»Ich fange mühsam an,
mich geistig umzubauen«
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Am 19. November 1922 starb Gottfried Benns erste Ehefrau Edith, die sich im November einer Gallenblasenoperation unterziehen musste, an den Folgen einer postoperativen Bauchfellentzündung.

 

Ich kam am Morgen in Jena an, da mich Tante Ada am Abend vorher angerufen hatte, um mir zu sagen dass es sehr schlecht stünde und ich fuhr die Nacht hin. Ich sprach Mami den ganzen Tag noch und sass an ihrem Bett, sie litt nicht, hatte keine Schmerzen und wusste nicht, dass sie starb, aber wir wussten, dass es geschehen würde. Du spieltest in Tante Adas Wohnung mit Evi, Mami lag ja in einer Klinik. Sie war diesen letzten Tag so überaus freundlich und, ich möchte sagen, höflich und ritterlich mit mir, fragte, ob ich zu essen bekäme und gut untergebracht wäre und dachte nicht im Geringsten an sich selbst −, so war sie immer gewesen. Abends um 10 Uhr starb sie in meinen Armen, Mimm und Tante Ada waren dabei. Ich fuhr dann in der Nacht nach Berlin zurück, da ich es in Jena nicht ausgehalten hätte und kam dann mit Onkel Stephan am 21. zurück und am 22. war die Beerdigung. Abends nahm ich dich mit ins Hotel zu mir u. du trugst einen Umhang und eine kleine Kapuze, als wir beide von Tante Adas Wohnung im Dunkel und Regen in das Hotel wanderten. Es war ein sehr schlimmer Tag u. oft sehe ich noch Alles vor mir. Später suchte ich auf dem Kirchhof eine andere Grabstelle, die schöner lag, freier, nicht so zwischen all den andern Gräbern, und wir betteten den Sarg um.78

 

Noch viele Jahre nach der Beerdigung erinnerte sich Benn an den Abend, als er mit der Schwiegermutter und den »wirklich traurigen« Schwägerinnen beisammensaß, »mit welcher sichtbaren Gier sie die Habseligkeiten in den Koffern in Jena an sich nahmen u. verteilten (die mir gehörten). Echte Trauer u. Habgier schließen sich offenbar nicht aus.«79 Echte Trauer über Ediths Tod, selbst wenn die beiden nie glücklich miteinander werden konnten, empfand Benn noch dreißig Jahre danach, als er an einem trüben und nassen Buß- und Bettag des Jahres 1952 ihres Todestages gedachte.80

Etwa ein Jahr zuvor, irgendwann im Winter 1921, hatte Benn die zehn Jahre jüngere und ausgesprochen gutaussehende Dr. rer. pol. Gertrude Ottilie Cassel kennengelernt. Viel später – sie hieß mittlerweile Gertrud Zenzes – sollte er ihr eines seiner Bücher mit den Worten: »der einzigen Freundin in der Alten und der Neuen Welt«81 widmen, zu einer Zeit, als sie längst in den USA lebte, ihn mit materiellen Wohltaten überhäufte und gestand: »… wem sollte ich etwas lieber gönnen als Ihnen, dem Menschen, der vielleicht am tiefsten und nachhaltigsten auf mich gewirkt hat.«82

