»Größtenteils ist es Rache«15
Im Oktober 1911 kam Unterarzt Benn noch einmal zur Kaiser-Wilhelms-Akademie zurück und erhielt zur Prüfungsvorbereitung, um Lücken aufzufüllen und die Kenntnisse zu vertiefen, in einigen Fächern besonderen Unterricht, und zwar in Augenheilkunde, Geburtshilfe und – was der Geschichte des Expressionismus eine besondere Wendung geben sollte – einen Kurs bei Professor Karl Benda über pathologische Anatomie. Benn wohnte damals in Moabit, im zweiten Stock der Spenerstraße 4, zur Untermiete bei der im Ruhestand befindlichen Luise Rau. Er
… hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskurs gehabt. Es war ein Zyklus von sechs Gedichten, die alle in der gleichen Stunde aufstiegen, sich heraufwarfen, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall.16
Über die Entstehung der Morgue, dieses epochemachenden Gedichtzyklus, gibt es noch einen zweiten, sehr viel früheren Bericht Benns. Er lässt den halluzinativ erlebten Entstehungsprozess etwas weniger geheimnisvoll aussehen, indem er ihn an reale Bedingungen knüpft, die von starken Affekten bestimmt sind.
Was ihre Entstehung angeht, so …. lieber Königsmann, ich habe mir eben lange überlegt, was ich darüber schreiben soll. Es wäre soviel, daß es sich nicht so bald abmachen ließe. … Nur dies: größtenteils ist es Rache. Mich haben ja die Naturwissenschaften u die Medizin innerlich total ruiniert. Ich lebe ja schon jahrelang visàvis de rien. Suspendierter Tod. Hart an den verschiedensten Abgründen.17
Größtenteils war es Rache. An den Naturwissenschaften? Der Medizin? Oder vielleicht doch an den Verlegern, die bislang noch keinen Gedichtband von ihm gedruckt hatten? An seinem Lehrer und Chef in der psychiatrischen Abteilung, Theodor Ziehen, der ihn wegen unzureichender Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hatte? An den »Spießern, Familienvätern, Oberfeldärzten u. ähnlichen Kanaken«,18 die sich in ihrer Ruhe gestört fühlten? Oder am Vater, der ihm nicht erlaubte, das Leid der Mutter zu lindern?
Seit Februar lag, nein, saß seine 54-jährige Mutter im Sterben. Sie hatte Metastasen nicht nur in den Lungen, sondern im ganzen Körper, und bekam kaum noch Luft. Sie konnte nur noch in einer bestimmten Stellung sitzen. Einmal war sie operiert worden, ein zweites Mal lehnte sie ab, »da es zu teuer war u sie das nicht für sich ausgeben wollte oder konnte bei 7 Kindern«.19 »Wie er den Vater haßte … Sie rief ihren Sohn zu sich: Gottfried, du bist jetzt Arzt, du musst mir helfen. Er konnte nicht helfen, und er durfte nicht lindern. Das Übel ist uns von Gott geschickt, erklärte Pfarrer Benn, wir müssen es ertragen.«20
Es war der traurigste Winter, den Gottfried Benn bis dahin verlebt hatte. Am 24. Februar trat er als Kandidat der Medizin im geliehenen Frack vor die Prüfungskommission. Mit gutem Ergebnis erhielt er die Approbation als Arzt, hatte somit die Zulassungsbestimmungen für die Promotion erfüllt und nahm zwei Tage später, da die Dissertationsschrift bereits angenommen war, sein Doktordiplom in Empfang.
Und die Zeit drängte! Bis Ende März musste er seine literarischen Dinge in Berlin erledigt haben. In diesen Wochen überschlugen sich die Ereignisse: Herwarth Walden, der mittlerweile seine Sturm-Galerie gegründet hatte, zeigte zur Eröffnung in der Glinka Villa in der Tiergartenstraße die Ausstellung »Der Blaue Reiter«, die im Jahr zuvor in München für Furore gesorgt hatte.
