»Besser catch u can als einschlafen u. katholisch werden«95
Während Benn seinen 60. Geburtstag von der Berliner Öffentlichkeit unbemerkt hatte feiern müssen, veranstaltete Karl Ludwig Skutsch,96 seit 1946 erster Leiter des Kulturamtes Zehlendorf im Haus am Waldsee, anlässlich des 65. immerhin einen Gottfried-Benn-Abend, auch wenn er relativ unspektakulär verlief.
Die Einladung Max Niedermayers, für vier Tage Gast des Verlags in einem Wiesbadener Nobelhotel zu sein, konnte Benn trotz einer lästigen Gelenkentzündung, die ihn am Stock gehen ließ, ebensowenig abschlagen. Ilse, seine Zahnärztin, hatte seine Schmerzen auf eine Herdinfektion eines wurzelgefüllten Zahnes zurückgeführt und diesen kurzerhand herausgezogen. Außerdem hatte Niedermayer im Vorfeld drei Radiotermine ausgemacht, was für Benn bedeutete, dass es viel Geld zu verdienen gab.
Die Benns erreichten am Vormittag des 1. Mai 1951 bei sommerlichem Wetter Wiesbaden und bezogen Zimmer Nr. 123 im Nassauer Hof. Am Nachmittag machten sie einen Besuch im benachbarten Limes Verlag, zum Abendessen ging man wieder ins Hotel, wo Oelzes mittlerweile eingetroffen waren. Am Vormittag des Geburtstages wurde Benn nach Frankfurt chauffiert. Im Hause Heinz Friedrichs erwarteten ihn Alfred Andersch, »schöne Eier, schöner Fleischsalat und eine so spannende Unterhaltung, wie ich sie hier in Berlin kaum je erlebt, und wir wollen den Kafé nicht vergessen, schwarz u. stark!«97 Anschließend las er im Aufnahmestudio des Hessischen Rundfunks Gedichte aus Fragmente. Zum Nachmittagstee begrüßte der
Vater einer Mutter, Mann einer Frau, Autor eines Verlegers, blaue Briefe Schreiber an einen Freund, erinnerungsbeschwerter Zeitgenosse eines Literaturkameraden, Bewunderer aller Frauen, weil sie uns unerträgliche Männer ertragen, Verführer der Jugend, Aussenseiter einer ganzen Generation98
die anwesenden Gäste: Bernard von Brentano und Frau, den Kriegshistoriker und Limes-Autor Helmuth Greiner, den Wiesbadener Buchhändler Hans von Goetz, Tochter Nele, Karl Schwedhelm und Frank Maraun, die am nächsten Vormittag in Benns Hotelzimmer ein Rundfunkgespräch aufzeichneten,99 sowie die Ehepaare Oelze und Niedermayer.
Am Morgen des Abreisetages traf Benn in Mainz Ernst Johann vom Südwestfunk und las »6 Gedichte über den Pessimismus«. Am 5. Mai kehrte Gottfried Benn erschöpft und müde in seine Höhle zurück, wo ihn stapelweise Geburtstagspost erwartete. Darunter befand sich auch ein Glückwunsch Ernst Jüngers. Benn antwortete postwendend, zumal er Jünger in seiner kurzen Geburtstagsrede zitiert hatte:
»von den neuen Bekanntschaften, die ich heute hier gemacht habe, werden nun einige enttäuscht nach Hause gehn und sagen: das hatten wir uns anders vorgestellt, den hatten wir uns anders vorgestellt – ich bedaure das und bitte Sie um Entschuldigung, aber ich erinnere Sie an Ernst Jüngers Beobachtung, Nihilisten sehen immer besonders gesund aus, und ich würde in meiner Art zu formulieren hinzufügen, zerebral bin ich für Fernsehn, aber im übrigen für Landpostboten – der Ausgleich zwischen Äquilibristik und Statik schafft den Artisten.«100
Ernst Jüngers erster Brief aus den zwanziger Jahren, in dem er seiner Bewunderung über die Rönne-Prosa Ausdruck verliehen hatte, war unbeantwortet geblieben. Am 30. November 1949 wagte der zehn Jahre Jüngere einen neuerlichen Versuch und übersandte seinen soeben erschienenen Roman Heliopolis – Rückblick auf eine Stadt:
Zweite Botschaft an Gottfried Benn. Die erste vor dreissig Jahren hat ihn nicht erreicht. Wenn Sie kein Monument darin erblicken, so nehmen Sie es als Marmorbruch. Vielleicht sind auch Fossilien darin.101
So konnte die persönliche Annäherung an den verehrten Dichterkollegen ihren Lauf nehmen, deren Höhepunkt Jüngers Besuch am 16. Mai 1952 war. Beide waren zweimalige Weltkriegsteilnehmer, beide waren, was den literarischen Ehrgeiz anging, mit langem Atem ausgestattet. Beide hatten in den Anfangsjahren der Bundesrepublik spielend die Hürde des »They never come back« genommen. Beide standen sie in der Tradition des europäischen Nihilismus und des Versuchs, ihn zu überwinden. Nahezu ein halbes Jahrhundert waren sie sich aus dem Weg gegangen, obwohl sie zwischen 1927 und 1933 beide in Berlin kaum fünf Kilometer voneinander entfernt wohnten. Nun aber war es so weit:
Die Begrüßung im Halbdunkel war angenehm. Europäische Höflichkeit, fast schon zur zweiten Natur geworden wie bei den Fernöstlichen. Sternzeichen Stier – das konnte ich nicht recht ins Bild bringen und hätte es eher der Gattin zugetraut, ja auf den Kopf zugesagt. Sie stand neben ihm, ich sah im trüben Licht ihr volles ruhiges Gesicht und das dichte, rotbraune Haar, in dem eine eingebleichte Strähne leuchtete. Sie sprach wenig, doch schien es, als ob ihre Gegenwart dem Gespräch eine Dimension zufügte. Solchen Partnern begegnet man, wenn auch selten, und es wäre zu wenig, wenn man sagte, daß sie sich auf die Kunst des Zuhörens verstehen. Ihr Schweigen ist vielmehr der Sprache günstig und gibt ihr Körper wie ein Resonanzboden: durch Mitschwingen. Nun wandte er sich der Küche zu, und ich durfte einen Blick in die Wohnung tun.
