»Trauer im Herzen u Trauer im Blick«3

 
 

Während am 7. September 1945 Tausende von russischen, amerikanischen, englischen und französischen Soldaten fähnchenschwingend vor dem Brandenburger Tor an ihren militärischen Führern vorbeiparadierten, schritt Gottfried Benn still an Hertas Grab, in Neuhaus an der Elbe. Als er am nächsten Tag zurückkehrte, stand der Spezialist für Häutungen aller Art und Arrangeur von »kleinen jüngsten Tagen« vor einem Neubeginn, wie selbst er ihn noch nicht erlebt hatte. Er schlug sein Arbeitsheft wieder auf und trieb Studien im »mit-dem-Rücken-an-der-Wand-Stil«.4 Die Wände, vor denen er stand, waren die jenes unvorstellbar großen Trümmerfeldes, auf dem jedes fünfte Gebäude zerstört war:5 »Diese endlosen, furchtbaren, Kilometer weiten Trümmer, aus denen man nie, nie ins Grüne kommt, an ein Feld, in einen Garten.«6 Die seelischen Aufräumarbeiten hatte er stumm für sich erledigt.

Aber es gab auch Wände am inneren Rand seiner selbst, an die er gestoßen war, um von dort aus erinnerungslos wieder ins Leben zurückzukehren.

 

Wem das geschah, der muß sich wohl vergessen

und rührt nicht mehr die alten Stunden an.7

 

 

Er begann etwas anderes zu leben als zuvor. Das, was er war, war ihm abhanden gekommen, was es war, wusste er selbst nicht mehr genau. Es war zerfallen in einen Extrakt von Melancholie, aus dem er poetisch bis zu seinem Ende schöpfen sollte; er wurde nicht müde, »ein expressives Aprèslude zu fabrizieren«,8 wie es keiner außer ihm in der Lage war zu tun.

Um seine wirtschaftliche Existenz musste sich Benn mittlerweile keine ernsthaften Sorgen mehr machen. Anfang Oktober hatte er ein Barvermögen von 11 760 M – gut die Hälfte davon hatte seit Mai die Praxis abgeworfen, die er bis Ende des Jahres als Privatpraxis führte – eine stattliche Summe, zieht man als Vergleich heran, dass er 150 M Miete zahlte und seine Haushälterin, von der Nele nicht wusste, »wie man das in Deutschland haben kann«,9 80 M im Monat verdiente; als er selbst im Dezember begann, in der Beratungsstelle für Geschlechtskranke zu arbeiten, – zunächst im Rahmen der ärztlichen Arbeitsgemeinschaft, seit dem 1. 4. 1949 als nicht vollbeschäftigter Arzt –, erhielt er für zwölf Monatsstunden 50 M.

Am 3. Dezember unterzeichnete Benn einen Vertrag mit der Versicherungsanstalt Berlin und behandelte nun neben Privat- auch Kassenpatienten. Nach der ersten Quartalsabrechnung notierte er: »Von Kasse 600 M / Steuer 575 fort«.10 Laut neuer Gebührenordnung vom April 1947 erhielt er von der Kasse 4 M pro Hausbesuch. Er machte Sonntags- und Nachtdienste; das hieß

 

von abends 8 Uhr bis morgens 7 Uhr in einer Baracke zubringen, die sich schlecht heizt – Telefonanrufe etwa 12 die Nacht, keine Straßenschilder, die Hausnummer nicht erkennbar – Hinterhöfe, Keller, Trümmerstätten, während der Blockade unbeleuchtet, in der linken Hand eine Kerze, in der rechten eine Injektionsspritze – dort ein alter Mann mit Herzanfall, hier eine Alkoholvergiftung bei einem Kellner, ein Hirntumor in extremis, ein Typhus, der ins Krankenhaus muß, eine Frau, die blutet.11

 

Ganz langsam kam auch das kulturelle Leben in Berlin in Schwung: mit Fidelio wurde erstmals wieder eine Oper vollständig aufgeführt, und Ende des Monats erschien der Tagesspiegel, die erste von den Amerikanern lizenzierte Tageszeitung, während Benn äußerst vorsichtig seine literarischen Fühler Richtung Öffentlichkeit auszustrecken begann, stets im Blick, die Weiterführung seiner Praxis nicht zu gefährden. Am 26. September war Benn neugierig genug, in der Wohnung des stellvertretenden Präsidenten Georg Schumann an der ersten Sitzung der Akademie der Künste teilzunehmen.

