»Wir wohnen in einer engen Bucht«15
Über Gottfried Benns Kindheit unterrichten uns zwei große Quellen. Zum einen gibt es die ins Werk eingeschriebenen autobiographischen Informationen. Sie sind jedoch hauptsächlich Markierungen auf dem Weg seiner dichterischen Selbstbestimmung, die Fieberkurve eines von ihm selbst als krisenhaft gedeuteten und ebenso skizzierten Verlaufs. Die andere Quelle sind im engeren Sinn dokumentierende Informationen, wenngleich sie in den meisten Fällen natürlich ebenso auf Texten beruhen, die teils in Briefen an Benn, teils in autobiographischen Erinnerungen festgehalten sind.
… Kindheitserde, unendlich geliebtes Land. Dort wuchs ich mit den Dorfjungen auf, sprach platt, lief bis zum November barfuß, lernte in der Dorfschule, wurde mit den Arbeiterjungen zusammen eingesegnet, fuhr auf den Erntewagen in die Felder, auf die Wiesen zum Heuen, hütete die Kühe, pflückte auf den Bäumen die Kirschen und Nüsse, klopfte Flöten aus Weidenruten im Frühjahr, nahm Nester aus. … Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort, ein uralter gemauerter Backofen lag abseits im Garten. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum. Am zweiten Ostermorgen schlugen wir uns mit frischen Reisern wach, Ostaras Wecken, alter heidnischer Brauch; Pfingsten stellten wir Maien vor die Haustür und Kalmus in die Stuben. Dort wuchs ich auf …16
Glaubt man ihm, hat ihn die Sehnsucht nach seiner Kindheit nie verlassen. Aber bereits in den ersten dichterischen Versuchen wird das Idyll als das entlarvt, was es in Wirklichkeit war: der Ort unerträglicher Enge.
wir Schädelblüten:
manchmal blicken wir auf Schilf und Rohr:17
»Meine Jugend ist mir wie ein Schorf«, schrieb der 26-Jährige früh zurückblickend, »eine Wunde darunter«,18 und: »Früher in meinem Dorf wurde jedes Ding nur mit Gott oder dem Tod verknüpft und nie mit einer Irdischkeit.«19 Nie mit einer Irdischkeit! In der Erinnerung verwandelt sich die dörfliche Umgebung in ein zukunftsloses Niemandsland. Sozial war er als Pfarrerssohn zwischen Landarbeiterkindern und der Nachkommenschaft adliger Großgrundbesitzer kaum bis gar nicht verwurzelt, sondern abgehängt und fern einer geistigen Heimat. Den Adelskindern geistig überlegen, war er wie die Kinder der Tagelöhner nahezu mittellos und weit weg von einer vorgezeichneten beruflichen Karriere. Es ließ sich nicht leugnen: Er stammte aus kleinen Verhältnissen, und wie so oft entwickelte sich daraus »ein regelrechter Minderwertigkeitskomplex«.20
So zielbewusst, wie sich Gottfried Benn aus seiner Umgebung herausgewünscht und -bewegt hat, kann er seine Kindheit gar nicht anders als katastrophal erlebt haben.
Wann fing es an? Sehr weit zurück. Denn dunkel war der Garten meiner Jugend, morsch die kleinen Brücken und die Bretter fielen ein. Von Anfang an war alles Schwere da, aller Kummer so von selbst, so vorbereitet war ich früh, daß es galt eine Weile zu bestehen, wo es keine Hoffnung gab.21
Von einem großen Faible fürs Pfarrhäusliche sprach er zu einem jüngeren Pfarrhaussohn Jahrzehnte später.22 Das Religiöse habe seine Jugend ausschließlich bestimmt.23 Vor allem die laut schallenden, täglich wiederkehrenden Rhythmen, Melodien und Worte der Gebete, der Lieder, Ansprachen und Predigten des Vaters durchdrangen ihn und bedrängten ihn auch.
