»Die Biographie des Ich ist nicht geschrieben«44

 
 

Im Juni 1918 starb Benns Chefarzt Professor Edmund Lesser. Die Frühjahrsoffensive war beendet, die deutschen Truppen waren bis auf wenige Kilometer an Paris herangerückt. Ein erster Tiefpunkt nach der Heimkehr war erreicht: »Ich lebe in einer toten drückenden Zeit u. weiß nicht aus u. ein u. fühle mich ermatten u. sehe weg von mir, um meinen Untergang in bürgerlichen und sozialen Tugenden nicht zu sehn.«45 Else Lasker-Schüler lud ihn in die Schweiz ein – schließlich gäbe es da auch Lazarette –, etwa ins Tessin oder an die Strände der Ostsee. Was die Literatur beträfe, solle er mit Leo Kestenberg vom Cassirer Verlag sprechen. »Tue es, daß Du wieder Lust zum Dichten bekommst.«46 Dass er sie verloren hatte, wen wundert es! Ein Kontinent war zusammengebrochen, ein zu lange währendes Jahrhundert, eine Epoche. Zehn Millionen Soldaten waren dem Krieg zum Opfer gefallen, doppelt so viele waren schwer verwundet, in Deutschland standen eine Million Menschen vor dem Hungertod. Als der Krieg sich dem Ende näherte, resümierte Benn in Phimose, der letzten Novelle über seine Zeit in Brüssel:

 

Weil alles stirbt, weil alles kürzer ist als das Wort und die Lippe, die es will sagen, weil alles über seinen Rand zerbricht, zu tief geschwellt von der Vermischung. Weil ich kein Ich mehr bin, sind meine Arme schwer geworden.47

 

Bereits während des Krieges hatten der 20-jährige Jurist Wolf Przygode und der etwa gleich alte Germanist Hermann Kasack fünf private Leseabende veranstaltet, bei denen neben anderen auch Gedichte Gottfried Benns gelesen worden waren. Przygode entwickelte daraus die Idee für eine Zeitschrift, die den Namen Die Dichtung tragen sollte. Die ersten vier Bände erschienen im eigenen Münchner Roland-Verlag, ab 1920 zwei weitere bei Gustav Kiepenheuer in Potsdam, der mit Kasack, Przygode und Edlef Köppen, späterer Rundfunkredakteur bei der Berliner Funk-Stunde, einen Mitarbeiterkreis bildete, der maßgeblich an der weiteren literarischen Entwicklung Benns teilhaben sollte.

Am Ende eines jeden Heftes lieferte Przygode eine bibliographische Zusammenstellung über das erschienene Werk zeitgenössischer Dichter. Für Gottfried Benn ergab sich im Herbst 1919 folgendes Bild: Die Lyrikbände Morgue und Söhne waren vergriffen, die Gedichte jedoch im Band Fleisch. Gesammelte Lyrik erhältlich. Bei den Dramen fehlte die noch ungedruckte Etappe. Die Novellen Gehirne, Die Eroberung, Die Reise, Die Insel, Der Geburtstag vereinte der im Kurt Wolff Verlag erschienene Novellenband Gehirne. Darüber hinaus hatte Benn Przygode gegenüber einen weiteren Novellenband für »abgeschlossen und zum Druck bestimmt« erklärt. Der sollte Diesterweg, Die Phimose (Querschnitt / Erste Fassung) und eine Novelle mit dem überraschenden Titel Der Mann ohne Gedächtnis enthalten.

