»Ich kann nicht mehr mit«81
Man muß ganz für sich bleiben, die Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr in Betracht ziehen, in gar keiner Weise auf irgend welche Unterstützung von offiziellen Stellen rechnen und sich wohl auch garnicht mehr um sie kümmern. Ich jedenfalls nehme diesen Standpunkt jetzt ein.
Diese Zeilen schrieb Gottfried Benn an Ina Seidel am 21. Mai 1934, nachdem er in dem Aufsatz Dorische Welt nicht nur diese, sondern auch die momentanen geschichtlichen Ereignisse einer Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht unterzogen hatte: »Man kann nicht sagen, das ist weitab, Antike. Keineswegs!« – einerseits die moderne Macht mit »Machtgier, Grausamkeit, Bestechung, Kamorra, Ruchlosigkeit, Verwilderung, Mord, Verschwörung, Ausbeutung, Erpressung«, andererseits die moderne Kunst mit »dem entscheidenden letzten, dem klassischen Stil, … sein Erscheinen während der Auflösung und dann das Ende«. Benn sah »unter dem Schutz [des] Soldatentums« die Macht »das Individuum« kunstfähig machen: »aber übergehen in die Kunst, das kann die Macht nie.«82
Unter den Schutz des Soldatentums – hier kündigte er sich an: Benns »Eintritt in die Armee … die aristokratische Form der Emigration«.83 Denn immer klarer sah er, dass sich in Deutschland die Kunst und die Macht unvereinbar gegenüberstehen würden.
Ja gewisse Äusserungen – ach, alle! Die Kunst erregt sie immer wieder so sehr, weil hier etwas ist, wo sie absolut mit ihren Methoden nicht rankönnen, hier genügt nicht, mit dem Hacken ins Gesicht zu treten u. das Maul cäsarisch aufzureissen, hier muss man geistig berufen sein – das ist natürlich bitter!84
Die innenpolitischen Ereignisse sollten schon bald einen bis dahin unvorstellbaren Tiefpunkt erreichen: In der Nacht zum 1. Juli entledigte sich Hitler in einer Art Rundumschlag des unliebsam gewordenen SA-Führers Ernst Röhm, mit ihm der gesamten SA-Spitze, der Generäle von Bredow und von Schleicher, sogar dessen Frau, aber auch Oppositioneller aus anderen Gesellschaftsgruppen und ehemaliger Widersacher, mit denen er noch Rechnungen offen hatte; auch Unbeteiligte wurden ermordet. Im »Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr« wurden die Massaker umgehend für legal erklärt, und in einer Rundfunkrede machte Hitler unmissverständlich klar, dass, wer die Hand zum Schlag gegen den Staat erhebe, des Todes sicher sein dürfe.
In Benn reifte der Entschluss, sich an seine alten »Kollegen und Kameraden« zu wenden, »mit denen ich zusammen studiert hatte« und die bei der Armee »jetzt in maßgeblichen Stellungen«85 waren. Als Tilly Wedekind am 24. Juli eine kleine Gedenkfeier zum 70. Geburtstag für ihren verstorbenen Mann ausrichtete, saß Paul Fechter »mit Benn draußen auf dem schmalen langen Balkon, die Frauen lachten drinnen. Wir sprachen von Wedekind, vom Dritten Reich, über das gerade mit dem 30. Juni das erste böse Dunkel gefallen war«.86 Was Benn von den Ereignissen hielt, wollte er »einem Brief nicht anvertrauen … Es giebt keine Worte mehr für diese Tragödie. Ein deutscher Traum – wieder einmal zu Ende.«87 Ende August, Hitler hatte die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten zusammenlegen lassen, wiederum in einem Brief an Ina Seidel, die Benn von allen verbliebenen Dichtern die geschätzteste war, verkündete er seinen »inoffiziellen« Abschied von den neuen Machthabern:
Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich u. äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Das Ganze kommt mir allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend »Faust« ankündigt, aber die Besetzung langt nur für »Husarenfieber«. Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.88
Benn konnte nicht mehr mit. Anfängliche Bewunderung war purem Zynismus gewichen: »Blunck: das Pathos einer Wasserleiche u der Schwung einer Giesskanne / … / Deutschland als Kuhstall – ja, aber ohne mich –«.89 Nicht weil er eingesehen hätte, dass er sich geirrt hätte oder getäuscht worden wäre, sondern weil er sich in den politisch Handelnden getäuscht hatte. Aber wann hatte er sich für die, zu deren Partei er nicht gehörte, zu deren Führern er keine Beziehung hatte,90 wirklich interessiert? Möglicherweise forciert durch die Zuspitzung der Lage, war Benn früher am Ende seines Denkens angelangt, als ihm lieb sein konnte: Er glaubte fest an einen auf der Grundlage biologischer Veränderungen des Menschen schicksalhaft sich entfaltenden Ablauf der Geschichte und wich von dieser Position nicht mehr zurück.
