»Die Schläfen werden grau«24
Sein 37. Jahr hatte Gottfried Benn, der mittlerweile an seinem Körper die »Neigung zu Fettansatz«25 feststellen konnte, »nicht nur eindruckslos, sondern auch völlig zurückgezogen verbracht«,26 und obwohl er kaum etwas Neues gedichtet hatte, fand er im August 1923 einen so besonderen wie speziellen Ort zum Publizieren, dass er ihm bis 1930 die Treue halten sollte: den Querschnitt.
Die Zeitschrift – im Untertitel anfangs als »Marginalien der Galerie Flechtheim« bezeichnet und bis April 1931 herausgegeben von Hermann von Wedderkop – wurde 1921 vom Kunsthändler Alfred Flechtheim begründet; die beiden Männer, die Benn in der Brüsseler literarischen »Kriegskolonie«27 kennengelernt hatte, entwickelten den Querschnitt neben der Weltbühne und der Neuen Rundschau zum herausragenden Gesellschaftsmagazin in Deutschland, das nach nur vier Jahren die enorme Auflage von 20 000 Exemplaren erreicht hatte. Der Querschnitt war mondän, snobistisch, arrogant, unverschämt und komisch. Vor allem blieb er immer überraschend und vielseitig. Neben der Kunst behandelte er gleichberechtigt massentaugliche Themen des Sports, zu Anfang insbesondere des Boxens, und des Films. Wedderkop schaffte es, »Geist und Geister der Epoche«28 zu versammeln, und es gelang ihm damit auf gewisse Weise, das gescheiterte Projekt seines Freundes und Lieblingsautors Carl Sternheim – eine »Enzyklopädie zum Abbruch der bürgerlichen Ideologie«29 – wiederzubeleben.
Da lag es nahe, dass Wedderkop, der mit Benn einig war, dass die Todesstunde der alten Literatur längst geschlagen hatte, sich des damaligen Sternheim-»Mitarbeiters« erinnerte. Der bedankte sich bei seinem Debüt mit den Gedichten Nacht30 und Die Welten halten,31 die dem Querschnitt wie auf den Leib geschrieben schienen und immerhin »30 Mark«32 einbrachten:
hungernd. Dernier cri
alles Letzten und Leeren,
sinnlos Kategorie.
Dämmer. Aus Unbekannten
Wolken, Flüge des Lichts –
alles Korybanten,
Apotheosen des Nichts.
»Flüge des Lichts – / … / Apotheosen des Nichts«. Nicht zufällig erinnert das Reimpaar an das gleichlautende des erst vor wenigen Jahren wiedergefundenen Gedichts, gewidmet einer der bekanntesten Fotografinnen im Berlin der zwanziger Jahre, deren Spur sich seit ihrer Emigration 1932 nach Paris verlor: »in der Tusche des Lichts, / … / Züge des Nichts.«33 Erstmals gedruckt wurde das im Werk Benns thematisch einzigartige Gedicht im November 1925 im Ausstellungskatalog ihrer Porträts. Nie wieder wird er sich so explizit mit dem Medium der Fotografie in seinem Werk auseinandersetzen.
Frieda Gertrud Riess, 1890 in Posen geboren, eröffnete 1917 ihr Fotoatelier am Kurfürstendamm 14 /15. Seit 1922 – nachdem ihre 1919 mit dem Schriftsteller Rudolf Leonhard geschlossene Ehe wieder geschieden war – wohnte sie hier auch. Ihr Spezialgebiet war die Porträtfotografie, und so fanden ihre Arbeiten bald Aufnahme in den illustrierten Zeitschriften und Wochenbeilagen der Zeitungen. 1921 beteiligte sie sich an der Ausstellung »Berliner Photographie«, machte Starporträts für Kinoschaukästen und den Film-Kurier, begann 1924 regelmäßig im Querschnitt zu veröffentlichen, ehe im November 1925 Alfred Flechtheim in seiner Galerie am Lützowufer eine Einzelausstellung für sie organisierte, »weil sie mit Objektiv und Gummiball Kunst macht«.34 Seitdem war sie eine international renommierte Künstlerin.