Wahrscheinlich sollte der Band, dem möglicherweise schon Der Garten von Arles und vielleicht auch Das letzte Ich angehören sollten, im Kiepenheuer Verlag erscheinen, der erst vor kurzem von Weimar nach Potsdam gezogen war. Gustav Kiepenheuer war es mittlerweile gelungen, fast die ganze Avantgarde revolutionärer Kunst für seinen Verlag zu gewinnen. Er war der Verleger Georg Kaisers und Ernst Tollers, bei ihm erschienen Brechts Erstlinge Baal und Trommeln in der Nacht, Ludwig Rubiners Kameraden der Menschheit sowie Leonhard Franks Der Mensch ist gut. In München lernte er Hermann Kasack kennen und überredete ihn, nach Potsdam zu kommen, um für ihn als Lektor zu arbeiten. Benn hatte also Kasack das Manuskript zugesandt, war jedoch damit so unzufrieden, dass er zu der Ansicht gelangt war, »daß das Buch noch nicht fertig ist – lohnt es sich, es weiter zu schreiben? Bitte sagen Sie mir das.«48 Nur wenige Monate später entschied er: »… die Tatsache, daß ich mich meinen neuen Stilproblemen gegenüber so äußerst unsicher fühle, veranlaßt mich, vorläufig nichts davon zu veröffentlichen.«49

Benns Lage hatte sich grundlegend verändert. Die Neuausrichtung seiner Existenz war bei weitem noch nicht abgeschlossen. Nicht nur, dass sich die neue, demokratisch verfasste Gesellschaft der Weimarer Republik immer deutlicher abzeichnete, der Benns geistiger Aristokratismus mit Zweifeln begegnete; was das verhasste wilhelminische Kaiserreich institutionell vereinte und von seinen Ordinarien und Offizieren repräsentiert wurde – der große Ast, auf dem er seit seinem Studium gesessen hatte –, war vernichtet, und er selbst hat mit allen verfügbaren Kräften mitgeholfen, diesen Ast abzusägen. Aber neben der staatsbürgerlichen schätzte Benn auch seine Rolle als Dichter als äußerst prekär ein:

 

… ich bin nicht populär und wünsche nicht es zu sein. Ich halte das Publikum für Pöbel und Ruhm für eine Schiebung. Beides steht mir gleich fern …50

 

Wir sehen Anfang der zwanziger Jahre einen Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten mit Privatpraxis, der »an [s]einen gesammelten Werken aus Lyrik, Epik und Kothurn zusammen noch nicht soviel verdient ha[t], wie [er] für Kölnisch Wasser jährlich brauch[t]«,51 der sonntags in die Rolle eines »Privatdozenten der Philosophie« schlüpft und »die Menschheit einteilt in deskriptiv oder metaphysisch Gerichtete … in jene mit dem Zug zur Singularität und jene mit dem Zug zur Universalität«.52

Ganz zweifellos handelt es sich bei dem Mann ohne Gedächtnis um eine Fassung des Textes, den Kasimir Edschmid noch im selben Jahr als Einzelheft für seine im Erich Reiss Verlag erscheinende Schriftenreihe »Tribüne der Kunst und Zeit«53 annahm und drucken ließ. Es ist Benns erste Nachkriegsarbeit, die »Antrittsvorlesung eines großen Essayisten«.54 Sie erschien unter dem Titel Das moderne Ich und ist eine fiktionale Vorlesung vor angehenden Medizinstudenten.

Die Antwort auf die Frage, warum die Arbeit zunächst den zweideutigen Titel Der Mann ohne Gedächtnis trug, erschließt die Lektüre dieses Essays nachhaltig, wird doch anfangs der Vorwurf der kulturellen Gedächtnislosigkeit an das »soziale Ich« gerichtet, den »Mittelmensch, das kleine Format, das Stehaufmännchen des Behagens, den Barrabasschreier, der bon und propre leben will«.55 »Es wird so viel zerstört, lese ich in Ihren Augen, wir wollen nur arbeiten und vergessen, was mit Deutschland geschah.«56 Doch dies sei ein Irrweg, eine Sackgasse, denn die geschichtliche Lage habe sich grundlegend gewandelt, und dieser Wandel habe sich seit langem angekündigt.