Es muß ein fahler Tag gewesen sein – der Ordinationsraum schien mir ziemlich trüb.102
Benns Erinnerung an den »interessanten Besuch« des »berühmtesten Schriftstellers Deutschlands«, dessen »Vorname Ernst«103 ist, fiel deutlich knapper aus: »vor 1 Jahr Jünger«.104 Eine Freundschaft, geschweige denn eine nähere Bekanntschaft, hat sich nicht entwickelt. Die Nähe zu ihm, die ihm das Feuilleton seit Jahren zuschrieb, war Benn immer ein Dorn im Auge: »Übrigens mit Heidegger lasse ich mich gern zusammenstelln, das ist mir eine Ehre im Gegensatz zu dem J.parallelismus.«105
Nach den Geburtstagsfeierlichkeiten in Wiesbaden machte Benn sich sofort an die Fortsetzung der Probleme der Lyrik und schrieb eine beißende Polemik gegen den »Verlust der Mitte«, den Hans Sedlmayr106 so sehr beklagt hatte.
Die Wochen bis zur nächsten längeren Reise nach Marburg und Bad Ems vergingen in relativer Ruhe mit viel Post107 und wenig Besuch.108 Ilse verbrachte die Sommerferien in Bansin an der Ostsee, während Gottfried seinen Vertrag bei der Städtischen Beratungsstelle für Geschlechtskranke erneuerte, »teils weil es ganz gut für die Praxis ist, teils, weil es bezahlt wird«.109
Am 20. August dann saß Gottfried Benn missgelaunt allein im Zug. Es war ein trüber und regnerischer Tag, an dem er durch die nordhessischen Mittelgebirgswälder fuhr: »Reisen Sie durch Deutschland – graue armselige Gestalten, die von der Arbeit kommen oder zur Arbeit gehn, dann steht irgendwo ›Abort‹ …«110 Seit Wochen war er »in einer erheblichen Depression, mehr aus persönlichen Gründen … s. ›Blaue Stunde‹ …«,111 noch vor wenigen Tagen, als er die Zugfahrkarte besorgt hatte, war er am Abend aus der Kneipe gekommen und war auf dem Sofa im Sprechzimmer eingeschlafen. Mit Widerwillen dachte er an den nächsten Tag. Um 17 Uhr sollte er in der Marburger Universität vor die Lehrer und Studenten treten. Es würde sein erster großer Auftritt nach dem Krieg sein, und seine Nervosität, vor die akademische Welt zu treten, wuchs.
Den Vortrag haben einige gelesen und finden ihn nicht schlecht. E. R. Curtius hatte die Gewogenheit, mir zu schreiben: »von A – Z exorbitant!«112
»Meine Herren Professoren, meinen [sic] Damen und Herren«, begann er leise, mit zitternder Stimme und ärgerlicherweise gleich mit einem Versprecher in den überfüllten, ohne Lautsprecheranlage ausgerüsteten Saal des Auditorium maximum hineinzusprechen. Nach der Lesung saß er noch mit Niedermayers und den Herren Professoren Schaeder, Henkel und Schulin zusammen, schrieb Ansichtskarten und gab Autogramme, ehe die Verlegergattin sich gegen 22 Uhr ans Steuer setzte und ihn nach Bad Ems fuhr, wo Benn drei »herrliche«113 Tage verlebte. Von hier aus machte er eine Schiffsfahrt durch das Lahntal, drei Schleusen durchfahrend zu dem Winzerort Obernhof, ehe er am nächsten Tag über Koblenz und Köln wieder nach Hause fuhr.