»Rechne mich nicht zu den Modernsten«51

 
 

»Ich bin dein Wegrand«,52 schrieb Else Lasker-Schüler in ihrem »letzten Lied an Giselheer«,53 erschienen am 8. April 1914 in den von René Schickele herausgegebenen Weißen Blättern, und es scheint so, als habe sie es dem geliebten Dichterfreund hinterhergerufen, nachdem er wenige Tage zuvor Berlin verlassen hatte und auf der »Graf Waldersee« als zweiter Schiffsarzt auf dem Weg von Hamburg nach New York war. Zweifellos kannte sie Benns (Liebes-)Gedicht Hier ist kein Trost,54 in dem er anhob: »Keiner wird mein Wegrand sein.« Doch die Lasker-Schüler war nicht gemeint.

Die 1869 in Wuppertal geborene Bankierstochter Else Schüler ehelichte 1894 den Arzt Berthold Lasker, zog nach Berlin und blieb fast zehn Jahre mit ihm verheiratet. Sie nahm Zeichenunterricht und lernte 1899 Peter Hille kennen, veröffentlichte erste Gedichte und bekam ihr einziges Kind. Dann traf sie ihren späteren Mann Herwarth Walden. Bis 1912 erschienen die Bücher Styx, Der siebente Tag, Das Peter Hille-Buch, Die Nächte Tino von Bagdads, Die Wupper, Meine Wunder und Mein Herz.

Wahrscheinlich haben sich der Pathologe und die knabenhafte und immer unfrisiert scheinende Lyrikerin erst im Herbst 1913 kennengelernt. Aber möglicherweise war sie bereits dabei, als Benn mit dem im kommenden Krieg gefallenen Hans Ehrenbaum-Degele durch die »Nachtcafés« zog. Wenn nicht, könnte der ihr davon erzählt haben. Oder sie begegneten sich im August 1912, als sie beide an der Ostsee in den Ferien waren. Doch weder sie noch er erwähnen es. »Lange, bevor ich ihn kannte, war ich seine Leserin, sein Gedichtbuch – Morgue – lag auf meiner Decke.«55

Für beide hatte im Herbst 1912 ein neuer Lebensabschnitt begonnen. »Sie wohnte damals in Halensee in einem möblierten Zimmer«, nämlich in einem winzigen, mit Glasklingelspielen, bunten Federlaufrädchen, kleinen Soldaten und Elefanten geschmückten Mansardenzimmer in einer klassizistischen Villa in der Humboldtstraße 13, an dessen Wänden einige Plakate und Zeichnungen von Franz Marc, von Ludwig Kainer, ihrem Sohn Paul und von ihr selber hingen. Die damals 43-Jährige bezog dieses Zimmer Anfang September, nachdem sie von ihrem Urlaubsort Brunshaupten an der Ostsee zurückgekehrt war. Ihre Scheidung von Herwarth Walden stand wenige Wochen bevor. Gottfried Benn kehrte ebenfalls Anfang September von seinem dreimonatigen Ostseeurlaub zurück, musste jedoch noch einmal zu seiner Truppe nach Prenzlau. Als er nach Berlin zurückdurfte und eine Stelle als Assistent im Krankenhaus Westend übernahm, war es Ende Oktober.

Ein gutes Jahr hielt er es bei seinem neuen Chef, dem Prosektor des pathologisch-anatomischen Instituts und Leiter des Untersuchungsamtes für ansteckende Krankheiten, Professor Albert Dietrich, aus. Während in der Bismarckstraße die neue Städtische Oper eröffnet wurde, stieg der »evangelische Heide«, wie Else Lasker-Schüler ihn nannte, der »Christ mit dem Götzenhaupt«, »der dichtende Kokoschka«, »hinunter ins Gewölbe seines Krankenhauses und schneidet die Toten auf … Der Knochen ist sein Griffel, mit dem er das Wort auferweckt.«56 Im Schnitt jeden zweiten Tag eine Leiche, eine Zeitlang sogar zwei am Tag. Mal war es ein Kaufmann im mittleren Alter, mal ein sechs Jahre altes Kind, mal ein Säugling von sieben Monaten. Oder, wenige Tage vor Silvester, ein Mann, der seinen Schussverletzungen erlegen war: »Unter dem linken hinteren Rippenbogen fühlt man dicht unter der Haut zwei harte Gegenstände, von innen findet sich ein Wundkanal dahin.«57

