»Kinder werden groß u. kosten viel Geld«3
Nachdem das Desaster um die Gesammelten Schriften Anfang 1923 seinen halbwegs versöhnlichen Abschluss gefunden hatte, galt Gottfried Benn in Fachkreisen immerhin als »der konsequenteste Neuformer«,4 und Oskar Loerke war sich sicher, dass sich Benns jüngsten Gedichten gegenüber nicht viel »Ebenbürtiges aus den Publikationen der Gegenwart zusammenlesen«5 ließe. Im jungen, vom Ullstein-Imperium gegründeten Propyläen-Verlag erschien die Anthologie Verse der Lebenden, in der Benn als »stärkster Gestalter der Gefühlsgruppe« gepriesen wurde.6 Max Krell und Arno Schirokauer feierten den Prosaisten und Lyriker als Deutschlands Repräsentanten der Weltliteratur der Gegenwart. Aus seinen Schriften spreche der »Haß auf den eingefressenen Begriff, der die Faulheit des Denkens liebend beibehielt«.7 Er selbst werde »zu einem metaphysischen Element, das den Realitäten ihre Farbe und Sprache heftig und unbekümmert entreißt, Diesseitiges und Jenseitiges zu unerhörten Expressionen ausstößt, zerbricht und neuformt«.8
Auch Neles Leben begann sich nach dem Tod der Mutter zu stabilisieren. Die ersten Monate verbrachte sie im Pfarrhaus bei Benns Bruder Stephan, der mittlerweile in Sellin die Nachfolge des Vaters angetreten hatte. Nele schrieb:
Im Frühjahr 1923 aber wurde die Zahl der Kilometer zwischen meinem Vater und mir bedeutend größer. Eines schönen Tages im Monat April reiste ich mit einer dänischen Dame, Frau Ellen Overgaard, nach Kopenhagen. Ich war schnellstens aus Sellin geholt worden, und mein Vater winkte froh, als wir uns auf dem Bahnsteig in Berlin von ihm verabschiedeten.9
Gottfried Benn hatte also seine siebenjährige Tochter in den D-Zug nach Kopenhagen gesetzt, wo sie bei einer Bekannten seiner verstorbenen Frau leben sollte. Nach Ediths Beerdigung hatte er die 41-jährige, häufig in deutschen Städten gastierende Sopranistin, die selbst kinderlos mit dem damaligen Direktor der größten dänischen Schiffswerft, Christen Overgaard, verheiratet war, auf der Rückfahrt von Jena nach Berlin kennengelernt. Einige Gedichte, etwa Die Dänin10 oder Wie lange noch,11 zeugen von Benns »Sache mit Frau O«,12 die dann im Laufe der Jahre von der Geliebten zur »Vicemutter« Neles wurde.
Unter all den Frauen, denen Benn in den folgenden Jahren näherkommen sollte, hatte Ellen Overgaard eine Sonderstellung. Aufgrund der großen Entfernung sahen sie sich selten, was den unschätzbaren Vorteil hatte, dass sie seinen anderen Liebschaften in Berlin nicht im Weg stand. Manchmal kam sie nur für einen Tag: »Darauf freue ich mich wirklich sehr. Sie ist wirklich hors de concours, dictiert ein Viertel meines Lebens!«13 Schließlich war von ihr nur noch als »Tante Ellen« die Rede, ehe Nele ihm im Oktober 1946 mitteilte, dass die »Dänin« gestorben war.
Diese Nachricht hat mich natürlich sehr bewegt, die alten Jahre kamen in meine Erinnerung, − schwere Jahre für Dich und auch für mich. Schön, dass sie in Huissels ruht, im Frieden der Felder und des Fjords, sie hatte ein unruhiges Herz u hat viel durchgemacht, Du musst ihr alles verzeihen, was Dir an ihr schwer war. An Onkel Christen werde ich schreiben.
Du wirst es mir nicht verdenken, dass ich ihr den schönen Ring von Mami gab; es war abgemacht, dass Du ihn dann bekommen solltest, diesen Ring liebte ich an Mamis Hand so sehr, einer der schönsten Ringe, die ich kannte.
