»Kein Staat mit mir zu machen«31

 
 

Benns »fanatische Reinheit« seiner Gedanken und ein neuer Verlag, die Deutsche Verlags-Anstalt,32 die schon im Juli mit Der neue Staat und die Intellektuellen den neuen Autor präsentieren wollte, hielten ihn in Trab, und er schrieb weiter an dem – wie es Theodor Heuss formulierte – »Monolog eines Einsamen und Erschütterten, der von der Gewalt der Zeit erfaßt ist, ihr zugehören möchte, in ihr irgendwie Erfüllungen erspürt und zugleich seine denkerische Position verteidigt – ein merkwürdiges Beispiel, nicht das einzige, wie sich ein Mann von starker schriftstellerischer Begabung, von extensiver und zugreifender Belesenheit, seinen privaten Nationalsozialismus aufbaut«.33 Seine Pläne, in der Akademie an repräsentativer Stelle zu bleiben, hatten sich zerschlagen, aber es gab auch Stimmen, die ihm beipflichteten. George Grosz schickte zustimmende Sätze einer »Freundesstimme aus dem Ausland«.34 Wilhelm Furtwängler nahm Benns Zusendung von dessen Totenrede auf Max von Schillings vom 27. Juli 1933 zum Anlass, den Wunsch zu äußern, Benn einmal persönlich kennenzulernen. Doch sein Freundeskreis schrumpfte zusehends. Mit Thea Sternheim lag er im Streit wegen seiner Rundfunkreden. Hindemiths: Funkstille. Es blieben Oskar Loerke, Heinz Ullstein, Fleischmanns, seine Ärztin Lulu Goldhaber, Himmlisch und Irdisch. Vor allem einer zeigte sich hartnäckig und anhänglich: der in England promovierte Jurist und deutsche Bildungsbürger – »so englisch, so rittmeisterlich, so chic genre«35 – und steinreiche Kunstsammler Dr. Friedrich Wilhelm Oelze, »den ich selten sah, … mit dem ich, mit dem wir beide gegeneinander hinsichtlich des Privaten immer ›die Regeln wahrten‹«,36 der Goetheliebhaber und -kenner aus Bremen: die »Synthese aus Oxford und Athen«.37

Obwohl Gottfried Benn auf den ersten begeisterten Brief des Im- und Exporteurs – er hatte Benns Essayband Nach dem Nihilismus gelesen – nur kurz für das Interesse dankte und darüber hinaus betonte, dass eine mündliche Unterhaltung Oelze enttäuschen müsse, denn er sage nicht mehr, als was in seinen Büchern stehe,38 entwickelte sich eine Korrespondenz von nahezu 1500 Briefen. Oelzes zweiter Brief formulierte schon die Kardinalfrage, der sich die zwischen Dichtung und Wissenschaft oszillierende Essayistik Benns um 1930 herum stellen muss: »Wie kann man einerseits die Wissenschaft u. ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten u. doch sie dann für wahr setzen u. zu eigenen Ideen verwerten.«39 Im ersten Jahr wechselten die beiden gerade einmal fünf Briefe; jahrelang begegneten sie einander nicht; einmal dachte der Berliner, im Zug sitzend, daran, in Bremen auszusteigen, und fuhr weiter, einmal stand der Bremer vor der Wohnungstür in der Belle-Alliance-Straße 12, doch außer Else, der Hausangestellten, war niemand zu Hause. Nachdem sie sich im Juni 1936 im Weinhaus Wolf in Hannover gegenübergesessen hatten, beschrieb ihn Benn so: »Wirklich ein merkwürdiger Typ. Gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit u. Halluzination.«40

