Gottfried Benn kam also »wieder etwas in Schwung«.3 Als Erster hatte Hans Paeschke vom Merkur um seine Mitarbeit geworben: »Sie winkten mir freundlich mit einem Handschuh und ich erwidere mit Etwas wie einer Nilpferdpeitsche.«4 Mit dem Berliner Brief, einem mit besonderer Sorgfalt verfassten Text – »für alle politischen Journalisten ein rotes Tuch«5 –, wollte Benn seine Vorbehalte gegen die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit auf den Punkt bringen.
Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen.6
Hans Paeschke zeigte sich tief beeindruckt von dem Schreiben. Benns Haltung entsprach genau dem, was er für seine Zeitschrift forderte und was er als »Verantwortlichkeit des Geistes« und »Verantwortung vor dem Wort«7 bezeichnet hatte: Subjektivität und Distanz, »den Mut, Ich zu sagen, und den Mut zu unbestechlicher Kritik«.8 Es war Paeschkes einfühlsam zurückhaltende Art, mit der er Benn als ständigen Mitarbeiter für den Merkur gewann, und es war ihr Rang im geistigen Nachkriegsdeutschland, aufgrund welcher Benn die Zeitschrift von sich aus immer wieder als Publikationsort für den Erstdruck seiner neuen Arbeiten ins Auge fasste.
Kurz darauf, Anfang August 1948, erreichte Benn ein Schreiben vom Radio Stuttgart, in dem ihn Karl Schwedhelm bat, einige Gedichte zu lesen. Die von Frank Maraun vermittelte Lesung sollte die erste von mehr als dreißig Aufnahmen für den SDR, die Sender des NWDR in Köln und Hamburg (später WDR und NDR), den RIAS, den SFB, den HR, den BR, Radio Bremen, Radio Basel, Radio Zürich und Radio Bern werden.9
Im September dann stellte Benn die Manuskripte für die beiden geplanten Essay- und Prosabände zusammen und legte seinem neuen Verleger nahe, sich um die Lizenzrechte der Statischen Gedichte zu bemühen.
Max Niedermayer, 44 Jahre alt und laut Erhard Hürsch »eine äusserst elegante Sporterscheinung«,10 war ein Neuling in der Branche. Seine Arbeit als Verleger verrichtete er mit einer Mischung aus Liebhabertum und Unerschrockenheit. Zudem legte er einen erfrischenden Elan an den Tag. Nachdem er den Ptolemäer und die Ausdruckswelt gelesen hatte, auf dem »harte[n], holzhaltige[n] Papier, zum Teil zerschnitten und zusammengeklebt, unterschiedlich in der Größe – Montagen, auf einer alten Schreibmaschine geschrieben, mit versagendem Farbband, so daß ganze Wörter handschriftlich lesbar gemacht waren«,11 stellte er seinem neuen Autor in Aussicht, innerhalb von nur vier bis sechs Wochen zwei Bücher erscheinen zu lassen, obwohl er zumindest den Ptolemäer für politisch verfänglich hielt.
Und er erwies sich als flexibel. Denn noch während der Satzvorbereitungen sandte ihm Benn das komplette Manuskript der Drei alten Männer, weswegen im Dezember spontan entschieden wurde, mit den Männern als Einzelband die Reihe der Veröffentlichungen im Limes Verlag zu starten. Niedermayer war froh, dass das wenig umfangreiche Manuskript seine Pläne umgestoßen hatte, gab es ihm doch die Möglichkeit, einen verlegerischen Versuchsballon zu starten. Leider schlichen sich in Benns Debüt im Pappband so viele Fehler ein, dass bereits 1955 eine revidierte Neuauflage vonnöten war: Benn hatte irrtümlicherweise das »bessere« von zwei Typoskripten anstatt in den Verlag in Oelzes »Archiv« geschickt.
