»Salue und Chapeau«27
Siegfried, Theodor und Stephan, die Gottfried während des Studiums nur noch in den Ferien und an Feiertagen sah, gingen mittlerweile aufs Gymnasium und wohnten wie er auch in der Schülerpension der Agnes Leonhard. In diesem Herbst 1903 bekamen sie einen neuen Mitbewohner. Es war der 16-jährige Alfred Henschke, ein »entsetzlich hagerer Junge mit großem Kopf und klugen, blauen bebrillten, glänzenden großen Augen«,28 der vom Real-Progymnasium in Crossen auf das Frankfurter Friedrichs-Gymnasium gewechselt war.
Stephan und der dichterisch talentierte Neuling, der sich später Klabund nannte, schlossen Freundschaft. Vom Pastor Benn weiß Klabunds Biograph zu berichten, er »sei ein Ekel gewesen. ›Wenn der in die Pension kam und nach seinen Bengels sah, dann waren wir immer in der Angst, das Abendbrot könne nicht reichen. Was der an Kieler Sprotten verzehrte!‹«29 Die beiden angehenden Dichter sollten sich bald darauf bei einem Geburtstag Stephans kennenlernen. Alfred habe dem aus Berlin angereisten Gottfried Gedichte vorgelesen, über die sich der Ältere anerkennend geäußert habe. Freundschaft hat er damals mit dem »Jungen, der nach außen hin frisch, witzig und lebhaft war, aber im Inneren sinnend und nachdenklich«, nicht geschlossen. Bis zu Klabunds Tod – er starb 1928 an den Folgen einer nie ausgeheilten Tuberkulose – sind sie sich jedoch immer wieder begegnet.
Klabund – ich kam oft zu ihm während seiner Krankheit. Saß lange bei ihm. Ein armer Mensch – seine Ehe mit Carola Neher war auch problematisch, die schöne Frau war überall – nur selten bei ihm – Liebe, ein ungeklärtes Gebiet.30
Wahrscheinlich sind sie sich in den Sommermonaten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nähergekommen, als Gottfried Benn zeitweise in Schwabing in der Kaulbachstraße wohnte. Diese Begegnungen haben Klabund tief beeindruckt. In seinem 1916 erschienenen Gedichtband Die Himmelsleiter widmete er »dem Doktor B.«, den er für den einzig Bleibenden der modernen Lyrik hielt, das Gedicht Die Brüderschaft:31 »Lehre mich das blanke Messer führen«, rief er ihm zu, »Komm und reich mir deine harten Hände«. Als Benns Gesammelte Schriften erschienen, überreichte er Klabund im Februar 1923 ein Exemplar:
nehmen Sie jene Verse
Reime, Strophen, Gedichte,
die unsere Jugend erhellten
und man vergaß sie dann nicht,
nehmen Sie von den Wesen,
die man liebte und so,
jenen Hauch des Erlöschens
und dann salue und Chapeau –32
Im Sommer 1924, kurz nachdem Klabund seine zweite Frau, die Schauspielerin Carola Neher, in einer Münchner Straßenbahn kennengelernt hatte, war er zu Besuch in Berlin. Telegraphisch hatte er sich angekündigt und dabei dringend um eine »Sublimatlösung gegen Filzläuse« gebeten.33 Ein knappes Jahr nach ihrer Heirat sahen die beiden Benn mehrmals: einmal im Juli aus Paris kommend, ein anderes Mal im September vor einer Reise nach Davos. Im Oktober wurde Klabunds Theaterstück Der Kreidekreis unter der Regie von Max Reinhardt am Deutschen Theater aufgeführt. »Heute ist Première von Klabund. Im Auftrage seiner Frau schickte ich ihm einen ganzen Chrysanthemenstrauss ins Theater.«34 Benn machte sich Sorgen um den Freund und berichtete der gemeinsamen Schauspieler-Freundin Ernestine Costa, die mit seinem Freund Rudolf Kurtz liiert war, von der als schwarze, hübsche Menschenfresserin geltenden Kollegin: »Ich glaube, sie ist eine rasend nervöse u. launische Frau, die dem Mann das Leben zur Hölle machen kann.«35
Im Sommer 1926, »d. h. seit dem 1. vi u. noch bis zum 6. vii haben Herr u Frau Klabund meine Privatwohnung gemietet. Sie spielt ja hier u. entschieden mit Erfolg. Doch bemerken wir nicht viel von einander.«36 Viktor Barnowsky hatte Carola Neher nach Berlin geholt, wo sie an dessen Theater in der Königgrätzer Straße in Noel Cowards Komödie Gefallene Engel Premiere hatte.
Benns Verhältnis zu Klabund war nicht ungetrübt; er reagierte gereizt, ja neidisch auf dessen rastlose Produktivität und seine Theatererfolge: »Ich wollte, ich wäre so fingerfertig wie Klabund, der ja heute Abend schon wieder einen ›Kromwell‹ im Lessingtheater hervorkarnickelt.«37 Vielleicht war die Stimmung zwischen den beiden auch durch Eifersüchteleien getrübt, jedenfalls wusste Klabund um Benns Ruf als Frauenheld.38
Am 30. Mai 1928 sahen sich Benn und Klabund zum letzten Mal. Klabund machte sich mit seiner Frau von Benns Wohnung aus auf den Weg nach Brioni. Am 14. August starb er, »der Sommer gebrochen, doch die Erde noch warm; die klare Luft der Höhe, der Berge zwar noch umblaut, doch schon ummahnt; süßer das Licht, prüfender der Flug der Schwalben, überschrittene zögernde Seligkeit, mit der sich seine letzten Blicke füllten.«39 Er starb in Davos an den Folgen der Lungentuberkulose, die ihn von Kindesalter an behindert und gequält hatte. Er wurde am 9. September in einem Ehrengrab seiner Heimatstadt Krossen beigesetzt. Benn hielt vor der Familie und den zahlreich aus Berlin angereisten Bekannten »aus der Heimat der Bohème, dem Romanischen Café«, die Grabrede »in die große Stille des Friedhofs hinein, in dessen Zypressen ein leichter Wind wehte«.40
Unser Freund hier suchte nach Göttern in allem Ton. Nichts konnte ihn beirren in der Freiheit dieses Drangs. Und wenn ich an seine Urne etwas zu schreiben hätte, wäre es ein Satz aus einem der großen Romane von Joseph Conrad, über die ich oft in der letzten Zeit mit dem Verstorbenen sprach. Ein Wort, das die Verirrungen des Menschenherzens und der Menschheitsgeschichte raunend erhellt: »dem Traum folgen und nochmals dem Traum folgen und so ewig − usque ad finem.« Mit diesem Satz nehme ich Abschied von unserer fünfundzwanzigjährigen Freundschaft und im Raunen dieses Satzes ruhe ewig Klabund.41