Bereits im Juli schien Benn erkannt zu haben, welch herausragende Rolle die neue Bekanntschaft in Bezug auf die eigene Produktion einnehmen könnte. Auf die Frage der Deutschen Allgemeinen Zeitung: »Was für Erfahrungen haben Sie über die Beziehung zwischen Ihrem Werk und dem Ganzen der Nation gemacht?«, antwortete Benn mit dem unausgesprochenen, aber deutlichen Hinweis auf Oelze: »Vor allem sehe ich, daß einzelne mich auf Verse und gedankliche Erlebnisse in meinen Schriften in einer so interessanten und bedeutungsvollen Weise anreden, wie sie nur ein wirklich vertiefter, aus innerer Notwendigkeit stammender Umgang mit einem Buch mit sich bringen kann.«41 Dies trug die Brieffreundschaft bis zum Tode Benns und führte dazu, dass »vieles von dem, was in meinen neuen Büchern steht, sich als Keim und Setzling in unseren schriftlichen Gesprächen fand«.42 Gleichwohl blieb für Benn die Frage ungelöst: »Wer sind Sie, sehr verehrter Herr Oelze, nun eigentlich?«43

 

Desillusioniert aufgrund seiner De-facto-Entfernung aus der Akademie, verbrachte Benn den Sommer in seiner schlecht laufenden Berliner Praxis. Nicht nur die »Dichterakademie«, sondern auch der Groß-Berliner Ärztebund befand sich mitten im Prozess der Gleichschaltung. Der kommissarisch eingesetzte Vorstand hatte mittlerweile eine Fragebogenaktion gestartet, in der die »Abstammung« der Berliner Kassenärzte abgefragt wurde. Der Ärztebund hatte Benn

 

von einer Liste gestrichen, auf der die Ärzte standen, die bestimmte Atteste ausstellen durften. Ich wandte mich in energischer Form dagegen und bat um Erklärung. Da rief mich eines Nachmittags während meiner Sprechstunde jemand an – es war, wie ich dann hörte, der Vorsitzende des NS.-Ärztebundes, er wurde später im Röhmputsch erschossen – und sagte: »Wer sind Sie denn, Männeken, haben Sie mitgekämpft, machen Sie sich bloß nicht mausig – und dann sehe ich auf Ihrem Fragebogen, Ihre Mutter war eine geborene Jequier, soll wohl ausländisch sein, heißt aber auf gut deutsch Jacob, also jüdisch. Sie machen mir nichts vor.«44

 

Immerhin gab es noch das Privatleben. Eine Frau aus Paris kündigte ihren Besuch an: Die in Berlin geborene Modejournalistin Käthe von Porada, Bekannte von Max Beckmann und James Joyce und Freundin des Ehepaares Jolas, denen Gerüchte zu Ohren gekommen waren, dass Benn ein Anhänger des nationalsozialistischen Staates geworden sei, hatte eine zweiwöchige Einkaufsreise nach Berlin geplant und sollte bei dieser Gelegenheit Benn aufsuchen und seine Gesinnung erforschen.

 

Er trat ein im weißen Ärztekittel. Bei seinem Anblick dachte ich unwillkürlich an Joyce. Auch hier eine tiefe Melancholie, aber beherrscht, in sich abgeschlossen …45

 

Als sie Anfang Juli wieder nach Paris reiste, hatte sie dem deutschen Intellektuellen, der gerade erst mit Züchtung einen Aufsatz zur Rechtfertigung des am 14. Juli erlassenen »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« geschrieben hatte, den Kopf so sehr verdreht, dass dieser sie in den nächsten Monaten mit Briefen und Komplimenten geradezu überschüttete. Ihr gestand er auch, wie sehr seine lyrische Inspiration gelitten hatte:

 

Mit meiner ganzen brutalen Energie, die ich im Geistigen zur Verfügung habe, versuche ich durchzustoßen zu einem neuen Gedicht, einer neuen lyrischen Strophe, aber vorläufig vergeblich. So viel »inneres Raffinement«, innere Methode, inneres Grundgefühl ist zugrunde gegangen durch die Zeitlage, das Leben, das Alter, die Reife oder was immer es ist.46

 