 

Die Sitzungen – der kaum noch vorhandenen, obscur gewordenen, von Konkurrenzunternehmungen überwucherten – Akademie der Künste, deren Mitglied ich ja seit 1932 bin, besuche ich. Meine Frage, welchen Sinn u Inhalt diese Akademie heute haben solle, wird mit »Repräsentation« beantwortet. Gelächter, sage ich! Wer, für wen u. was? 1933 wurden die Mitglieder auf Befehl der Faschisten gestrichen, heute auf Befehl der Antifaschisten, kommen morgen die Katholiken zur Macht, hängen wir eine Madonna an die Wand u. legen Rosenkränze vor die Sitzungsteilnehmer – also: entweder es giebt die Kunst dann ist sie autonom, oder es giebt sie nicht, dann wollen wir nach Hause gehn. Aber diese Akad. hat einen Etat, Secretäre, Beamte usw, die Gehalt weiter bekommen wollen, also muss sie zu jedem Kompromiss bereit sein, auch hier sage ich: Papierkorb. Im übrigen wäre es für mich ein Leichtes (der Einäugige unter den Blinden), an die Spitze zu gehn u. zu führen, aber ich habe es satt, mir von Neuem Dreck an den Kopf werfen zu lassen (wie früher) oder hinter Stacheldraht zu kommen, um andere aufzuklären oder weiterzubringen, parceque je m’en fou.12

 

Zu einem Zeitpunkt als niemand wusste, ob Benn »auf schwarze oder graue oder sonstwie kolorierte Listen«13 gesetzt würde, diskutierte man, wer in der Akademie bleiben, wer entfernt und wer wieder aufgenommen werden solle. Benns Vorschlag war, »daß die nach 1933 gewählten Dichter-Mitglieder sämtlich für die Akademie nicht mehr in Betracht kämen«.14 Er selber, so jedenfalls schätzte Akademie-Sekretär Alexander Amersdorffer die Lage ein, brauche sich wegen seiner Tätigkeit beim OKW keine Sorgen zu machen. Schwierigkeiten seien keine zu erwarten.15

Weit dringender als ein repräsentativer Platz unter den Dichterkollegen war jedoch die Suche nach einem Verleger, dem es gelingen würde, Benns neue Arbeiten, die er am liebsten in drei Bänden gleichzeitig präsentiert hätte, zu veröffentlichen. Aber auch hier war Benn nicht bereit, eigene Schritte zu unternehmen, um von irgendwelchen Listen gestrichen zu werden, denn alles, was er je publiziert hatte, »es war immer echt u. kam aus meinem Wesen. Wenn man immer nur das publizierte und ausspräche, was 15 Jahre später opportun erscheint, würde man überhaupt nichts publizieren.«16

 

Herr Bermann-Fischer, den ich von früher kenne, war inzwischen mehrere Wochen in Berlin, ohne dass ich ihn sah bezw. er mich. Sein hiesiger Kooperator, Herr Suhrkamp, ist nicht mein Fall u ich habe ihm 1945 etwas die kalte Schulter gezeigt, als er sich um mich bemühte.17

 

Woran Benn mit der für ihn typischen Schnoddrig- und Kaltschnäuzigkeit erinnerte, war der erste Versuch eines Verlegers nach dem Krieg, mit dem Verfemten in Fühlung zu geraten. Der nur wenig jüngere Peter Suhrkamp war von 1933 an Leiter der Redaktion der Neuen Rundschau, wurde Vorstandsmitglied des Verlags, den er 1936 erwarb, als die Erben Samuel Fischers Deutschland verlassen mussten. Im April 1944 wurde er wegen »Landes- und Hochverrat« verhaftet und im Januar 1945 ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert, aus dem er Anfang Februar überraschend entlassen wurde.

Benn suchte bereits im August 1944, also zu einem Zeitpunkt, als Suhrkamp im Gefängnis saß, Briefkontakt zum Verlag, den mittlerweile sein alter Freund Hermann Kasack, seit 1941 Nachfolger Oskar Loerkes als Cheflektor, leitete. Offenbar hatte er von sich aus Anstrengungen unternommen, seine neuen Arbeiten anzubieten, denn im Januar 1945, unmittelbar vor der Flucht aus Landsberg, schrieb er an Oelze:

 