Wenn er abends aus seinem Gewölbe am Spandauer Berg wieder auftauchte, erwachten auch die Leichen, die er am Tag seziert hatte, und er schrieb seine Gedichte.58 Oder er traf sich mit anderen Assistenten, etwa dem späteren Chefarzt am Dresdener Rudolf-Heß-Krankenhaus L. R. Grote oder dem Gerontologen Max Bürger.59 Den weitaus größeren Teil seiner »Freizeit« hat er jedoch mit seinen literarischen Bekannten verbracht, die ihn als revolutionären – wenn auch vom revolutionären Aktivismus angewiderten – Dichter unter Gleichgesinnten begrüßten.60 So berichtet Peter Scher aus der Anfangszeit des Sturm: »Kokoschka war damals ein hochaufgeschossener junger Mann, mit einem seltsam langgestreckten Schädel. Er lächelte immer nur geheimnisvoll, wenn Walden, Gottfried Benn, Alfred Döblin und Rudolf Blümner temperamentvoll durcheinander debattierten.«61 Man sprach gegenseitig Einladungen aus oder man traf sich im Café.

Bei einer dieser Gelegenheiten könnten sie sich also begegnet sein, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es im Café des Westens, Kudamm, Ecke Joachimstaler war. An einem der Marmortische im völlig verrauchten sogenannten »Café Größenwahn« saß Else Lasker-Schüler in ihrer Jacke aus Seehundfell, Halbmonde aus Kupfer am Ohr und Ketten aus Bernstein und Glas um den Hals, auf einem roten Plüschsessel. Sie hielt den in Melone und Covercoat auf den knarrenden Holzdielen sich nähernden kleinen schlanken Mann für einen Gaffer, der einmal im Leben die dämonischen Gestalten der Boheme mit ihren »wildflatternden Krawatten und sezessionistischen Socken«62 mit eigenen Augen sehen wollte. Um sie herum saßen ihre Künstlerfreunde, die »Modernen«, den Hut auf dem Kopf oder abgenommen, den Mantel auf dem Arm oder aufgehängt, den Stock in der Hand oder abgelegt, als ihr der Dichter der Morgue vorgestellt wurde, sie aus ihrer Versunkenheit erwachte und zum ersten Mal in seine Augen sah, die ihr von fern herzukommen schienen. »An den Armen dieser hemmungslosen Bohemienne, die von Zigeunern abzustammen schien, klingelten Metallreifen aus sämtlichen Ländern, von Island bis Indien, und Benn saß dieser Frau gegenüber wie ein Manager, der den Versuch macht, sie für einen Wanderzirkus zu gewinnen.«63

Später, als sie einmal in großer Runde hier zusammensaßen und der deutsch-argentinische Dichter Rudolf Johannes Schmied aus Buenos Aires zurückgekehrt war, habe dieser eine Anekdote über die Existenz von blauen Indianern zum Besten gegeben. Darauf soll Benn gesagt haben: »Blauer Indianer, sagst du? Offenbar eine optische Täuschung. Das atmosphärische Medium schwächt mit wachsender Entfernung den Eindruck der Farben ab, zugunsten des Blau.« Daraufhin zuckte Schmieds Nase: »Pardon, mein Lieber, pardon. Ich habe dich für einen Dichter gehalten – du bist nur ein Wissenschaftler.«64

Man ahnt, wie schwer Gottfried Benn der Eintritt in diese Welt gefallen sein muss. Doch war er klug genug zu erkennen, dass er ohne sie nicht weit kommen würde. Einladungen an Verleger 65 mussten ausgesprochen werden, er besuchte Leseabende der Kollegen66 und nahm selbst an solchen teil. »Neulich las ich beim Kassierer [= Paul Cassirer] vor. Es wurde gezischt, geschrien, aber auch sehr geklatscht. Es war sehr spaßig.«67 An demselben, am 1. März 1913 stattfindenden Vortragsabend der Aktion im Kunstsalon in der Viktoriastraße 35 lasen vor: Paul Boldt, Alfred Lichtenstein, Richard Oehring, Hellmuth Wetzel und Alfred Wolfenstein. Der Verleger von Else Lasker-Schülers Wupper, Erich Oesterheld, sprach über »Kino und Bühne«, der Herausgeber der Aktion, Franz Pfemfert, referierte über die »Notwendigkeit des Dreiklassenwahlrechts« und Max Oppenheimer hielt einen Vortrag über »Politik und Kunst«.

Nicht nur an der literarischen Front hatte Benn mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Und hätte er in Ruhe seiner medizinischen Arbeit nachgehen können, gewiss wäre er länger im Westend-Krankenhaus geblieben. Doch wieder einmal verkrachte er sich mit seinem Chef und musste gehen.