Benns Rückzug und Aufbruch in die Ausdruckswelt hatte sich seit längerem angekündigt und bereits in seine Gedichte eingeschrieben, so etwa in folgenden Zeilen, die er im August 1934 Oelze sandte:
Spät im Jahre, tief im Schweigen
dem, der ganz sich selbst gehört,
werden Blicke niedersteigen,
neue Blicke, unzerstört.91
Jetzt ging es darum, die letzten Bande zu lösen. Vor allem seine Funktionärstätigkeit wollte Benn los sein, die ihn Kondolenztelegramme 92 verfassen ließ und in Korrespondenzen mit geschätzten und weniger geschätzten Kollegen verwickelte, um den »Ausbau unserer Organisation«93 voranzutreiben: »Was die ›Union n. S.‹ angeht, so verwalte ich sie nur, bis Herr Johst zurückkommt. Ich interessiere mich nicht sehr für gesellschaftliche u propagandistische Dinge, bin ›Privatdenker‹.«94
Ende September 1934 verbrachte Benn seinen Urlaub in Oberstdorf. Sein Weg führte ihn über München – wo er am Viktualienmarkt die zwei Kirchen und auf dem Oktoberfest die zwei Köpfe einer Frau bestaunte – und Oberallmannshausen am Starnberger See. Hier hatte Hanns Johst, mit dem Benn mittlerweile gut befreundet war, nachdem sie sich »früher nicht riechen«95 konnten, seit 1915 ein Domizil. Finanzielle Unregelmäßigkeiten im Vorstand der »Union« hatten für Wirbel gesorgt, und da Benn »raus aus der Sache« wollte, schlug er Johst vor, »die ganze U. aufzulösen«.96 Die Angelegenheit verfolgte Benn bis an den Urlaubsort: »Aus Berlin von Dr. E.[lster] in Sachen ›Union‹ ein ganz dämlicher Einschreibebrief. Können mir alle Götz von Berlichingen.«97
Die viele Kilometer langen Wanderungen unter blauem Himmel am Freibergsee, in Einödsbach, im Walsertal und im Hochgebirge auf dem Nebelhorn hatten Benn den Kopf endgültig frei gemacht. Noch wenige Tage zuvor hatte er aus München an Elinor Büller geschrieben: »Bin einsam u. furchtsam – habe Platzangst.«98 Jetzt, auf dem Gipfel des Nebelhorns, hatte der »flotte Hochtourist« und »Steiger«99 »mit einem Blick: Zugspitze, Großvenediger, Säntis, Silvaplanagletscher«:100 An diesem und den nächsten drei Tagen entstanden die vier Strophen von Am Brückenwehr,101 die in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt und Abschied markierten. Kunst und Macht, Geist und Leben, »Leier und Schwert«,102 »Gegenglück«103 und »niederer Wahn«104 gingen von nun an getrennte Wege und führten ein Doppelleben: Der Arzt emigrierte nach Hannover in die Sphäre des Schutz versprechenden Militärs, der Dichter ging ins Exil der unantastbaren Formen.
So lautete das poetische Programm der kommenden Jahre. Wieder einmal hatte sich Gottfried Benn mit dem Rücken ganz dicht an die Wand drängen lassen. Diesmal wollte er »das Leben« restlos abschütteln. Sein Blick war nach oben gerichtet:
Du aber dienst Gestalten
über dem Brückenwehr,
über den stumpfen Gewalten
Völker und Schnee und Meer …105