Als Verlag schwebt mir S. Fischer (Suhrkamp) vor oder mein alter Verlag, Deutsch. Verlagsanstalt Stuttgart, falls er wieder seinen früheren Charakter angenommen hat. Am besten natürlich ein Verlag in dem Teil Germanys, der nicht von den Russen besetzt ist. Da meine sämtlichen Bücher ja frei sind u. die D. V.A. Stuttgart mir alle Rechte zurückgegeben hat (um mich loszuwerden, unter Druck der sie jetzt beherrschenden Clique), könnte für meine Frau ein Gesamtvertrag abgeschlossen werden, wenn das möglich wäre, das würde ihr vielleicht eine kleine Summe sichern, die sie in die Hand bekäme.18

 

Noch kurz vor der Kapitulation hat Benn in seinem Kalender ein Telefonat mit Peter Suhrkamps Sekretärin Anne Mörike vermerkt.19 Ende September kam es schließlich zu dem erwähnten Treffen, bei dem er dem ungeliebten Verleger »etwas die kalte Schulter zeigte«. Anfang Oktober besuchte Suhrkamp, der als erster deutscher Verleger in Berlin von der britischen Militärregierung eine Lizenz für einen Buchverlag erhalten hatte, Benn in der Bozener Straße und bedankte sich anschließend für den Sonntagnachmittag.20

Nachdem Suhrkamp gegangen war, bekam Benn überraschend Besuch von einem Schriftstellerkollegen, der zu jener Zeit in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in der Meraner Straße 12 wohnte. Wie dessen Biographin berichtet, geriet Rudolf Ditzen alias Hans Fallada zufällig an Benn, um seiner Frau Ulla, mit der er erst ein halbes Jahr verheiratet war, Morphium verabreichen zu lassen.21 »2 × Fallada«, notierte Benn mit dem Zusatz: »abgelehnt«.22 Doch zwei Tage später tauchte er in der Meraner Straße auf und übergab dem alkohol- und drogensüchtigen Rudolf Ditzen vier Tabletten des synthetischen Opiats Eukodal. Noch im November bat Falladas Frau Ursula Losch Benn um Medikamente.23

Nach dem ersten der beiden Treffen mit Peter Suhrkamp suchte Benn am Abend darauf Hermann Kasack auf, um ihn zu informieren. Im November bekam Benn schließlich noch einmal Post aus dem Haus Suhrkamp. Der Brief ist nicht überliefert, so dass ein abschließendes Urteil ausbleiben muss, worauf sich Benns Antipathie gegenüber dem Verleger, den er seit 1933 persönlich kannte, letztlich gründete. Der Kontakt zum Suhrkamp Verlag sollte jedoch bei weitem nicht der einzige bleiben, der sich für Benn in nächster Zeit ergeben würde.

Die Tage waren geprägt vom »Kampf gegen Kälte, Dunkelheit u Hunger; abends um 8 ½ kommt die Tablette, um von 10 Uhr an 8 Stunden nicht mehr wach zu sein«.24 Allmählich konnte der mager gewordene Benn »wieder einen Federhalter in den Händen halten und schlecht und recht meine Handschrift auf die Unterlage bringen, wenn ich zwischendurch Holz auf das Feuer werfe«.25 In zwei Zimmern hatte er einen Ofen, und nachdem er sich einen ausreichenden Holzvorrat zusammengesägt hatte, konnte der erste Nachkriegswinter kommen.

Am 24. Oktober erschien ein Zeitungsartikel Adolf Frisés in der Neuen Hamburger Presse, der »Aufsatz u Bild von mir brachte u. mein Wiedererscheinen erhoffte u. begrüßte«.26 Dadurch ermutigt, sah Benn ab Mitte Dezember häufiger den jungen Berliner Verleger Karl Heinz Henssel, der nach dem Gebr. Mann-Verlag und den Verlagshäusern Heinz Ullstein im Dezember 1945 eine der ersten amerikanischen Verlagslizenzen erhalten hatte, und sie fassten gemeinsam den Plan, Benns Comeback mit den Statischen Gedichten zu beginnen. Im Januar übergab Benn Henssels Frau Edith das Manuskript und erkundigte sich – wohl eine länger andauernde Beziehung erhoffend – nach ihren Geburtstagen. Doch bereits im April – die Fahnen waren schon gedruckt – musste Henssel zurückziehen: »Ich habe gestern nochmals mit Herrn Bleistein über die Veröffentlichung Ihrer Gedichte gesprochen. Er will nicht, und zwar hält er sich an die Liste, die vom Volksbildungsamt ausgegeben wurde.«27 Zwei Bücher standen auf der »Liste der auszusondernden Literatur«, die im April von der »Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone« aufgestellt worden war: Kunst und Macht sowie Der neue Staat und die Intellektuellen. Henssel schlug vor, Eugen Claassen und der Hamburger Goverts-Verlag, der sich seit Anfang Februar um die Druckrechte von Benns Prosaarbeiten bemühte, möge auch die Gedichte übernehmen, und sandte Benn die Korrekturfahnen. Die korrigierten Fahnen ließ Henssel Ende April wieder abholen, woraufhin fünf Exemplare des Buches als Privatdruck zum 60. Geburtstag hergestellt wurden.