Von Klaus Mann werden wenige Wochen später in der ersten Nummer seiner Exilzeitschrift Die Sammlung Sätze zu lesen sein, die Benns Selbsteinschätzung drastischer ausdrücken: »Halb pathologisch, halb nur gemein entwürdigt sich ein großes Talent vor unseren Augen. Es ruiniert sich auch, während es sich prostituiert. Benn schreibt plötzlich schlecht«47 – worüber dieser sich dermaßen ärgerte, dass er nicht davor zurückscheute, Töne anzuschlagen, für die der Satz von Karl Kraus gilt: »Er wird es einst mit seinem Gewissen auszumachen haben.«48

 

Ich werde nichts mehr unterstützen, was zum Fischer Verlag tendiert, der ja nach wie vor, noch so getarnt, seine jüdische Literatur propagiert. In der »Sammlung« werde ich wieder vorgenommen: »halb pathologisch, halb gemein«, »Narr«, »heimtückisch«, »niederträchtig« – so spaltenlang. Nur, weil man sagt: ich bin für Deutschland. Also bei mir ist jetzt Schluss mit jeder Sentimentalität.49

 

»Bin von der Politik zur reinen Kunst, Lyrik, zurückgekehrt!«,50 hatte der Lyriker noch im Sommer verlauten lassen und eigentlich beschlossen, weniger geschichtlich und dafür mehr privat zu denken. Nele kam für vier Wochen nach Deutschland, blieb jedoch die meiste Zeit bei ihrer Großmutter in Dresden. Als sie zu ihrem Geburtstag Anfang September nach Berlin kam, brachte sie ihre Cousine Evi und deren Mann Per Ekström mit, der noch nach mehr als zwanzig Jahren des Beisammenseins gedachte: »In lebhafter Erinnerung behalte ich unser Zusammentreffen in Berlin im Herbst 1933. Als Sie am Fenster standen und die vorbeimarschierenden Nazisten ansahen: ›und das soll also 1000 Jahre dauern‹, sagten Sie ironisch.«51 Die Briefe an Käthe von Porada zeugen von Benns »inneren Überlegungen«, seinen »Hoffnungen und dann« seinen »Zweifeln«,52 seiner Bereitschaft zur Rückkehr in eine andere Gemeinschaft als die des Volkes, nämlich die der Dichter: »Ich bin mehr als je ganz auf die innere Wirklichkeit zurückgezogen, nur für sie führe ich diese äußerlich so schwierige Existenz.«53 Insgesamt setzte die Bekanntschaft mit Käthe von Porada bei ihm einen lyrischen Schub in Gang. Im Oktober 1933 veröffentlichte er mehrere Gedichte in der Monatsschrift Die Literatur. Die heillose Verstrickung in politische Themen dagegen, beim Versuch publizistisch wirksam und präsent zu bleiben, fand ihren Tiefpunkt in den Aufsätzen Der deutsche Mensch54 und Geist und Seele künftiger Geschlechter55 für die Zeitschrift Die Woche – »läppisches Zeug. Was man so jetzt will.«56 Mit jedem Tag wurde Benn klarer, dass er in einer Verteidigungsposition war. Und er kannte sich nur zu gut, um zu wissen, dass er so dicht wie möglich mit dem Rücken an der Wand stehen musste, um zurückzukommen. »Auch was sich verteidigen angeht, habe ich Besonderheiten: erst ganz kurz vor dem Herzen biege ich den Stich ab, oft aber erweitere ich die Wunden.«57

 

Noch ahnte Benn nicht, wer Angriffe auf ihn starten würde. Im Sommer war der Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) in den Reichsverband deutscher Schriftsteller überführt worden. Benns Ausweis hatte die Nummer 370; die Mitgliedschaft war von der Loyalität zum NS-Staat und der Zugehörigkeit zur »arischen Rasse« abhängig. Seine Zugehörigkeit zur »Reichsakademie zur Bekämpfung der alten Mitglieder«,58 wie Benn sie nun nannte, begann erzwungenermaßen zu ruhen. Noch im August – während eines Besuchs von Hans Friedrich Blunck – gab es die leise Hoffnung, dass sich die neuen, aus dem völkischen Lager stammenden Dichter in Streitigkeiten untereinander verwickeln könnten, deren Folgen nicht absehbar wären.