 

Mein Dienst gefällt mir nicht mehr. Zu viel Arbeit u. der Chef treibt so sehr zu eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. Dazu habe ich aber zunächst gar keine Lust. Im Gegenteil, ich habe Auswanderungsgedanken.68

 

Das klingt salopp dahergesagt, doch Benn war es ernst. Seit Beendigung des Studiums trug er sich bereits mit dem Gedanken, alles hinter sich zu lassen – »zu fliehen und zu reisen«.69 Und zu allem Überfluss war er nun auch noch in der Krolloper am Pariser Platz Liz begegnet, der Frau, die er heiraten wollte – mit einem neuen Mann an ihrer Seite: »Sie sah sehr ordinär aus. Ihr Mann ein ganz gemeiner Schieber.«70

Die Sphären, in denen er lebte, wurden immer weniger vereinbar. Und die Zeit, die ihm zum Schreiben blieb, wurde seit dem Beginn seiner Tätigkeit in der Pathologie des Westend-Krankhauses immer knapper. Wenn Professor Dietrich seine Assistenten »dienstverpflichtete«, eigene wissenschaftliche Arbeiten anzufertigen, kann man sich vorstellen, was in dem jungen Arzt vorging, dessen Verhältnis zur medizinischen Wissenschaft durch seine Beschäftigung mit der Psychiatrie bereits getrübt war. Seit einem Vierteljahr schon lag Dietrich seinen Assistenten in den Ohren, einen Aufsatz für die Festschrift seines Tübinger Kollegen Paul von Baumgarten, des Tuberkuloseforschers, der als Geburtshelfer der Bakteriologie galt, zu schreiben. »Herr Professor, ich gebe Ihnen hiermit die Arbeit über die Lücke im Bauchfell des Neugeborenen zurück. Ich habe nicht das geringste Interesse daran.«71 Hier liegt die Geburtsstunde des Dr. Rönne, Benns literarischen Alter Egos, existenzielles Abspaltungs- und psychologisches Zerfallsprodukt, dem zunehmend die Aufgabe zuwuchs, die Belastungen des medizinischen Alltags erträglich werden zu lassen und dem Selbstbild des Dichters den Raum zu verschaffen, den es brauchte. Während Assistent Dr. Benn die Arbeit über »den Fall von innerer Einklemmung infolge Mesenteriallücke bei einem Neugeborenen« schrieb, nahm Dr. Rönne, zuständig für alle Fragen des problematisch gewordenen quälenden Ichs und seines Bewusstseins, in dem gleichzeitig entstehenden Dramolett Ithaka all seinen Mut zusammen und schrie seinem Chef entgegen: »Ich habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zerkaut! Ich habe gedacht, bis mir der Speichel floß. Ich war logisch bis zum Koterbrechen.«72 Zweifellos musste der Pathologe Albrecht Dietrich literarisch ausbaden, was die Psychologen und Hirnforscher Theodor Ziehen und Paul Flechsig angerichtet hatten.73

 

O daß wir unsre Ururahnen wären.

Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.

Leben und Tod, Befruchten und Gebären

glitte aus unseren stummen Säften vor.74

 

 

Am 22. März 1913 war es endlich so weit: »Dr. Benn, Assistenzarzt beim Inf.-Regt. Generalfeldmarschall Prinz Friedrich Karl von Preußen (8. Brandenb.) Nr. 64, wurde auf sein Gesuch um Verabschiedung zu den Sanitätsoffizieren der Landwehr 1. Aufgebots übergeführt; sein weiterer Antrag auf Bewilligung von Pension wird dem Kriegsministerium zur Prüfung und Erledigung nach den gesetzlichen Vorschriften überwiesen.«75 Was nichts anderes hieß, als dass Benn die folgenden fünf Jahre der Landwehr ersten Aufgebots – das waren die 26- bis 32-jährigen Wehrpflichtigen – angehören würde, danach der Landwehr zweiten Aufgebots, bis zum 31. März des Jahres, in dem er vierzig würde. Als Pension hätte ihm im besten Fall ein Viertel seines Diensteinkommens bewilligt werden können. Über Zahlungen an ihn ist jedoch nichts bekannt.

Möglicherweise spricht Erleichterung aus Benns biographischer Notiz, die er wenige Tage später unter einen Brief an den Schriftstellerkollegen Rudolf Hartig setzte, der ihn aufgefordert hatte, sich an einer Anthologie zu beteiligen:

 

Meine Personalien sind mir nebensächlich. Ich bitte nur dies zu bringen: Gottfried Benn. Dr. med. im Krankenhaus Charlottenburg-Westend. Geboren 1886.76

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
titlepage.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html