Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,
Und was die Mitte bringt, ist offenbar
Das, was zu Ende bleibt und anfangs war.54
Nachdem Gottfried Benn die Feierlichkeiten überstanden hatte, waren auch der Frühling und die Wärme endgültig angekommen. Sein Konto war trotz der immensen Ausgaben für den Geburtstag dank des Geldes des Bundespräsidenten leidlich gefüllt, und er leistete sich einen Frühlingsmantel. Allmählich musste ja auch jener saturnische Transit, von dem sein »Prophet« Maximilian Bauer – Ilse »verachtet[e] ihn als Charlatanu Grossmaul«55 – gesprochen hatte, sich wieder freundlicher gesinnt zeigen; ab dem kommenden November sollte er, so Bauer, aus dem sechsten, Benns Krankheitshaus, herauskommen. »Sie sollten Ihrer Gesundheit dienen, denn das Leben geht ja noch weiter.«56
Ich möchte nun gerne verreisen, weiss aber absolut nicht wohin. Kommt mir auch alles so erschreckend anstrengend vor. Ich fürchte, ich kann nur noch in meinem Hinterzimmer mich hinbringen, die vielen schlimmen u die ganz wenigen einigermassen erträglichen Stunden.57
Erneut mussten die Reisepläne hintangestellt werden. Die Schmerzen in Benns Schulter, die er immer noch für Rheumaschmerzen hielt und mit den synthetischen Opiaten Eukodal und Polamidon sowie einem Heizkissen behandelte, wurden immer schlimmer und fesselten ihn zeitweise ans Bett. In seiner Verzweiflung ließ er sich einen Masseur, der insgesamt fünfmal zu ihm kam, empfehlen: »dass es so was Brutales gibt, ahnte ich nicht, der riss mich auseinander, fuhr wie ein Trecker über den Rücken hin u her, bis jetzt merke ich noch keine Besserung, aber im Prinzip ist es wohl richtig.«58 Schließlich erkundigte sich Benn nach Hotels im Heilbad Schlangenbad, ließ von Ilse Zahnwurzelbehandlungen über sich ergehen und einen Backenzahn ziehen. Schließlich verabschiedete er sich von Ursula Ziebarth, brachte ihr eine Reihe von Büchern und ging ein letztes Mal mit ihr ins Restaurant Fournes, während Ilse die Karten für den Flug nach Frankfurt abholte.
Am 4. Juni fuhr Lilo Niedermayer Ilse und den von Schmerzen gepeinigten Gottfried Benn mit dem Auto durch die sommerlichen Felder des Taunus ins nicht ganz neue, aber immerhin mit Aufzug ausgestattete Staatliche Kurhotel nach Schlangenbad. »Das Beste am Platze, furchtbar teuer, aber die Bäder im Haus. Kämpfe um mein Leben, bin ganz desolat.«59 Die Benns bewohnten das rückwärtig gelegene Doppelzimmer Nr. 14 mit Balkon, Blick auf den Wald und Klingelknöpfen im Zimmer, wo er bald den Badefriseur kennenlernte, der schon den todkranken Klabund in seinem Schweizer Luftkurort rasiert hatte.60
Als ich halbtot vor Schmerzen hier ankam, warf ich mich aufs Bett, bat einen Badearzt zu mir, ein sehr netter, sympathischer Mann, der sagte: »Lieber Freund, Sie sind hier fehl am Platz. Sie sind 4 Wochen zu früh gekommen, völlig ausgeschlossen, bei einem so akuten schweren Anfall von Rheuma und Neuritis und so hoher Blutsenkung irgendeine balneologische Maßnahme zu ergreifen, würde die Sache nur verschlimmern. Sie bleiben fest im Bett liegen und bekommen jeden Tag eine Spritze Irgapyrin von mir.« So geschah es. Habe jetzt 7 Spritzen ohne eine leiseste Besserung, die Schmerzen sind enorm. Esse im Bett, da ich im Restaurant gar nicht sitzen kann, war noch keinen Schritt aus dem Bett. Dazu das Wetter. Regen, Nebel, Kälte. Eine ganz desolate Lage.61
Ein paar Mal wurden vormittags zehnminütige, 37° C warme Vollbäder verabreicht. Ilse musste täglich in der Apotheke Rezepte einlösen, die entweder vom behandelnden Kurarzt Dr. Fromme über Kortison und Testoviron-, Irgapyrin- und Vipericin-Ampullen ausgestellt waren, oder solche, in denen er selbst sich Schlaftabletten verordnet hatte: »Ich warte noch eine Woche, dann werfe ich mich vor einen der grossen Reiseomnibusse.«62 Im Abend ließ derweil Paul A. Otte verbreiten, dass Berlins berühmtester Lyriker zur Kur in Schlangenbad sei. Das Rheuma plage ihn. »Was sagt er dazu? ›Jung bleibt, wer sich ans Altern gewöhnt!‹«63 An Benns desolater Lage änderte sich gar nichts. Nach etwas mehr als drei Wochen, am 27. Juni, verließen die Benns den Rheuma-Kurort. Der Kampf um sein Leben war verloren.
Wenige Tage nur dauerte es, in denen Gottfried Benn gelegentlich das Bett verlassen und im Bademantel auf der Couch für eine halbe Stunde Besuch empfangen konnte. Dann hatte sich sein Zustand so sehr verschlechtert, dass er am 4. Juli in die Orthopädische Universitätsklinik der Freien Universität Berlin, ins Oskar-Helene-Heim, verlegt werden musste. Vier Männer des Krankentransportdienstes August Merten mussten ihn dabei aufgrund einer beginnenden Beinlähmung stützen. Im Anschluss gemachte Schichtaufnahmen der Brustwirbelsäule bestätigten dann erstmals die Malignität der Erkrankung, die alle befürchtet hatten. Zwei Wirbelkörper waren teilweise zerstört, was die enormen Rückenschmerzen erklärte. Aussagen der behandelnden Ärzte zufolge hätte Benn höchstens noch ein halbes Jahr zu leben. Doch bereits in der Nacht zum 7. Juli wurde offenkundig, dass die letzten Stunden angebrochen waren. Vor dreißig Jahren hatte er in einem Pyrenäendorf vor einer Sonnenuhr gestanden und auf ihrem großen Ziffernblatt einen lateinischen Spruch gelesen: vulnerant omnes, ultima necat: Alle verwunden, die letzte tötet.64 Ilse blieb allein bei Gottfried.
Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. Sie entführen. Der körperliche Blick reicht nur über den Platz bis an die Burgen, – aber die Trauer reicht weiter, tief in die Ebene hinein, über die Wälder, die leeren Hügel, in den Abend, das Imaginäre, sie wird nicht mehr heimkehren, dort verweilt sie, sie sucht etwas, doch es ist zerfallen, und dann muß sie Abschied nehmen unter dem Licht zerbrochener Himmel – –, diese aber entführen, führen weit und führen heim.65
Etwa zwei Stunden nachdem die Sonne aufgegangen war, trat um acht Uhr fünf der Tod ein. Die Todesnacht hatte er bei vollem Bewusstsein durchlitten. Ilse anschauend, hielt er zuletzt ihre Hand. In Bernard von Brentanos Theodor Chindler hatte er das ihn bewegende Zitat aus den Liebeselegien Tibulls gelesen und auf den Umschlag seines für Ilse bestimmten Testaments geschrieben – Te spectem, suprema mihi cum venerit hora, te teneam moriens deficiente manu.66