Im Herbst 188724 fuhren die Benns mit all ihrem Hab und Gut durch das flache Land Westpommerns jenseits der Oder gen Osten. Von ferne sahen sie den alles im Dorf überragenden Kirchturm. Die mächtigen, rotbraun belaubten Kastanienbäume bestaunend, kamen sie am Schafstall des Gutshofs vorbei, links der Gutspark und das lang gestreckte Pächterhaus, dann die Auffahrt zum Schloss. Am Ende der Straße, wo sie sich zum Dorfplatz weitet, fand die lange Fahrt ihr Ende. Müde, aber glücklich stiegen sie, Gottfried im Arm haltend, die wenigen Steinstufen hinauf in den Hausflur des einfachen Backsteinhauses und warfen den ersten Blick in ihr neues Zuhause. Links drei Wohnräume, rechts zwei weitere Räume sowie Küche, Speisekammer und Wirtschaftsstube. Von der Gartentreppe und der sich anschließenden Veranda sah man ein Rosenbeet und die große Wiese, dahinter führten drei Brücken über einen Graben zum großen, nach Äpfeln und Birnen duftenden Obst- und Gemüsegarten. Zur Seite des Hauses hin öffnete sich eine Einfahrt zum Wirtschaftshof mit Stall und Scheune, Wagenremise und Dunggrube.
Schon bald zeigte sich, dass Gustav Benn mit der Doppelrolle als Pfarrer und Bauer überfordert war. Die Arbeit auf dem Hof überließ er weitgehend Wirtschaftsleuten, was jedoch zu großen Verlusten führte, so dass er schließlich sein Kirchenland verpachtete. Nicht umsonst und nicht ohne Bitterkeit hatte er auf seinen Schreibtisch das Bild des benachbarten Gutsbesitzers, des Ökonomierats Kretzschmar, gestellt, mit der handschriftlichen Widmung: »Man wird nicht reich durch Erhöhung seiner Einnahmen, sondern durch Verminderung seiner Ausgaben.«
Man lebte ländlich und ganz der Zeit entsprechend. Das Haus wurde mit Petroleum beleuchtet, und an den Betten standen Leuchter und Kerzen. Einmal im Jahr zu Weihnachten wurde geschlachtet, im Sommer und im Herbst gepflückt und geerntet.
Das Wirtschaften auf dem Dorf war für meine Mutter nicht einfach, besonders nachdem wir selbst keine Landwirtschaft mehr hatten. Butter, Milch und Eier bekam sie natürlich bei den Bauern (das Pfund Butter zu einer Mark, den Liter Milch und die Mandel Eier zu 10 Pfennigen), aber z. b. eine Drogerie gab es nicht und auch Fleisch mußte häufig in Bärwalde besorgt werden. Aufschnitt wurde kaum jemals eingekauft. Schinken und Wurst vom eigenen Schlachten reichten eine ganze Weile, im übrigen ging es auch so. … Häufig gab es zum Abend Milchsuppe, im Sommer dicke Milch mit geriebenem Brot und Zucker und rote Grütze mit Milch.25
Das Dach musste ausgebaut werden, »als das Erdgeschoß für die wachsende Zahl der Kinder und Gäste nicht mehr reichte«.26 Anfangs noch zu viert, wuchs nicht nur die Familie kontinuierlich. Neben den Geschwistern nahmen ja auch die Spielkameraden an Geburtstagen und anderen Gelegenheiten, bei »Kuchen u Kaffee u. Versteckspielen im großen Garten«,27 an der Tafel Platz. Einer von ihnen erinnerte sich an die stundenlangen Klettereien in die Wipfel der Obstbäume, bis es dunkel wurde, »wie wir Kinder alle im Hof und Garten uns ausgetobt haben«.28
Knapp dreieinhalb Jahre bis zum Dezember 1889 dauerte es, ehe das nächste Kind, Stephan, geboren war. Zwei Jahre später folgte Theodor, ein weiteres Jahr darauf Siegfried. Stephan sollte der einzige der Söhne sein, der in des Vaters Fußstapfen treten würde. Seine Pfarrstelle in Sellin gab er erst 1927 auf, als er eine andere in der Prenzlauer St. Marien-Gemeinde annahm.29 1932 wurde er Pfarrer der St. Sabinen-Gemeinde, ehe er 1946 Superintendent im uckermärkischen Templin wurde. Stephan, der den Kontakt zu seinem Bruder nie abreißen ließ, starb im Alter von 84 Jahren in Berlin-Zehlendorf.