Ab März bemühten sich Johannes Weyl vom Konstanzer Südverlag und ab September Ernst Rowohlt um Benn.28 Im Dezember trat schließlich noch die DVA, Benns alter Verlag, auf den Plan, aber all diese Bemühungen scheiterten an Benns Zögerlichkeit in Verbindung mit den Befürchtungen, die Auflagen der Zensurbehörden nicht zu erfüllen. So bekam der Graphologe Max Bauer recht, der Benn prophezeite, dass erst »in der 2. Hälfte 1947 eine ausserordentliche Conjunktur für mich bevorstünde, eine noch nie dagewesene meines Lebens, die ich vorbereiten solle«.29

Die Vorgeschichte begann im April 1946, als die »Tochter des Nihilisten«30 »Missis Nele Topsoe als ›war correspondent‹ in englischer Uniform mit ihrem Wagen aus Kopenhagen«31 kam.

 

Wir hatte uns 7 Jahre nicht gesehn u. kaum Briefe gewechselt. Trotzdem war alles in Ordnung. Eine kleine blonde Person, hat ein Haus, einen Mann, zwei Kinder (Zwillinge), eine Köchin, ein Kindermädchen u ist recht angesehene u. massgebliche Redaktörin bei »Berlingske Tidende« mit hohem Gehalt. Der Mann lungenkrank, aus sehr gutem Haus, nicht sehr arbeitsfähig, aber nicht unwohlhabend, mir unbekannt. Diese Person ist von einer Fixigkeit u. Intuition des Geistes, die beunruhigend ist. Spricht ausser – gebrochen – Deutsch die 3 nordischen Sprachen u. Englisch u. Französisch perfekt u ohne zu stocken.32

 

Nach wenigen Tagen verließ sie Berlin wieder und traf zufällig in einem Hamburger Hotel den wohlhabenden jungen Schweizer Journalisten und Sohn eines Winterthurer Zeitungsverlegers Erhard Hürsch, der vom Pariser Pressebureau für Auslandskorrespondenten die Erlaubnis erhalten hatte, über Baden-Baden, Hannover und Hamburg nach Berlin zu reisen. Ihm, der seinerseits mit Peter Schifferli, dem Verleger des Zürcher Arche-Verlags, bekannt war, gab sie die Adresse ihres Vaters, über den Hürsch bereits in Baden-Baden beim französischen Presseoffizier Dr. med. Alfred Döblin in einen Disput verwickelt war. Kaum eine Woche war vergangen, da hielt der »knabenhafte« Hürsch, der immer »ohne Kopfbedeckung«33 kam, die Fahnen des Hensselschen Manuskripts der Statischen Gedichte in der Hand. Im folgenden Januar, als Hürsch wieder nach Berlin kam, nahm er die Gedichte mit in die Schweiz und leitete damit eine Entwicklung ein, die dem Außenseiter der deutsche Literatur ein nachhaltiges Comeback ermöglichte, das passenderweise außerhalb der Grenzen Deutschlands seinen Anfang nahm.

Benns 60. Geburtstag, »dieser fragwürdige Tag«,34 verlief unspektakulär: Während er Patienten behandelte, kam Max Bauer, der Prophet, mit Maiglöckchen, und Tilly Wedekind ließ einen Strauß Flieder vorbeibringen. Aenne Ullstein brachte gegen Abend ebenfalls Flieder und eine Flasche Kognac für ihren alten Freund. Das schönste Geschenk aber waren die Statischen Gedichte, die Benn zum ersten Mal gedruckt vor sich sah. Spätestens jetzt gab er sein Zögern auf:

 

Ein süddeutscher Verlag schreibt dringendst an mich wegen der Manuscripte, macht mir grosse Avancen, hat Beziehungen zu Schweiz. Soll ich denn nun eigentlich das Interesse von Herrn Claassen als voraussichtlich zu Erfolg führend ansehn? Hat die Veröffentlichung in der »Zeit« neue Reaction – Antireaction – ausgelöst?35

 