Ich bin froh, dass Du die letzten Stunden bei ihr warst, sie liebte Dich sehr u. wir verdanken ihr doch einen grossen Teil Deines Lebensglückes.14
Während ihr Bruder Andreas, genannt Butzi, das Internat in Niesky in der Oberlausitz besuchte, blieb das hübsche kleine Mädchen mit den langen geflochtenen Zöpfen für immer bei ihren Pflegeeltern. Wie die Schwester hing Andreas an seinem Stiefvater, der ihn jedoch kaum mehr als finanziell unterstützte. Kam Andreas zu Besuch nach Berlin, gingen sie zusammen ins Theater, und als er erkrankte, konnte er in einer Lungenheilstätte untergebracht werden, ehe er im Sommer 1930 starb. Nele bekam vom Vater »die ganze Weltliteratur«15 und die Halbmonatsschrift Der heitere Fridolin für Sport, Spiel, Spaß und Abenteuer zugeschickt. Schließlich wurde sie selbst Dänin.
In den Ferien, manchmal sogar mehrmals im Jahr, besuchten die Kinder den Vater und waren ihm »Verpflichtungen«, denen er sich nicht entziehen konnte. »Nele u. Andreas sind augenblicklich bei ihrem Papi zu Besuch«,16 was ihn »immer mit einer solchen Fülle aus Anforderungen, widerstreitender Gefühle u. Vorstellungen von Vergangenheit u Zukunft«17 erfüllte. Die Wohnung in der Passauer Straße behielt Benn vorläufig. Hier wohnte Ellen Overgaard, wenn sie in Berlin gastierte. Im Sommer 1923 verbrachten »die Primadonna und das Spielzeug«18 »eine sehr glückliche Woche«19 gemeinsam in Eberbach im Odenwald, und im Jahr darauf fuhren sie nach Hahnenklee im Oberharz. Natürlich besuchte Benn immer wieder seine Tochter, entweder im Sommer, »ein Glück in jedem Mund, / man fährt im Buickwagen / am Ufer des Öresund«:20
Ich fahre nach Dänemark in ein wundervolles Haus am Oeresund. In diesem tropischen Küstenstrich, lombardisch fruchtbar, blau von Lilien und Meer, in einem hohen Gartenpavillon tags vor den Fähren nach Schweden und nachts unter den Feuern und Lichtern alter Schiffertürme, rings nur Welle und Spiel …21
oder zu Weihnachten:
… da steht ein grosser Baum auf einem schwarzen Marmortisch vor einem Kamin, u. man isst eine Reisspeise, in der ist eine Mandel u. wer sie auf den Teller bekommt, erhält ein Geschenk (Julspiele) u. viel Welt ist da u. die Köchin u Gärtner bekommen jede Woche 3× Fasanen und Wild u. die Hunde täglich Milchreis mit Sahnesauce u. das Haus steht am Meer u. Tag u. Nacht schlägt das Meer an die Ufer des Gartens das Sinnlose u das Unaufhörliche.22
Nele glaubte als erwachsene Frau, dass ihr Vater aus künstlerischen Gründen gar nicht anders habe handeln können, als sie Pflegeltern zu überlassen. Was sie nicht erwähnte: Infolge der Besetzung des Ruhrgebiets, vor allem aber wegen der galoppierenden Inflation, befand sich Deutschland im April 1923 am Rand des Zusammenbruchs: Die Entscheidung, Nele zu Overgaards nach Kopenhagen ziehen zu lassen, wird nicht zuletzt wirtschaftlich-existenzielle Gründe gehabt haben. Benn selbst hegte manchmal Zweifel:
Ob es menschlich richtig war, meine Tochter von ihrem 7. Lebensjahr an in einem fremden Land u. bei ganz andersartigen Leuten aufwachsen zu lassen, sie 2–3 Mal im Jahr zu besuchen, solange das ging, dann alle 5– 6 Jahre, auch länger, sie einige Tage zu sehn und im Übrigen mich garnicht um sie zu kümmern.23