Als im April an selber Stelle die erste große Futuristenausstellung mit Werken Boccionis, Carràs, Severinis und Russolos eröffnet wurde, hatte der Dichter der Morgue sich bereits bei seinem Regiment in Prenzlau gemeldet, und während Filippo Tommaso Marinetti im Cabriolet durch Berlin fuhr und massenhaft futuristische Flugblätter verteilte, trat Benn den Dienst als Unterarzt bei seiner Truppe an, um auf den Kartoffeläckern der Uckermark bei den Regimentsübungen mitzumarschieren und auf dem Truppenübungsplatz in der Döberitzer Heide im Havelland »beim Stab des Divisionskommandeurs im englischen Trab über die Kiefernhügel«21 zu setzen.
Benns Gespür für die Einzigartigkeit und den epochemachenden Charakter der Morgue-Gedichte war längst nicht so ausgeprägt, wie er später vorgab. Ganz im Gegenteil: Als er dem befreundeten Redakteur der Täglichen Rundschau Adolf Petrenz ein Konvolut seiner Arbeiten in die Hand drückte, hielt er »andere Sachen für viel persönlicher, spezifischer für mich, mit viel mehr Energie und Arbeit hinter«.22 Petrenz, wie Benn Pfarrerssohn und Lyriker, gab das Konvolut dann A. R. Meyer, dem Entdecker und Herausgeber Heinrich Lautensacks und Paul Zechs und Verleger der legendär gewordenen Lyrischen Flugblätter. Benn hatte seine Prosatexte im Sinn, als er dies an seinem 26. Geburtstag dem Freund Koenigsmann mitteilte. In demselben Brief schrieb er:
Jenseits von gut u. böse ist ja ein dummes Litteratenwort. Primanerweisheit. Aber jenseits von Krebs und Syphilis u. Herzschlag u. Ersticken, so nun unsereins doch lebt, das ist nicht von Pappe.23
Gleichzeitig bilden diese Worte den Auftakt zu dem 1913 erschienenen Prosatext Heinrich Mann. Ein Untergang, dessen Entstehung also ins Jahr 1912 zurückreicht und der damit auch dem unmittelbaren Eindruck der Krankheit und des Sterbens der Mutter geschuldet ist.
Sein Manuskript konnte Benn noch loswerden, doch die Mutter beim Sterben begleiten durfte er nicht. Am 1. April meldete sich Gottfried mit Schulden im Gepäck und einem noch nicht bezahlten Koffer in der Hand im einhundert Kilometer nördlich von Berlin gelegenen Prenzlau bei seiner Truppe. In Prenzlau »war ich, als meine Mutter starb, u war sehr traurig«.24 Der Todeskampf, bei dem der Sohn sie anfangs noch begleitet hatte, zog sich hin bis zum Dienstag nach Ostern, dem 9. April 1912. »Sie starb den schwersten Tod, den ich gesehen habe.«25 Einsam und verwaist fühlte er sich auf der Reise nach Mohrin, als »die über alles zärtliche und treue Mutter« fern der Heimat »in der Erde Norddeutschlands«26 beigesetzt wurde.
Wenn es auch schließlich nur das war, daß sie manchmal sagte, man sollte sich neue Nachthemden kaufen, oder sie einem neue Strümpfe schickte, es war doch jedenfalls Liebe, die nichtmal Dank erwartete und glücklich war über jedes gute Wort. Und die eben da war, wenn man sie brauchte.27
34 Jahre lang hatte sie in Deutschland gelebt, aber nie ihren Akzent verloren; von ihr hatte er die alpin untersetzte, pyknische Statur und sein Introvertiertsein geerbt. Von Geburt »rein romanische Rasse«, so wollte er glauben, war sie verantwortlich für seine »Melancholie«.28 Sie war es auch, die ihn im Sommer, wenn er bei ihr im Garten saß und Kaffee trank, liebevoll ermahnte: »Du wirst mit deiner schaurigen Begriffswelt unser Levkoienbeet vernichten.«29 Eben »irdisch, allem Lebendigen nah, die Gärten, die Felder säend und gießend: Ackerbautyp, Phalbürgertyp, mit dem realen Sein von Lächeln und Tränen«.30
Ein Jahr nach ihrem Tod dichtete er:
Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.31