»Psychologie: zum Kotzen«2

 
 

Aufgrund der Prüfungsergebnisse des Sommers wurde Gottfried Benn zum Unterarzt ernannt. Seine Einheit war das Infanterie-Regiment 64 in Prenzlau, das vom 2. Garderegiment zu Fuß aufgestellt worden war, bei dem Benn zu Beginn seines Studiums die erste Hälfte des Einjährigen-Dienstes abgeleistet hatte. So wie damals üblich, wurde er unmittelbar nach Dienstbeginn an die Charité abkommandiert, um sich dort ein praktisches Jahr lang im geregelten Wechsel an den einzelnen Kliniken und Stationen fortzubilden.3

Offensichtlich war Benn hoch motiviert, als er im Oktober 1910 seinen Dienst in der Charité aufnahm. Um seinem Lehrer Theodor Ziehen4 zu imponieren, hatte er einen Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie verfasst, der wenige Tage später in den Grenzboten erschien und den Anfang seiner Beschäftigung mit dem faszinierenden Gebiet der Hirnforschung markierte, die sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk zieht. In seinem Beitrag fasste Benn den Paradigmenwechsel zusammen, den die Philosophie der Aufklärung und im Anschluss daran die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert durchlaufen hatten: »In beiden vollzog sich der Wandel durch … die Annahme der Induktion als methodologischen Prinzips.«5 Ihr verdanke es die Psychiatrie, exakte Wissenschaft sein zu können, deren Lehre der Seelenerkrankungen auf der Gleichung beruhe: »Seele – Großhirnrinde; Seelenerkrankung – Großhirnrindenerkrankung«.6 Noch vor Ablauf des praktischen Jahres war Benn selbst seelisch erkrankt und versuchte sich darüber klar zu werden, woran er litt:

 

Von psychiatrischen Lehrbüchern aus, in denen ich suchte, kam ich zu modernen psychologischen Arbeiten, zum Teil sehr merkwürdigen, namentlich der französischen Schule, ich vertiefte mich in die Schilderungen jenes Zustandes, der als Depersonalisation oder als Entfremdung der Wahrnehmungswelt bezeichnet wird, ich begann, das Ich zu erkennen als ein Gebilde, das mit einer Gewalt, gegen die die Schwerkraft der Hauch einer Schneeflocke war, zu einem Zustand strebte, in dem nichts mehr von dem, was die moderne Kultur als Geistesgabe bezeichnete, eine Rolle spielte, sondern in dem alles, was die Zivilisation unter Führung der Schulmedizin anrüchig gemacht hatte, als Nervenschwäche, Ermüdbarkeit, Psychasthenie die tiefe, schrankenlose, mythenalte Fremdheit zugab zwischen dem Menschen und der Welt.7

 

Benns praktisches Jahr liegt biographisch im Dunkel.8 Mehr als die Erscheinungsdaten zweier weiterer wissenschaftsgeschichtlicher Aufsätze ist nicht bekannt. In Zur Geschichte der Naturwissenschaften traute ihnen Benn im April zu, »die allgemeinen und letzten Fragen neu zu fassen und zu erfüllen«,9 um in Medizinische Psychologie zwei Monate später die Hirnforschung als »unseriöse Erkenntnislaune« zurückzustufen.10

 

Ich bin die dritte oder vierte Generation, aber das Erbe ist völlig aufgelöst. Nichts mehr von der Freude der ersten, die alte Erde abzustürzen und am Abgrund eine neue aufzubauen. Nichts mehr von jenem Glauben, etwas für seine Erkenntnis zu tun, wenn man die Bedingungen feststellt, unter denen ein paar Tierglieder zucken und ein paar Hundenerven degenerieren. Aber stark und schmerzhaft durchdringend jene Ueberzeugung, daß eine Erkenntnis auf diesem Wege überhaupt nicht möglich sein kann, daß jedes Wissen nur ein Irrtum zwischen zwei Irrtümern und ein Vorspiel zu unaufhörlichen Vorspielen ist.11

 

Immerhin dokumentieren die beiden Aufsätze, die wohl nach Benns psychischem Zusammenbruch entstanden sind, den abrupten Wandel seiner Anschauungen. Benn ging es um nicht weniger als die Erledigung des auf religiöser Grundlage gewachsenen positivistischen Weltbildes, das seinen Ausdruck in den modernen Naturwissenschaften fand. Auf ihrer Grundlage ließ sich die Welt nicht erklären, aber sie waren von nun an die Folie, auf der seine Dichtkunst ansetzen, poetisch sich auf- und wieder entladen konnte. Es sind die Monate des Absturzes der Psyche des angehenden Arztes. In dem Maße, wie die Konturen des Psychopathen, seine Nervenschwäche und seine Ermüdbarkeit deutlicher wurden, wuchsen, so scheint es, das Selbstverständnis des Dichters und die Größe seines Auftrags.

 

Ich war ursprünglich Psychiater gewesen, bis zum sechsundzwanzigsten Jahre war ich Assistent an einer Irrenanstalt gewesen, bis sich das merkwürdige Phänomen einstellte, das immer kritischer wurde und das kurz gesagt darauf hinauslief, dass ich mich nicht mehr für einen Einzelfall interessieren konnte.

Es war mir körperlich nicht mehr möglich, meine Aufmerksamkeit, mein Interesse auf einen neu eingelieferten Fall zu sammeln oder die alten Kranken fortlaufend individualisierend zu beobachten. Die Vorgeschichte ihres Leidens, die Feststellungen über ihre Herkunft und Lebensweise, die Prüfungen, die sich auf des Einzelnen Intelligenz und moralisches Quivive bezogen, schufen mir Qualen, die nicht beschreiblich sind. Mein Mund trocknete aus, meine Lider entzündeten sich, ich wäre zu Gewaltakten geschritten, wenn mich nicht vorher schon mein Chef zu sich gerufen, über vollkommen unzureichende Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hätte.12

 

Gottfried Benn setzte mit 25 Jahren alles auf die Kunstkarte. Er bündelte die gemachten Erfahrungen in dem novellenartigen Prosatext Unter der Großhirnrinde, der zwei Wochen nach Absolvierung des Charité-Jahres erschien, »tabula rasa machte und den Tempel rein fegte«.13

 

Drei Wissenschaften streiten um diese Fragen. Jede sagt, die beiden andern seien idiotisch; ich bin von allen dreien durchseucht; ich habe mich in jede einzelne eingewühlt wie die Sau in die Suhle; ganz eingeschmutzt habe ich mich mit ihnen; mit dem Erfolg, daß ich nun keiner mehr glauben kann.14

 

Am Jahresende stand Gottfried Benn, was seine Entwicklung betraf, orientierungsloser da als jemals zuvor. Neben seiner Entlassung darf nicht übersehen werden, dass über die akute Erkenntniskrise hinaus, in die er gestürzt war, binnen weniger Jahre eine tiefe Glaubenskrise zu einer breiten Existenzkrise anwuchs, aus der heraus erst die geballte Widerstandskraft zu erklären ist, die sich in den Gedichten der Morgue, die sich an einem bestimmten Abend in den Monaten des kommenden Winters »heraufwarfen«, entlud.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
titlepage.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html