Am 15. Februar erreichten Benn die ersten Exemplare des Ptolemäers. Am selben Tag erschien in der Gegenwart eine Besprechung der Statischen Gedichte von Friedrich Sieburg: »Danach müßte man eigentlich tot umfallen und sich in das Schattenheer des Empedokles begeben, weiterleben ist unfair.«12
Mit einem einzigen Flügelschlag reißt uns eine neue Dichtung Gottfried Benns über das Stimmengewirr der um lyrischen Ausdruck bemühten Gegenwart hoch hinaus. … In eisigem Licht wird das menschliche Herz in seiner Einsamkeit plötzlich sichtbar. … Der Entwicklungsbegriff verläßt unser Denken, an seine Stelle tritt der zum Kunstwerk erstarrte Traum vom beziehungslosen Ich. Es ist freilich ein schwer faßbarer Traum, zu dem die Worte nur wie flüchtige Feuerzeichen hinführen. Daß eine Dichtung so vollständig aus der Schöpfung heraustritt, um das Leben einer eigenen Schöpfung zu führen, widerfährt uns selten.13
Schlag auf Schlag ging es weiter: In der Woche darauf erschien das lang ersehnte Heft des Merkur mit dem Berliner Brief und dem Kapitel »Zusammenfassung« aus dem Roman des Phänotyp. Im Juni kam die Ausdruckswelt, im Juli die anlässlich von Goethes 100. Todesjahr im Arche Verlag erschienene Sonderausgabe von Goethe und die Naturwissenschaften und weitere drei Monate später die Auswahl früherer Lyrik Trunkene Flut. Gespannt wartete Benn auf Pressereaktionen:
In Deutschland ist man bestürzt über die Kühnheit der »Formeln«, aber man bewundert sie auch. Was aber wird, wenn »Der Ptolemäer« erschienen ist, das weiss ich nicht. Ich fürchte da manches. Aber es muss sein, entweder man macht Kunst oder man soll schweigen.14
Den Anfang hatte Werner Milch in der Neujahrsausgabe der Zürcher Tat gemacht,15 doch Benn fand die Besprechung unverschämt, da sie »sich mit dem Gedichtband überhaupt nicht beschäftigt, sondern einen Aufguss eines älteren langen Essays giebt«.16 Dann kam Frank Maraun mit einer hymnischen Kritik über »Neue Lyrik von Gottfried Benn«: »Es ist die Vollendung des Expressionismus, der man hier begegnet, seine Klassizität, seine letzte geläuterte Erfüllung.«17 Natürlich sah sich Benn auch Angriffen ausgesetzt.
Im »Telegraf«, Organ der Berliner S.P.D. stand eine recht üble Pöbelei gegen mich, gross aufgemacht, so, als ob ich durch mein Eintreten für den N.S. 1933 Schuld an 6 Millionen Toten wäre usw. Nun, tut nichts.18
Zeitweise drohte er den Überblick zu verlieren: »Bei mir melden sich Pressevertreter und Photographen von den merkwürdigsten Richtungen, ich weiss nie, gilt es einem neuen Angriff und einer neuen Anpöbelung oder literarischem Interesse.«19 Das Interesse an dem »großen Umstrittenen und Überlebenden zweier Weltkriege in Deutschland«,20 der in seinem Urteil über die Deutschen »schärfer und wahrer als Thomas Mann«21 sei, wurde im Lauf der Monate mit jeder seiner Veröffentlichungen größer.
Morgen erscheint hier im Montagsecho, der F.D.P. Zeitung, ein Bild von mir, von Paul Rosié, mit Bemerkungen dazu, und dass der Kurier eine neue Stelle aus den 3 AM kürzlich brachte (die Stelle: »Das Bewusstsein verlässt das Mittelmeer«, die ich vorgeschlagen hatte) haben Sie vielleicht bemerkt. Heute Abend sendet Stuttgart eine halbe Stunde lang die von mir hier bei Rias auf Platten aufgenommenen Gedichte (mit Einleitung von Herrn Maraun) und ebenfalls heute Abend singt im N. W.D.R. Pamela Wedekind Gedichte von Brecht und mir (worauf ich weniger erpicht bin, denn für Bänkelsängereien sind meine Verse eigentlich ungeeignet).22
Heinz Friedrich konzipierte eine Sendung für den HR, Thilo Koch eine für den NWDR Berlin. Gert Westphal erhielt die Erlaubnis, die Drei alten Männer als Hörspiel für Radio Bremen zu inszenieren. Regelmäßig erschienen Vorabdrucke. Es gab Fototermine, Interviews wurden angefragt. Die von der amerikanischen Militärregierung herausgegebene Zeitschrift Heute plante gar eine Homestory. Im September, als Benn für den Hamburger Lessing-Preis vorgesehen war, den er jedoch nicht bekam,23 ließ der Verlag einen Prospekt drucken: Wer ist Gottfried Benn?, »damit sich die Herren Sortimenter informieren können«.24 Elisabeth Langgässer schrieb in der Frankfurter Rundschau über »Glanz und Auftrag der großen Form«,25 Karl Korn in der Mainzer Allgemeinen Zeitung über den »modernen Orphiker«,26 Oskar Jancke in der Neuen Zeitung über »Künstler und Mensch in dieser Zeit«.27 E. R. Curtius bedauerte, wegen einer bevorstehenden Reise nichts über die Ausdruckswelt verfassen zu können, die er »in einem Glücksrausch gelesen und wiedergelesen«28 habe. Es äußerten sich Helmuth de Haas, Egon Vietta, Kurt Leonhard.29 Max Bense verglich in seiner Studie Ptolemäer und Mauretanier den Stil und die Gedankenwelt Ernst Jüngers, die er ins 19. Jahrhundert verwies, mit der Modernität Benns. Schließlich stand »in der Neuen Schweizer Rundschau vom 15. VII ein 32 Seiten langer Aufsatz über mich von Max Rychner«,30 der in Benn »eine Krise hervorrief, die heute noch nachwirkt u. zu welchen Ergebnissen sie führt, weiß ich heute noch nicht«.31