»Meine Hand ernährt mich und das Licht beginnt«3

 
 

Als Gottfried Benn am Samstag, dem 10. November 1917, im ersten Stock der Belle-Alliance-Straße 12, Berlin SW 61, in Kreuzberg seine kreisärztlich angemeldete Spezialpraxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten eröffnete, wurde noch an allen Fronten eines ihn krank machenden Krieges gekämpft. Im dritten Jahr kriegsuntüchtig geworden, »negativ verendet, nur als Schnittpunkt bejaht«,4 war er aus Gründen, die wir nicht genau kennen, aus der Armee entlassen und nach Berlin zurückgeschickt worden. Welch unglaubliches Glück!

Das Kriegsjahr 1917 hatte die russische Regierung stürzen sehen; Lenin war aus der Schweiz zurückgekehrt, hatte zusammen mit den Bolschewiki die Macht übernommen und ein Dekret über die Kriegsbeendigung verfassen lassen. Seit April befanden sich die USA mit Deutschland im Krieg. Im Westen starben die Soldaten in endlosen Materialschlachten und verbissen geführten Grabenkämpfen. Zu Hause starben die Menschen reihenweise an Unterernährung. Den heimkehrenden Invaliden war das Leid nicht nur an ihren traurigen Gesichtern, sondern auch an den massenhaft auftretenden Prothesen abzulesen.

Das Ecke Yorckstraße gelegene dreistöckige Mietshaus mit der im Erdgeschoss befindlichen »Belle-Alliance-Apotheke zum weißen Hirsch« gehörte dem Apotheker Ludwig Gerson. Benn war am 1. November in seine neue Wohnung gezogen, als der Kaiser Flaggen und Viktoriaschießen befahl, weil das deutsche Heer dem italienischen eine schwere Niederlage zugefügt hatte. Seit wenigen Tagen war er wieder in Berlin gemeldet und bei der Suche nach einer geeigneten Praxis fündig geworden, »die auf einen freien belebten Platz ging«.5 Hier fühlte er sich wohl, wollte »nirgends anders wohnen«6 als in der im östlichen Flügel des Hauses gelegenen Vier-Zimmer-Wohnung, den mit Flügeltüren verbundenen Warte-, Sprech- und Wohnzimmern mit Blick auf die Häuserfronten der Belle-Alliance- und der kreuzenden Gneisenaustraße, »mit Gaslaternen, mit Abzugsrohr, mit Lüftungsklappe«,7 wo »in den Vormittagsstunden die Sonne brandrot und langsam sich erhebt«,8 und dem Schlafzimmer und der Küche mit Blick zum Hof. In der Diele standen altmodische und kleinbürgerliche Möbel. Das Wartezimmer war »für unbekannte Patienten«9 bestimmt. An den Wänden hingen (leihweise) ein Kupferstich von George Grosz, später Pferde-Postkarten von Renée Sintenis und »ein von Strahlen umgebener Ritter, den gut und gern eine Mischung von Melchior Lechter und Fidus gemalt haben könnte«.10 Im Herrenzimmer »mit den altmodischen, roten, kleinen Salonplüschmöbeln«,11 der Wanduhr, dem Smyrna-Teppich und »vielen Büchern an allen Wänden«12 und im Bücherschrank, wo die Bücher mit bibliophilem Wert untergebracht waren, nahmen Bekannte Platz, bis sie ins Sprechzimmer gerufen oder, sofern ihr Besuch privat war, vom Hausherrn persönlich mit Kaffee und Kuchen bewirtet wurden.

Von Kino- und Theaterbesuchen einmal abgesehen saß er abends, fast immer von acht bis zehn, im Schummerlicht des nur wenige Schritte entfernten »Reichskanzlers«, manchmal mit Künstlerfreunden, meist allein, trank ein, zwei Gläser Bier und kehrte zurück in seine Wohnung, wo ihn niemand erwartete. Er war kein Modearzt wie die Konkurrenten am Kurfürstendamm, gab weder rauschende Feste, noch galt er als Salonlöwe.

 

In den Hof ergoß sich ein Musikcafé, das belauschte ich oft, entführende Weisen. Manchmal, wenn ich nachts in mein Schlafzimmer trat, ertönte die Musik. Ich öffnete das Fenster, ich löschte das Licht. Ich stand und atmete den Laut.13

 

Im Erdgeschoss, Eingang Yorckstraße, war ein Bierlokal mit Vorgarten,14 direkt unter der Wohnung ein Zigarrenladen. Seine Hausnachbarn waren Rechtsanwälte, Ärzte, Postboten, Schuhmacher oder Buchbinder.

»Er arbeitete tagsüber, doch abends gegen 5 Uhr stand er in einem Fenster seiner Wohnung, die er dunkel hinter sich ließ …«15 Tagsüber trieb Benn bei Edmund Lesser, den er noch aus dem Studium kannte, in der Dermatologischen Abteilung der Charité seine Facharztausbildung voran.16 Spätnachmittags kehrte er in seine Praxiswohnung zurück und hielt von fünf bis sieben – sonntags von zehn bis elf – seine Sprechstunden ab. Als Benn die Praxis eröffnete, gab es in Berlin zwischen fünfzig- und sechzigtausend Prostituierte. Beinahe einhunderttausend Menschen waren geschlechtskrank. Erst im Laufe der zwanziger Jahre, nach der Erfindung des Salvarsans, sank die Zahl der Kranken auffallend. »In dieser Stadt, wo er nichts war, wo er kämpfte ein Nichts mit anderen Nichtsen um Brot, Kleidung, um einen Trambahnplatz«,17 wagte er also einen Neubeginn.

»Es ist nicht zufällig, daß er gerade Spezialist für Haut- und Geschlechtskrankheiten geworden ist«, sprach der im Osten der Stadt niedergelassene Nervenarzt Dr. med. Alfred Döblin, als er seinen Kollegen anlässlich einer Dichterlesung im April 1932 vorzustellen hatte. »Hier an dem Ort der Sünde, des Altreligiösen hat er, der Abtrünnige, sich angesiedelt und das ist der richtige Ort für ihn … Der Abgefallene steht noch durch den Abfall mit seinem Glauben in Zusammenhang. Er steht nicht jenseits.«18

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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