 

Der zweite Tag Europas ist vergangen, war Glaube Schuld, wurde Erfahrung Zufall, es ist die Nachtwache zum dritten Tag. … Sie dürfen sich erschaffen, Sie sind frei.57

 

Eindrucksvoll ist vor allem die Liste der Bücher und ihrer Verfasser (Aristoteles, Augustin, Marc Aurel, Bergson, Jacob Burckhardt, Descartes, Anatole France, Flaubert, Heraklit, Oscar Hertwig, Kant, John Locke, Malebranche, Ovid, Plutarch, Platon, Erwin Rohde, Schopenhauer, Hippolyte Taine, Thukydides, um nur einige zu nennen), die Benn namentlich (aber auch versteckt) herbeizitiert, um historisch, biologisch und mythologisch den Übergang vom naturwissenschaftlich fundierten Weltbild bei gleichzeitigem imperialen Machtanspruch (also der Vorkriegszeit) zu einem ästhetischen Weltbild zu markieren. Dieser könne erst dann vollzogen werden, wenn der »Künstler« einerseits apollinisch von diesem Wissen und andererseits von dionysischer »Gedächtnislosigkeit« durchdrungen sei. Dann erst wäre auch die ästhetische Existenz legitimiert, die Benn so beschreibt:

 

Mich sensationiert eben das Wort ohne jede Rücksicht auf seinen beschreibenden Charakter rein als assoziatives Motiv und dann empfinde ich ganz gegenständlich seine Eigenschaft des logischen Begriffs als den Querschnitt durch kondensierte Katastrophen. Und da ich nie Personen sehe, sondern immer nur das Ich, und nie Geschehnisse, sondern immer nur das Dasein (Da-sein), da ich keine Kunst kenne und keinen Glauben, keine Wissenschaft und keine Mythe, sondern immer nur die Bewußtheit, ewig sinnlos, ewig qualbestürmt, – so ist es im Grunde diese, gegen die ich mich wehre, mit der südlichen Zermalmung und sie, die ich abzuleiten trachte in ligurische Komplexe bis zur Überhöhung oder bis zum Verlöschen im Außersich des Rausches oder des Vergehens.58

 

Das letzte Kapitel der Biographie des (modernen) Ich aber sei noch nicht geschrieben, eines Ich, das »Zug für Zug den Gedanken des Subjektivismus in sich bildet, daß die ganze Welt als ein inneres Erlebnis ihm gegeben ist«.59

Hier sei er angekommen, »schreiend nach Zeugung, hungernd in den Fäusten, dir Stücke aus dem Leib der Welt zu reißen, sie formend und sich tief in sie vergessend«60 – der Mann ohne Gedächtnis, zwischen Asphodelen schaut er sich selbst in stygischer Flut.

Man mag den Selbstvergessenen für politisch naiv halten: Seine Analysen sind konzise und die Formulierungen brillant. Warum aber hat er den Titel geändert? Möglich, dass sich das Vergebliche und die Zukunftslosigkeit seiner geschichtlichen Vision im Bild des Mannes ohne Gedächtnis zu deutlich abzeichneten, des Mannes, der am Vorabend der abendländischen Geschichtslosigkeit stand und dabei das Transzendentalfundament der schöpferischen Lust betreten hatte. Vielleicht war ihm aber auch der Titel schlicht zu reißerisch und missverständlich, als er ihn durch den nüchterneren Das moderne Ich ersetzte, der eher in die Zukunft wies. Benn wusste nicht, wohin ihn sein tiefer Glaube an die »geschichtliche Wendung zur hyperämischen Metaphysik«61 führen würde; das war für ihn weitgehend unbetretenes Land, und somit war auch dieser Text mehr Programm als Realität.

 

Das letzte also war die Kunst. Die neue Kunst, die Artistik, die nachnietzschesche Epoche, wo immer sie groß wurde, wurde es erkämpft aus der Antithese aus Rausch und Zucht. Auf der einen Seite immer der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust. Hierüber hat uns nichts herausgeführt, keine politische, keine mythische, keine rassische, keine kollektive Ideologie bis heute nicht.62

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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