In Hirschberg im Riesengebirge geboren, hatte sie 1919 promoviert 83 und war im Winter 1921 nach Berlin gekommen. Sie fand eine Arbeitsstelle in der chemischen Industrie und eine Wohnung in der Motzstraße 47. Im Lauf der ersten Wochen bis Weihnachten besuchten sie sich gegenseitig, dann wurde das Verhältnis intim und Benn begann mit einem für ihn typischen »Erziehungsprogramm« (»dies nebenbei, da ich Dich doch erziehen muß«84), bei dem er Wert darauf legte, dass er die Freundin besser verstand als sie sich selbst (»Aber Du weißt: nicht ich sprach von Weihnachten u. Du schluchztest, ich wußte genau, warum Du weintest«85), was nicht selten dazu führte, dass die Überlegenheitsgeste mit Liebe verwechselt wurde. Gleichzeitig ging er auf Distanz, machte sich rar und damit interessant (»Erwarte nicht, daß ich Dich täglich anrufe, aber glaube, daß Du mir sehr nahe bist«86). Er genoss seine Rolle als einsamer Wolf (»… ich bin so hart geworden, um nicht selber zu zerschmelzen u. schließlich auch sehr fremd u. sehr allein.«87) und weckte damit mütterliche Gefühle bei dem Objekt seiner Begierde (»Wehe dir, wenn du mir Ratschläge erteilst oder kommst mich zu trösten!«88). Nach diesem Schema verfuhr er lebenslang, es gab ihm Sicherheit, es schien beherrschbar und es funktionierte.

Aber die Briefe geben auch über Benns Alltag Auskunft. Er musste »von morgens 8 Uhr an höflich u. nichtssagend seine Schmutzfinken von Patienten empfangen«89 und war überzeugt von »der Sinnlosigkeit in Reinkultur u der Aussichtslosigkeit der privaten Existenz in Konzentration«.90 Zeitweise ernährte er sich ausschließlich von »Suppen«, sie »geben mir eine gewisse Schwebe; die Praxis ist schwach, selten unterbricht eine Klingel meine sehr erwünschte Dämmerung«.91

 

Mir geht es heute miserabel. Vollkommen dezentralisiert, überarbeitet, verludert. Es ist kein Leben dies tägliche Schmieren u. Spritzen u. Quacksalbern u. abends so müde sein, daß man heulen könnte. Aber wenn ich mir vorstelle, was ich machen sollte, weiß ich es auch nicht. Den Laden verkaufen u. fortgehn! Aber wohin? In Frage kommt nur warmes Land, aber der Süden hat Devisen, die nicht bezahlbar sind. Oder die Zahl der Sprechstunden einschränken, aber entweder hat man eine Praxis, dann kann man sie nicht beschränken, ohne sie ganz zu ruinieren, oder man hat keine. Oder die ganze Passauerstraße zum Deibel jagen, aber eine Tochter kann man nicht zum Deibel jagen, wenngleich …92

 

Die Beziehung, die sie führten, unterlag zwar nicht strenger Geheimhaltung, doch nach einem Vierteljahr gerieten sie darüber in Streit, dass Benn ihrer besten Freundin Marthe Loyson am Telefon Andeutungen gemacht habe. Gertrud fuhr über Ostern nach Hause nach Hirschberg. Benn blieb in Berlin und wanderte »über die Müggelberge (berge!!) nach Friedrichshagen. Schönes Wetter, wenig Menschen, erfreuliches Wasser der Oberspree u. des Müggelsees …«93 Im Sommer fuhr sie allein in den Allgäu. Benn blieb in Berlin, »die Stimmung wechselnd; die Geschäfte ziemlich lustlos«,94 »mit Seyerlen viel zusammen, Quatschkopf, Börse immer noch nicht in Schwung, Kino schlechte Stücke, Boxkampf am 19. international, Ted Kid Lewis, englischer Champion«.95 Im Anschluss an ihre Rückkehr verbrachte er auf Rügen seine Ferien.96 Die Briefe danach sind von Missstimmungen gekennzeichnet. Im September war dann Schluss mit der »Frau, mit der ich nie eng u. nie ständig verbunden war«.97

 

Du hast recht: Ich soll Dich nicht so lange ohne Liebe u. Freundschaft lassen, Du bist zu zart u. weich dazu. Aber was soll ich tun? Zur Zeit u., wie mir scheint, für eine lange Zeit muß ich allein leben u. werde Dich nicht sehn. Gehn wir also auseinander mit dem Bewußtsein, daß wir uns wieder treffen werden, daß zwischen uns nichts war u. sein wird als große Freundschaft, Glück u. Zärtlichkeit, so oft die Stunde schlug u. wenn sie wieder schlagen wird. Wann? Vielleicht bald.98

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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