»Es riecht nach Sensation«32

 
 

Gottfried Benn? Noch bis zum März 1912 wußte niemand von ihm. Bis auf wenige seiner Freunde. So auch Adolf Petrenz, der Redakteur, der mir ein wirres Manuskript zugehen ließ, dessen Lektüre mich mißmutig machte, und schon zu hastigerem Weiterblättern und Zuklappen veranlassen wollte, bis ich dann zu einem angehängten Zyklus, der mit den bisherigen Versen schier unvereinbar schien, gelangte und – aufschrie. Der das geschrieben hatte, kam nicht von der Theorie, sondern aus den Erlebnissen des ärztlichen Berufes. »Morgue« hieß der Zyklus, die einzelnen Gedichte hatten die Überschriften: Kleine Aster – Schöne Jugend – Kreislauf – Negerbraut – Requiem – Saal der kreissenden Frauen – Blinddarm – Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke – Nachtcafé. Das Flugblatt war in acht Tagen abgesetzt und gedruckt, es trägt das Datum: März 1912.33

 

So der Verleger A. R. Meyer. Viele Jahre später behauptete der damals 40-jährige Adolf Petrenz, für die Karriere Benns der »Weichensteller eines Luxuszugs«34 gewesen zu sein. Als Gottfried Benn ihm sein Manuskript übergab, konnte er nicht ahnen, dass ihn Meyer überrumpeln musste, indem er nur den Anhang der eingesandten Texte veröffentlichte, und ihm dadurch in der hitzigen Szene des literarischen Berlin einen Auftritt verschaffte, der fulminanter nicht sein konnte.

Meyer, Lektor bei Otto Janke und freier Journalist, hatte seinen Einmannverlag bereits 1907 gegründet. Er war mit der Vortragskünstlerin Resi Langer verheiratet, die auf seinen Autorenabenden im Papierhaus in der Dessauer Straße Gedichte seiner Autoren rezitierte, wenn die es nicht selbst taten.

Der gänzlich unerfahrene Benn hätte es viel lieber gesehen, wenn er mit einer repräsentativeren Auswahl seiner Arbeiten reüssiert hätte, mit Gedichten, die ihm intensiver gearbeitet und von besserer Qualität erschienen. Die Veröffentlichung der Morgue bedauerte er bereits nach wenigen Wochen. Die Kritiken zielten ihm viel zu sehr auf den Inhalt und nicht auf die Form: »Es riecht nach Sensation. Es schmeckt nach Kino. Daran bin ich aber völlig unschuldig. Ich hätte von mir aus niemals diese Zusammenstellung veröffentlicht …«35 Dass er damit die Argumente der bürgerlich-konservativen Presse aufnahm und stützte, die ihm mangelndes Formbewusstsein und inhaltlich schlicht Unmoralität vorwarf, schien ihm jedoch verborgen geblieben zu sein.

Wolfgang Martens hielt ihm in der Aktion photographischen Realismus vor,36 Hans von Weber gar Zynismus; er empfahl den Lesern des Zwiebelfisch, zur Lektüre der Gedichte des »Kraftgenies« sich einen sehr steifen Grog zurechtzustellen.37 Hans Friedrich vom Janus schließlich überließ »diesen interessanten Fall den Psychiatern«.38 Einzig dem Dichterkollegen Ernst Stadler war sonnenklar: »Wer Lebensvorgänge mit solcher Knappheit und Wucht zu gestalten und in so schicksalsvollen Gesichten auszuweiten vermag, ist sicherlich ein Dichter.«39 Zwar wissen wir heute, dass die Morgue neben den Gedichten Theodor Däublers, Paul Zechs, Georg Heyms und Franz Werfels, um nur ein paar zu nennen, eines der wichtigsten Dokumente der frühen expressionistischen Lyrik ist, aber zum literarischen Establishment gehörte Benn nicht. Seine Bedeutung blieb lange weitgehend unerkannt. Selbst die Unterstützung Else Lasker-Schülers und ihr Versuch, ihn 1913 in Kurt Wolffs gerade entstandenem Verlag unterzubringen, scheiterte.

