Ein Sonntagskind

 
 

Gustav Benn lief nervös im kleinen, 1658 erbauten Pfarrhaus, einem eingeschossigen Backsteinbau aus Lehm und Balken,3 auf und ab. Im Geburtszimmer war es so weit. Das Kind kam. Die Nachbarinnen, die über Stunden heiße Wärmflaschen zu Caroline brachten und auf ihren gewölbten Bauch legten, standen dabei und sahen, dass alles gut ging.

Fast genau vor einem Jahr hatte Caroline ebenso erleichtert und mit vor Dankbarkeit glänzenden Augen auf ihrem Bett gelegen und in denselben Räumen, wo er selbst vor 29 Jahren auf die Welt gekommen war, ihr erstes gemeinsames Kind geboren, das sie nach einer der Stammmütter Jesu Ruth nannten. Diesmal wünschte er sich einen Sohn, und der würde Gottfried heißen.

Schon während der Predigt an diesem ersten Sonntag nach Ostern, an dem die Maisonne das zarte Grün der Bäume ans Licht gebracht hatte, musste er daran denken, dass es wohl das letzte seiner Kinder war, das in Mansfeld geboren würde, wo er seit knapp zwei Jahren unter dem Patronat des Edlen Herrn Gans zu Putlitz seine erste Pfarrstelle innehatte. Der Graf von Finckenstein in Trossin, den er bei einer seiner jährlichen Reisen nach Bad Boll zu seinem Freund und Vorbild Pfarrer Christoph Blumhardt kennengelernt hatte, war Patron einer neumärkischen Gemeinde und hatte ihm, den er als hervorragenden, frei redenden Prediger kannte, berechtigte Aussichten auf eine größere Pfarrstelle gemacht. Irgendwann im nächsten Jahr würden sie in das viermal so große, zwischen Küstrin und Königsberg gelegene Dorf Sellin umziehen.

Nachdem ihm die Stelle in Mansfeld zugesprochen worden war – übrigens dieselbe, die schon sein Vater Joachim innehatte –, heiratete der gutaussehende schlanke Mann, den wir von Fotos mit sauber gescheiteltem Haar und dunklem Vollbart kennen, die ein Jahr jüngere Caroline, eines von sechs Kindern des Uhrmachers Louis Gustave Jequier »aus einem kleinen Ort der französischen Schweiz, dicht an Frankreichs Grenze, mit Namen Fleurier, in den Bergen des Jura«.4 Wie ihre vier Schwestern arbeitete sie in den adligen Kinderzimmern Europas als Erzieherin. Als sie mit Gustav Benn den Bund ihres Lebens einging, lebte sie bereits im achten Jahr fern ihrer im Val de Travers gelegenen Heimat, die sie bis zu ihrem Tod nicht wiedersehen sollte.

Die Trauung fand im vierzig Kilometer südwestlich von Mansfeld gelegenen Örtchen Cumlosen statt, wo Caroline von der Frau des Pfarrkollegen Mummelthey in die Praxis der Hauswirtschaft eingeführt worden war, ganz in der Nähe von Schloss Gadow, wo beide dem Grafen Wichard von Wilamowitz-Moellendorff gedient hatten, sie als Gouvernante, er als Hauslehrer.

Seine Vorfahren, »die Hofbesitzer und Vollbauern waren und deren Stamm sich im Kirchenbuch ihres Heimatdorfes Rambow bei Perleberg bis zum Jahre 1704 zurückverfolgen läßt«,5 hatten sich ebenfalls in der Westprignitz angesiedelt. Vater Joachim, Jahrgang 1811, war dann der Erste in der Familie, der Theologie studierte. Doch nachdem er wegen Zugehörigkeit zu einer Burschenschaft zu einem Jahr Festungshaft verurteilt worden war und sich deshalb als Privatlehrer herumschlagen musste, erhielt er erst im vorgerückten Alter von 37 Jahren die erwähnte Pfarrstelle in Mansfeld. 1851 heiratete er Amanda Boldt, eine Posthalterstochter aus Mayenburg. Im Februar 1860 zogen die Benns nach Bentwisch bei Wittenberge, nachdem es gelungen war, eine andere Pfarrstelle zu erhalten.

Über einige Umwege, die ihn u. a. als Erzieher der zahlreichen Kinder des Pfarrers und sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Christoph Blumhardt nach Bad Boll führten, war Gustav als Hauslehrer in das Land am nordwestlichen Zipfel der Mark Brandenburg zurückgekehrt, wo er sich wie sein Vater als Pfarrer niederlassen und eine große Familie gründen wollte.

 

Er war nicht geworfen, seine Geburt hatte ihn bestimmt.6 Punkt halb acht am Abend war der kleine Junge, fortunae filius, dem so vieles gelingen und dem selbst das Unglück, das ihm widerfahren würde, zum Guten ausschlagen sollte, da. Sauber gewischt lag er im Arm der erschöpften Mutter. Schließlich wurde die Nabelschnur durchtrennt, in Ruhe die Nachgeburt erwartet, das Kind gebadet und angezogen.

Es war »Sonntag, Quasimodogeniti, der zweite – 2. – Mai 1886«,7 als Karl Albert Gustav Benn seinen Sohn zum ersten Mal im Arm hielt. Zwei Tage später erschien er »vor dem Standesbeamten in Putlitz und zeigte an, dass ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Namen Gottfried erhalten habe«.8

Getauft wurde der drei Wochen alte Säugling am 23. Mai von Pastor Mummelthey in einer nur wenige Schritte von seinem Geburtshaus entfernten scheunenähnlichen, turmlosen Fachwerk-Saalkirche, einer kleinen Notkirche aus dem Jahr 1651.9 Er hatte allein »13 Taufpaten aus Württemberg«.10 Da waren die 1872 geborene Dorothea, erstes von sieben Kindern Christoph Blumhardts, sowie der treue Mitarbeiter seines Vaters, der elternlose »Vetter« Hansjörg Dittus, Bruder seiner berühmt gewordenen Schwester Gottliebin11 aus Möttlingen, Eduard Vopelius,12 Ehemann von Elisabeth, einer weiteren der Blumhardt-Töchter, und der damals 25 Jahre alte Architekt »Herr Georg Lindner, Assistent an der techn. Hochschule Darmstadt«.13 Daneben war von Seiten der Jequiers Carolines sieben Jahre älterer Bruder Jules aufgerufen, der als Sohn eines Uhrmachers 1882 eine bedeutende Uhrenfabrikation gegründet hatte. Von Seiten des Vaters ist dessen Schwägerin, die Frau Postverwalterin Benn aus Putlitz, gelistet. Zumindest sie war als eine der im Kirchenbuch von Mansfeld erwähnten Paten bei der Taufe anwesend.14

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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