Wie überall in Ostelbien bestand eine enge Verbindung zwischen dem Pfarrhaus und dem ländlichen Adel, der das Kirchenpatronat innehatte. Als Benn sich 1934 veranlasst fühlte, sein »Ariertum« nachzuweisen, schrieb er:
Ich bin aufgewachsen im Hause der Trossiner Grafen Finckenstein, fünf Söhne,30 war später mit ihnen in Pension,31 bin noch heute mit ihnen, soweit sie nicht im Krieg gefallen sind,32 in engster freundschaftlicher Verbindung … Und alle diese Namen …, könnten Ihnen versichern, wie absolut unjüdisch ich bin und lebe, seien es die Rohr’s oder die Kalckreuth’s, die Lützow’s oder die Pfuel’s (die Letzten), die Schulenburg’s oder die Saldern’s, die Gerlach’s33 oder die Senff[!] von Pilsach’s.34
Dass die Nachkommen der beiden Familienoberhäupter, die die Vorliebe für den sozialdemokratisch gefärbten Protestantismus des Blumhardt-Kreises zusammengeführt hatte, sich über siebzig Jahre letztlich nicht ganz aus den Augen verloren haben, kann als sicheres Indiz gewertet werden, wie eng sie, deren Väter zudem wechselseitig die Patenschaften der Sprösslinge übernommen haben, ihre Kindheit miteinander verbracht haben.
Aber die Freundschaft hielt sich in Grenzen. Der jüngste der Finckensteins, Ulrich, besuchte Benn zwar noch Ende 1954 in Berlin, doch der schrieb spöttisch:
Gestern tauchte einer der Finckensteins bei mir auf … Seit 45 nichts mehr von ihnen gehört; hausen jetzt in Friesland alle zusammen als Förster, Bauern, Tischler, Gutsbesitzer. Lesen keine Zeitung u kein Buch (taten sie nie), hören kein Radio, rauchen nicht, klucken zusammen u. – erzählen Familiengeschichten.35
»Mit sieben Jahren war ich so dumm«, schrieb er seiner Tochter, »dass mein Vater, der mich unterrichtete, sagte, du bist so unbegabt, du kannst nichtmal Tischler werden.«36 Außer dem Patriarchen, der ein strenges Regiment führte, und der geliebten Mutter, die »die deutsche Sprache immer mit Akzent sprach«,37 gab es, ehe er 1897 aufs Gymnasium kam, natürlich weitere Lehrer und Erzieher, so eine Vikarsfrau, deren Namen wir nicht kennen.38 Vielleicht ist sie die junge Frau, die inmitten einer Bennschen Familienfotografie auf der Treppe vor dem Haus mit ernsten Augen in die Kamera blickt. Vielleicht ist der Vikar, von dem die Rede ist, der junge vollbärtige Herr mit der Fliege, der auf der rückseitigen Beschriftung der Klassenfotos als »H. Collmann« bezeichnet wird. Dass die Benn-Kinder darüber hinaus von Hauslehrern im Schloss des Trossiner Grafen unterrichtet wurden, ist wahrscheinlich. Und dann gab es noch jenen »Herrn Wehner«, der bis 1898 bei den Benns gewesen sein muss:39
Dies ist meiner
dieser Herr Wehner
der bei uns Hauslehrer war
früh an Lungenphtise verschied
nachdem er meinen jüngsten Bruder angesteckt hatte,
der starb an meningitis tuberkulosa.40
Schwangerschaften und Geburten waren für Gottfried die Normalität. Bisher waren entweder seine Mutter oder die Gräfin Ulrike oder beide gemeinsam in anderen Umständen. Der Tod des Bruders in seinen ersten Osterferien war eine Zäsur. Vielleicht war es das erste Mal, dass für ihn eine Welt zusammenbrach.