Bis auf den hier angesprochenen, am Geburtstag erschienenen Auszug aus Kunst und Drittes Reich in der Zeit und eine Würdigung von Carl Werckshagen in der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung war von öffentlichem Interesse an Benn nichts zu bemerken. Natürlich war ihm aufgefallen, »wie sich manche Künstler in jedem politischen Regime unangefochten halten, während andere z B. ich ebenso bei jedem Regime Schwierigkeiten haben. Es ist kein Zweifel, dass ich hier in Berlin weiter als literarischer Staats- u. Gesellschaftsfeind Nr. I betrachtet u sogar empfunden werde.«36 Möglicherweise lagen die Gründe dafür nicht ganz so einseitig auf Seiten der Öffentlichkeit, sondern genau in jenem Konstrukt, das der scheinbar ins Abseits Gedrängte konstatierte und als Rollenmuster für sich von Kindesbeinen an akzeptierte:37

 

Die literarischen Dinge entwickeln sich, aber ich bin ablehnend u. reserviert, will nicht wieder in Kampf u. Diskussion, habe es satt, will für mich bleiben … ich fühle mich zur Secte der »Unberührbaren« herangewachsen (um diesen indischen Begriff zu verwenden), deren Herz gehärtet u deren Haut gegerbt ist u. deren Blicke mit den Bildern einer nur Wenigen erahnbaren Ferne gefüllt sind.38

 

Als schließlich im Oktober 1947 Johannes Weyl mitteilte, dass Alfred Döblin in seiner Eigenschaft als Chef des literarischen Bureaus der französischen Kulturbehörde einer von ihm geplanten Literaturzeitschrift die Lizenz verweigert habe, da er Benn als Mitarbeiter genannt habe, beschloss er, seine Comeback-Bemühungen einstweilen einzustellen.

Es war eine glückliche Fügung, dass der Zürcher Arche Verlag dem sich mühsam aufrappelnden Benn wieder in den Ring verhalf.39 Im November erreichte ihn der Brief des Schweizer Verlegers, in dem Peter Schifferli anbot, einen Band mit etwa fünfzig Gedichten herauszubringen. Benn willigte ein und stellte Erhard Hürsch ein Manuskript zusammen. Der Band sollte Statische Gedichte heißen, denn »statisch ist ein Begriff, der nicht nur meiner inneren ästhetischen und moralischen Lage, sondern auch der formalen Methode der Gedichte entspricht und in die Richtung des durch Konstruktion beherrschten, in sich ruhenden Materials, besser noch: in die Richtung des Anti-Dynamischen verweisen soll«.40

»Das ist also dann mein Come bak –, wie es abläuft, bleibt abzuwarten.«41 Im Januar 1948 schickte Schifferli den Vertrag, der auch die Rechte für Deutschland mit einschloss,42 und bat darum, die Gedichte Monolog, Clemenceau und 1886 wegzulassen. Ebenfalls auf Schifferlis Streichliste befanden sich St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts und Chopin – »ein Gedicht, das mir besonders am Herzen liegt«.43 Die beiden wurden wieder aufgenommen und mit drei weiteren älteren Gedichten im Mai von Benn in die Korrekturfahnen eingefügt.44 Als er im Sommer im Umbruchexemplar entdeckte, dass nun auch noch Gewisse Lebensabende »wegen ›technischer Schwierigkeiten‹« aus dem Band getilgt worden war, war er über den Mangel an Respekt ihm gegenüber äußerst verärgert.

 

Wenn ich noch wäre wie früher, wenn es noch wäre wie früher, würde ich telegrafisch das ganze Buch stoppen, aber so werde ich es treiben lassen müssen, interessiere mich aber für die Sache nicht mehr u. werde den Band niemandem aushändigen. Auch für das Weitere werde ich Herrn Schifferli nicht mehr in Betracht ziehn.45

 

Am 19. Oktober stand Erhard Hürsch schließlich nach mehr als zweieinhalb Jahren der »Inaugurisation und Vermittlung dieses Bandes«46 mit den ersten zehn Exemplaren vor der Haustür, die Benn bereits tags darauf an Oelze, den Romanisten Ernst Robert Curtius, den Kurier-Feuilletonisten Edwin Montijo (d. i. Erwin Kurt Wiechmann), seinen Uralt-Freund Rudolf Kurtz, Adolf Frisé von der Zeit, Helmut Uhlig vom Bühler-Verlag in Baden-Baden, Fritz Werner, Paul Lüth und Max Niedermayer, den Wiesbadener Verleger, der ab September mit seinem Limes Verlag das Werk Gottfried Benns dreiunddreißig Jahre erfolgreich betreuen sollte, weiterschickte.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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