Das inklusive Verlagsanzeigen nur 16-seitige lyrische Flugblatt erschien als 21. seiner Reihe in einer Auflage von 500 Exemplaren. Es kostete gerade einmal 50 Pfennig und war eine der bemerkenswerten literarischen Randerscheinungen des Jahres 1912. Benns Honorar betrug 40 Mark. Seine Käufer fand es in der literatur-revolutionär eingestellten Leserschaft, die »abends, im Café des Westens oder auf der Straße vor Gerold an der Gedächtniskirche sitzend und bescheiden abendschoppend, das Erscheinen des ›Sturm‹ oder der ›Aktion‹ erwarteten«.40 Aber so plötzlich Benn der Eintritt in die Literaturszene gelang, so wenig selbstverständlich bewegte er sich in ihr. Er hatte von Anfang an die Rolle des Außenseiters und Isolationisten inne, dem nicht nur die Öffentlichkeit, die ihm den Ruf eines brüchigen Roués41 verpasste, sondern die ganze Szene misstraute. Nein, er bot nicht das Bild

 

eines deutschen Baudelaire, sondern eines deutschen Offiziers in Zivil. Benn trug einen hellen, sehr kurzen Sommermantel, einen »Covercoat«, der oberhalb der Knie in modischer Weise mit mehreren Nähten abgesteppt war, und dazu einen schwarzen, steifen Hut, eine »Melone«, wie sie heute nur noch bei Beerdigungen üblich ist. Man konnte kaum korrekter gekleidet sein.42

 

Dass er einem bürgerlichen Beruf nachging, mochte er selbst noch hinnehmen, aber dass er auf unabsehbare Zeit seine Tage mit den Offizierskollegen in den Kasinos verbringen würde, bereitete ihm selbst mehr Kopfzerbrechen, als ihm lieb war.

Zurück in Prenzlau, sollte Gottfrieds zehnjährige Militärzeit beginnen. Nachdem er am 22. Mai vom Unterarzt zum Assistenzarzt befördert worden war, geschah jedoch etwas gänzlich Unerwartetes. Anfang Juni wurde ihm ein dreimonatiger Urlaub gewährt; damit war seine aktive Zeit im Grunde wieder beendet. Die Ereignisse um seinen Abschied lassen sich nur in groben Umrissen rekonstruieren, die eigentliche Ursache bleibt unklar.

Nach zwei Monaten meldete er sich erstmals bei seinem Freund Koenigsmann von einer Ferientour durch Deutschlands Ostseebäder, zu der er sich mit dem D-Zug Berlin–Stockholm aufgemacht hatte. Aus Sassnitz schrieb er: »Hier ist es unbeschreiblich: Flirt, Sommer und Meer.«43 Und er dichtete: »Eine Frau ist etwas für eine Nacht. / Und wenn es schön war noch für die nächste!«44 Stolz teilte er Koenigsmann mit, dass in der letzten Nummer der seit März von Alfred Kerr herausgegebenen Avantgarde-Zeitschrift Pan neue Gedichte45 von ihm erschienen seien.46 Nach sechs harten Studienjahren hatte er auf einmal drei Monate Zeit zum Schreiben. Zum ersten Mal überhaupt konnte Gottfried Benn in diesen Monaten des »Urlaubs« leben wie ein Dichter. Es entstanden die neuen Gedichte – D-Zug, Café und Kasino, die drei wichtige Stationen des Jahres 1912 dichterisch verarbeiteten. Den März hatte er mit Künstlerfreunden in den Berliner Nachtcafés verbracht, im Gedicht Café wird Hans Ehrenbaum-Degele, Freund Else Lasker-Schülers und Mitherausgeber des Neuen Pathos, erwähnt. April und Mai verbrachte er bei seiner Truppe in Prenzlau, ein intellektuelles Desaster, wie das aus den Offiziersjargon persiflierenden Gesprächsfetzen montierte Gedicht Kasino demonstriert, und nun war er im »Zwangsurlaub«, den er sichtlich genoss.

