»Ich verwerfe mich fast vollständig,
da ich mich neu sammle«
33

 
 

Im Laufe des Jahres 1913 konnte der seit zwei Jahren im Bau befindliche Erweiterungsbau des Städtischen Bürgerhaus-Hospitals in der Sophie-Charlotten-Straße 117 endlich eingeweiht werden. Benn hatte sich im Vorfeld an der Einrichtung des pathologischen Instituts in der Frauenklinik beteiligt und leitete es ab 10. November, dem Tag der Eröffnung. Für ein knappes halbes Jahr wohnte er am Spandauer Berg 15 /16 und war nun mit den Sektionen, bakteriologischen und mikroskopischen Untersuchungen betraut, und wie seine Beurteilung verdeutlicht, zeigte er sich diesen Aufgaben »in jeder Weise gewachsen«.34 Aber was war passiert, dass er sich Anfang 1914 bereits aus einem Anstellungsverhältnis lösen wollte, in dem er erstmals keinem Vorgesetzten unmittelbar unterstand? Wie ein Jahr zuvor, als er die Uniform auszog, schied Gottfried Benn auch diesmal »auf Wunsch«35 aus dem Krankenhausdienst und bewarb sich als Schiffsarzt bei der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft Hapag.

An drei Vortragsabenden hatte Benn im vergangenen Winter teilgenommen. Am 28. November las er im Papierhaus, Dessauer Straße 2, bei einem Autorenabend seines Verlegers A. R. Meyer neben Max Herrmann-Neisse, Rudolf Kurtz, Rudolf Leonhard, Anselm Ruest u. a. Am 7. März 1914 bestritt er im Vortragssaal Austria in der Potsdamer Straße 28 mit Paul Boldt, Max Oppenheimer (Künstlername Mopp) – der über Malerei sprach und für Benn die Umschlagzeichnung des 1917 im Aktionsverlag erscheinenden Lyrikbands Fleisch zeichnen sollte –, Carl Einstein, Richard Oehring und Franz Pfemfert den 6. Autorenabend der Aktion, wo Anfang des Jahres sein Gedichtzyklus Nachtcafé publiziert worden war.

Benn befand sich gewissermaßen auf Abschiedstournee, »da ich bald auf eine größere Auslandsreise gehe«, um sich eine »Meerfahrt und einige neue Himmel über das Gehirn spülen zu lassen«.36 Knapp zwei Wochen bevor es losging, traf man sich zu einem letzten öffentlichen Auftritt: »Die feindlichen Brüder« war das literarische Kabarett betitelt; es sollte in Paul Cassirers Kunstsalon stattfinden. Die teilnehmenden »Brüder« waren Paul Boldt, der Benn wenige Tage zuvor eine Widmung in seinen bei Kurt Wolff erschienenen Gedichtband Junge Pferde! Junge Pferde! geschrieben hatte, Alfred Wolfenstein und Egmont Seyerlen.

Seyerlen, der literarisch nur durch einen einzigen Roman hervorgetreten ist, spielte in Benns Leben eine besondere Rolle. Nach den Jahren des Kriegs lebte die Freundschaft der beiden »Womanizer«, die in unmittelbarer Nachbarschaft lebten, wieder auf. Als 1922 Benns Gesammelte Schriften erschienen, widmete er sie dem »treuen der Feindlichen Brüder«.37 Seyerlen, bis 1924 international erfolgreicher mit Wolle und Baumwollgarnen handelnder Großhändler, »ein merkwürdiger Mann, hager, elegant, mit mächtiger Glatze und Nase«,38 versorgte Benn mit interessanten Büchern und lieh ihm Geld, sie schrieben Urlaubsgrüße, verlebten Abende »in bekanntem Stil«39 – »Alcohol oder coitus«.40 Die Generalthemen der Kameraden, wie sie sich gerne nannten, bewegten sich ausnahmslos auf dem Gebiet der Kunst des Lebens: »Wenn wir über 45 sind, ist der Spass vorbei für die Männer unseres Geschlechts.« Ihr Kontakt riss über die Jahre nicht ab, gelegentlich besuchten sie einander, doch was sie einst bewegte, erstarrte im Laufe der Jahre in müder Nostalgie.

Leo L. Matthias, dem letzten der »feindlichen Brüder«, verdanken wir Einzelheiten des Abends. Am Nachmittag vor der Veranstaltung trafen sie sich zu einer Vorbesprechung, wo man sich auf Reihenfolge, Inhalte und Dauer der Vorträge einigte. Doch als sich am nächsten Abend Paul Boldt, der als Erster lesen sollte, verspätete, kam es zum Streit.

 

Benn war dafür, Boldt zu streichen oder ihn am Schluß sprechen zu lassen. Aber die meisten waren dagegen, und das brachte Benn in Aufruhr. Mit militärisch kurzen Schritten lief er in dem kleinen Korridor, der sich hinter dem Podium hinzog, auf und ab und erklärte: »Also ich warte nicht. Ich gehe.« Aber er ging nicht, und als Seyerlen einen günstigen Augenblick benutzte, um zu sagen, daß die Mehrzahl der Besucher, die den Saal bis zum letzten Platz füllten, doch nur seinetwegen gekommen sei, um ihn, den Dichter der »Morgue«, zu sehen und zu hören, erregte dieser diplomatische Vorstoß nur seinen Ärger. … nach einigen weiteren Minuten erschien Boldt, außer Atem, und der Abend konnte beginnen.

Benn hatte seinen Vortragsstil schon damals gefunden. Er las einige Gedichte aus »Morgue« und einige ungedruckte in jenem sachlichen, fast unbeteiligten Ton, der manchmal den Eindruck hervorrief, als ob er den Leuten die Verse vor die Füße werfen wollte. Sein Sprachton war nicht frei von Protest und Polemik. Aber der Erfolg war nachhaltig und ehrlich …41

 

Tags darauf erschien eine Kritik im Börsen-Courier, die Benn konzedierte, eine Parodie vorgetragen zu haben, die von Zynismus triefte, im Übrigen habe man aber schon Besseres von ihm gelesen.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
titlepage.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html