlichkeit, die politischen Realitäten 1933 nicht aktiv verändert zu haben, sondern davor weggelaufen zu sein. Selbst unter der Voraussetzung, dass das politische Urteil des Liberalismus schärfer und vorausschauender als sein eigenes war – ich wusste es nicht –, in beiden Fällen, so Benns Analyse im März 1945, war Emigration die falsche Entscheidung.

Benns blieben also vorerst in Berlin. Seine Begrüßungsrede für die Emigranten hob er sich für einen späteren Zeitpunkt auf. Die Bombardements wurden immer heftiger, am 28. März war die Altstadt Spandaus das Ziel eines schweren Luftangriffs. Drei Tage später, am Ostersamstag, fielen Danzig und Küstrin. Das Osterfest war verregnet, an Feiern dachte niemand. Glücklicherweise gab es wieder Warmwasser, während Benn stark erkältet war und Halsschmerzen hatte. Als Reichsverteidigungskommissar Goebbels anordnete, Berlin bis zur letzten Patrone zu verteidigen, was bei rund neunzigtausend in der Stadt befindlichen Soldaten, SS-Angehörigen und Mitgliedern des Volkssturms gegenüber zwei sowjetischen Armeen einer Unmöglichkeit gleichkam, brachten Patientinnen Kaffee, eine Azalee und eine Flasche Wein.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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