Benn glaubte an einen baldigen Abschied nach seinem Urlaub und plante eine Reise nach Fernost, während seine Kameraden zum Kaisermanöver nach Sachsen aufbrachen: »Im Oktober geht es zu Schiffe. Ägypten liegt mir sehr am Herzen. Indien dämmert auf.«47 Analysiert man Benns Lage, wie sie sich aus den wenigen erhaltenen Briefen dieses Sommers darstellt, wird man feststellen, dass es den einen Grund für seinen geplanten Abschied aus der Armee nicht gab. Dass »nach einem sechsstündigen Galopp bei einer Übung eine Niere sich lockerte«,48 war vom ersten Moment an die offizielle Version. Bei der sogenannten Wander- oder Senkniere handelt es sich um einen »schwierigen« medizinischen Befund, da Symptome, bis auf die Klagen der Patienten, schlecht nachweisbar sind. Andere, Benn nannte sie »innere« Gründe, scheinen gewichtiger gewesen zu sein. Die Unvereinbarkeit des Doppellebens als Offizier und Dichter lag so deutlich auf der Hand, dass er froh sein musste, etwas zu finden, das einen halbwegs ehrenvollen Abschied ermöglichte. Seinen Vorgesetzten musste er nicht glaubhaft machen, dass nur ein felddienstfähiger Offizier ein richtiger Offizier war. Seinem Freund gegenüber wurde er schon deutlicher:

 

Ich beeile mich nur, dir mitzuteilen, daß ich absolut freiwillig gehe, d. h. wegen meiner Niere, die mich während einer Reitübung zum Kollabieren brachte; daß man mich allerseits sehr ungern gehen sieht u. mich durch sofortige Kommandos zu halten versucht hat. Ich habe jedoch darauf verzichtet, da ich felddienstfähig doch nicht mehr werde u. andererseits aus inneren Gründen: ich kann keinem Luxusberuf angehören, ich habe keinen Zuschuß, ich muß mir Geld verdienen u. dann der unheimliche Drang nach Reisen u. andren Erdteilen. Andererseits sehe ich vollkommen ein, daß ich vieles aufgebe: Sicherheit des Fortkommens, Karriere, Gesellschaftliches u. sw. u da ich sehr nahe daran war, mich zu verloben, trifft mich dieser Wandel durchaus nicht nur angenehm.49

 

Benn hatte die Zeit als aktiver Militärarzt mit Schulden begonnen; nach allem, was er sah und hörte, würde er sich den Lebensstandard seiner Offizierskollegen nicht leisten können, da ihm schlicht die finanziellen Mittel fehlten. Und dann hören wir wieder von seinem »unheimlichen Drang nach Reisen« und einer (unglücklich) zu Ende gegangenen Liebe zu einer Frau, mit der er drauf und dran war, sich zu verloben. Einen weiteren Grund tut er schnell ab. Koenigsmann glaubte, dass Benns im politisch links stehenden Pan gedrucktes Kasino-Gedicht ein Akt der Rache gewesen sei. Was er damit genau meinte, bleibt unklar. Wichtig blieb Benn, dass er keineswegs zwangsentlassen, sondern freiwillig aus dem Dienst geschieden sei. Ausgeschlossen scheint jedenfalls nicht, dass man sich auf die »Wanderniere« geeinigt hat.

Im September kehrte Benn zum letzten Mal »mit Heimweh« zu seiner Truppe zurück,

 

dahin, wo drei Giebel u ein grüner Zaun eine Straße sind u. 6 solcher Straßen um eine alte Kirche die ganze Stadt ist. Ich glaube doch noch, daß ich abgehe u. mich als praktischer Arzt niederlasse u. ein Weib nehme u. meinen Garten bebaue.50

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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