Gottfried Benn ließ sich von »der Riess«, wie sie sich gerne nannte, mit großer Wahrscheinlichkeit bereits 1923 bezirzen. Es ist gut möglich, dass sich die beiden im Kreis um die Querschnitt-Macher Flechtheim und von Wedderkop kennengelernt haben. Einen ersten, bei seinem Erscheinen noch nicht erkennbaren Hinweis bietet Benns im Winter 1924 im Querschnitt erschienene Novelle Alexanderzüge mittels Wallungen. Er beschreibt darin den »Weihnachtsabend« des vergangenen Jahres; »der Fall [er selbst], um den es sich handelt, ist allein, aber nicht unbeschenkt.« Ellen Overgaard feierte in Kopenhagen im Kreise der Familie, zu der nun auch Nele gehörte, und schickte ein Telegramm mit »Herzliche[n] Weihnachtsgrüsse[n] in tiefer Liebe«.35 Noch am heiligen Abend richtete er dankende Worte an Illo Winter, die Lebensgefährtin von Freund Egmont, die ihm ein rotes Lederetui, eine Flasche Champagner sowie einen Kuchen- und Früchteteller geschenkt hatte. Und er bedankte sich – ohne ihren Namen zu nennen, dies wird er vier Jahre später nachholen36 – bei der Riess für ein Fläschchen Mouchoir de Monsieur von Jacques Guerlain, das nach Bergamotte, Lavendel und Jasmin duftete: »ein kleiner dreieckiger Karton, ein phantastisches Glas, ein Name aus einem Märchen, will sagen ein Parfüm wie aus dem Pendschab, … als sei er der gedanklich bedachte Monsieur, ein Herr, eine Art Mitglied aus der Sphäre der Gemeinschaft, das Batisttuch im Jacket, das er diskret, fein abgestimmt und mit vollkommener Ruhe zu verwenden sich erzogen hatte.«37 Fotografisch zu bewundern war das Batisttuch, sein Mouchoir de Vénus, von dem die Rede war, erstmals auf einem von vier Porträts, die die Riess, vermutlich also im Jahr 1923,38 von Benn gemacht hat.39 »Ist es Zufall, dass die Riess das Portrait von Gottfried Benn ihrem Selbstbild ähnlich komponiert hat? Beide sind von unten gesehen und von bildbeherrschender Statuarik, beider Hände kommen nicht ins Bild, beider Blick weicht dem Gegenüber aus.«40 Nein, es war kein Zufall. Dass Benn die Riess in seiner Weihnachtsnovelle – wohl auch im erzieherischen Sinn – im Visier hatte, wird nach wenigen Sätzen klar:
Die öffentlichen Menschen betrachtete er als den Abschaum von Lächerlichkeit und Gemeinheit, einem Ruhm nachjagend, den sie selber bezahlten, auf die Idiotie der Enkel spekulierend. Fuhr ein Tenor nach Riga, erschien ihm das ein weitverzweigter Skandal. Der Blätterwald rauschte, die Büros machten Dampf, Lichtbildhersteller hatten gute Tage.41
In der Tat liefen die Geschäfte für die Riess immer besser, und im Frühjahr hatte sie in Turin an der Ausstellung »L’arte nella fotografia« teilgenommen.
»Ich bleibe bei der Ries zum Abendessen«, notierte Thea Sternheim am 1. Februar 1938 nach einem Besuch, »sie nimmt die Gelegenheit wahr mit Nachdruck ihre Betterlebnisse mit Benn anzubringen.«42 Leider ist das Tagebuch Thea Sternheims die einzige Quelle für das Leben der Riess in Paris, wohin sie 1932 gezogen war und wo sie Mitte der fünfziger Jahre vergessen starb.