 

Offenbar haben sich da bereits sehr weitgehende Feindschaften und Spaltungen ergeben. Auch bildet sich allmählich die Auffassung heraus, daß diese ganzen Kommissionen u. s. w. Blödsinn sind, garnichts ausrichten können und daß die A., genau wie wir das ja immer aufgefasst haben, doch hauptsächlich einen repräsentativen Charakter hat, zwar nicht im faulen und eitlen Sinn, sondern im geistig bedeutsamen, was ja gewisse äußere Wirkungen mit umschließt.59

 

Die Lage im Herbst 1933 war für Benn unangenehm geworden. Mit der Akademie hatte er im Grunde nichts mehr zu tun, der einzige der Neuen, mit dem er in Kontakt stand, war der noch parteilose Hans Friedrich Blunck, der zudem im November Präsident der Reichsschrifttumskammer wurde und auch dafür sorgte, dass Benn am 28. Dezember 1933 dort Mitglied wurde; Benns Möglichkeiten, im Radio zu lesen und damit Geld zu verdienen, waren wegen des Intendantenwechsels bei der Berliner Funk-Stunde eingeschränkt. Am Tag der offiziellen Amtseinführung Friedrich Arenhövels erhielt er einen Anruf, dass die Lesung seiner Gedichte aus dem Programm genommen sei: »Ursache: peinliches Schweigen. Wahre Ursache, von mir erwartet: wegen Defaitismus!«60 Das Schreiben von Aufsätzen und Artikeln brachte noch eine Schwierigkeit mit sich: Die essayistischen Beiträge zur Lage der Nation sollten einerseits dem neuen Staat die zugesicherte Loyalität bezeugen, andererseits an der geistigen Haltung Benns, die in erster Linie der Kunst verpflichtet blieb, keinen Zweifel aufkommen lassen.

Wie sehr sich in diesen Monaten politische und geistige Überzeugung, persönliche, staatsbürgerliche und künstlerische Loyalität, persönlicher Stolz und Trotz überlagerten und mischten, lässt sich schwer ermessen. Den äußeren Druck schien Benn beherrschen zu können, der innere, den diese implosive Mischung aufbauen musste, ist deutlich spürbar, gerade wenn man die Briefzeugnisse zur Hand nimmt, die scheinbar Widersprüchliches formulieren:

 

Vielleicht aber, Trudchen, interessiert es Sie doch, nochmal von mir persönlich zu hören, was ja in meinem Buch schon steht, dass ich und die Mehrzahl aller Deutschen den neuen Staat bejahen, Hitler für einen sehr grossen Staatsmann halten und vor allem vollkommen sicher sind, dass es für Deutschland keine andere Möglichkeit gab. Das alles ist ja auch nur ein Anfang, die übrigen Länder werden folgen, es beginnt eine neue Welt, die Welt, in der Sie und ich jung waren und gross wurden, hat ausgespielt und ist zu Ende. Sie müssen das alles nicht so gefühlvoll ansehen, auch nicht so pathetisch. Sie müssen in sich den Gedanken ganz feste Gestalt annehmen lassen, dass wir vor einer Wendung der abendländischen Geschichte stehen, die vielleicht nur dem elften Jahrhundert verglichen werden kann oder dem Ausgang der Antike. Man kann eigentlich heute jeden nur, der Einwände macht, fragen: Denken Sie geschichtlich oder denken Sie privat?61

 

Am 19. sollte ich eigentlich in Augsburg vorlesen in der dortigen Literar. Gesellschaft, die mich eingeladen hatte. Aber ich habe eben abgeschrieben. Es wehte aus den Briefen so viel Bildungsdrang u. Aufbauwillen, daß mir schlecht wurde bei dem Gedanken, den Abend hinterher mit ihnen verbringen zu müssen. …

Das Buch »Prosa« ist uralt. Fossile Dinge drin. »Der Geburtstag« war einmal echt u. die »Reise«. Auch »lyrisches Ich«. –

Krankheiten u. Krätze des Wesens, Schaben an den Wänden, Spucken durch die Gitter – oh diese Ausfallsversuche des Ich in die Welt.62

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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